Eine wirtschaftliche Katastrophe
Noch nie stand die EU vor einer so großen wirtschaftlichen Herausforderung wie heute. Im Jahr 2020 sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der gesamten EU um 6,1%. Die Bedeutung dieser Zahl wird besonders deutlich, wenn man sie mit der Finanzkrise 2008 und der ihr folgenden Eurokrise ab 2009 vergleicht. Der damals größte Rückgang des BIPs betrug 2012 nur 0,7% - weniger als ein Sechstel von 2020 also. Nicht nur das BIP zeigt die verheerenden Auswirkungen, auch andere Indikatoren sind besorgniserregend: der Wirtschaftsklimaindex (ein Richtwert für die Stimmung in Unternehmen) fällt mit 31 Punkten auf den niedrigsten Stand seit Erhebungsbeginn 1985 und die Durchschnittseinkommen in der EU sinken um 5%. Diese sind selbst während der Eurokrise noch gestiegen.
Nicht nur die schiere Dimension der Wirtschaftskrise, auch die Verteilung der Folgen auf die Mitgliedsstaaten ist entscheidend für eine europäische Antwort. Die Ausgangs- und Reisebeschränkungen trafen den Tourismussektor besonders hart. Im April 2020 kam es in der gesamten EU zu einem Einbruch der Übernachtungen von 95%. Dementsprechend verteilen sich die Auswirkungen auf die Länder. Spanien und Italien, die wesentlich stärker auf den Tourismus angewiesen sind, leiden stärker als Industrieländer wie Deutschland und Frankreich. Dadurch verschärft sich das bereits bestehende Gefälle zwischen wirtschaftsstarken Norden und wirtschaftlich schwächeren Süden enorm.
Der Blick über den europäischen Tellerrand
Für eine Einordnung des Vorgehens der EU lohnt es sich einen Blick auf andere Kontinente zu werfen. Zuerst fällt wohl China als Gewinner der Coronakrise auf. Obwohl SARS-CoV-2 zuerst in Wuhan ausbrach, konnte die chinesische Regierung die Lage vergleichsweise schnell unter Kontrolle bringen. Ermöglicht wurde das harte Vorgehen durch den zentralstaatlichen und autoritären Staatsapparat des Landes. Auch wenn dies auf Kosten der Bevölkerung geschah, waren die Maßnahmen wirtschaftlich und politisch ein voller Erfolg für Peking. China konnte als einziges Land trotz Corona eine wachsende Wirtschaft verzeichnen und verkündet 2021 neue Rekordzahlen.
Anders ist die Lage auf der anderen Seite des Atlantiks. Dort wurden die USA unter Donald Trump von Europäern zuerst noch für ein miserables Coronamanagement bemitleidet, welches extreme Todeszahlen zur Folge hatte. Doch auch hier wurde entschieden durchgegriffen. Von der noch von Trump verordneten „Operation Warp Speed“ zur Beschleunigung der Impfstoffentwicklung profitiert auch Europa heute noch.
Mit der Wahl Joe Bidens zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten vervielfachten sich die Anstrengungen erneut. Mit einem Konjunkturpaket von 1,9 Billionen Dollar soll die amerikanische Wirtschaft wieder auf Kurs gebracht werden. Ein weiteres Billionenpaket folgt demnächst. Diese Rekordausgaben zeigen Wirkung: die Wirtschaft nimmt wieder Fahrt auf, Experten nennen es den „größten Boom seit den Reagan-Jahren“ und auch die Zustimmung für Joe Biden steigt.
Wie handelt die EU?
Auch in der Europäischen Union wird als Reaktion auf die Pandemie in neuen Dimensionen gedacht. „Insgesamt 1,8 Billionen Euro stehen für die Erholung Europas bereit“ titelt die Europäische Kommission auf ihrem Internetauftritt. Man muss hier jedoch unterscheiden: ein Großteil dieser Summe ist Teil des mehrjährigen Finanzrahmens, also des regulären EU-Haushalts von 2021 bis 2027, der am 17.12.2020 nach zähen Verhandlungen beschlossen wurde. Das eigentliche Konjunkturpaket Next Generation EU (NGEU) umfasst „nur“ 750 Milliarden Euro.
Dieses Programm setzt sich zu 390 Milliarden Euro aus direkten Finanzhilfen zusammen. Den anderen Teil bilden Darlehen in Höhe von 360 Milliarden Euro, den die Mitgliedstaaten später zurückzahlen müssen. Der überwiegende Teil der Mittel wird den Ländern direkt zugewiesen. Die Menge richtet sich dabei nach der Wirtschaftskraft, Einwohnerzahl und Arbeitslosigkeit. Wirtschaftlich schwächere Mitgliedsstaaten wie Kroatien, Bulgarien und Griechenland profitieren also deutlich mehr als wirtschaftlich stärkere Staaten wie Dänemark, Irland und Luxemburg.
Umgesetzt werden die Hilfen also von den Ländern selbst, wobei die erstellten Pläne sich nach den Vorgaben der EU richten müssen. So müssen 37% der Mittel für Investitionen in eine klimafreundliche Wirtschaft sowie weitere 20% für die Digitalisierung verwendet werden. Die Einhaltung dieser Vorgaben wird von der Kommission überprüft. So wird zwar ein sinnvoller Einsatz der Mittel sichergestellt, jedoch dauert das Verfahren im internationalen Vergleich länger. Diese Verzögerung ist für ein entschiedenes Vorgehen in der Corona-Krise problematisch und nährt die Kritik an einer überbürokratischen EU.
Wer soll das alles bezahlen?
Viel wichtiger als die Kontrolle und Geschwindigkeit des Programms ist jedoch die Herkunft der Mittel. Bisher wurden die EU-Haushalte immer durch Beiträge der Mitgliedstaaten bestritten. Auch beim aktuellen Haushalt von 2021 bis 2027 ist dies der Fall, nicht jedoch bei Next Generation EU. Um das Konjunkturpaket zu finanzieren, nimmt die EU selbst Schulden auf - ein Schritt, der vor Corona undenkbar gewesen wäre. Das Vorgehen hat den großen Vorteil, dass die EU selbst eine größere Bonität besitzt - also zu günstigeren Konditionen Kredite aufnehmen kann – als einige der krisengebeutelten Mitgliedsstaaten.
Die Aufnahme von Krediten erfordert jedoch auch neue Einnahmequellen für deren Tilgung. Die EU setzt zunehmend auf neue Abgaben, wie beispielsweise die „EU-Plastiksteuer“, die zu Jahresanfang von 2021 in Kraft trat. Ebenfalls geplant sind eine CO2-Steuer auf klimaschädliche Importprodukte, eine Digitalsteuer und eine Binnenmarktabgabe für Konzerne.
Wie bereits bei der Eurokrise und der ihr folgenden Bankenunion zeigt sich, wie ökonomische Krisen die EU zu weiterer Integration zwingen: Europäische Schuldenaufnahme und europäische Steuern – dies sind entscheidende Schritte weg von einer rein zwischenstaatlichen Organisation hin zu einem Staat. Die einen beglückwünschen dies als wichtigen Schritt zur europäischen Einigung, die anderen kritisieren es als eine Überdehnung der Kompetenzen der EU über ihre rechtliche Zuständigkeit. Welche Seite Recht hat, wird die Zukunft zeigen. Sicher ist aber Next Generation EU ist mehr als ein wirtschaftliches Programm und wird die Zukunft der EU prägen.
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