Nachhaltige europäische Ernährungspolitik bald in aller Munde?

, von  Nikolas Kockelmann

 Nachhaltige europäische Ernährungspolitik bald in aller Munde?
Essen kann Genuss bedeuten - oder Politik. Foto: Unsplash / Priscilla Du Preez / Unsplash License

In Deutschland wird Tierhaltung heftig diskutiert: Die Bundesregierung möchte das Tierwohl in einer langjährigen Strategie verbessern. Agrarministerin Julia Klöckner spricht von reduziertem, aber besserem Fleischkonsum. Doch wie verankert ist die Idee der Ernährungswende eigentlich - und wie ist sie mit der Strategie der EU vereinbar?

Was wir essen, ist für die meisten von uns ziemlich persönlich. Für manche sogar emotional. Kaum jemand lässt sich gerne vorschreiben, was er*sie essen soll – außer wir fragen danach. Das einfachste, aber auch wichtigste Beispiel ist Fleisch. Im Ernährungsreport 2019 des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung gaben sechs Prozent der Befragten an, sich vegetarisch zu ernähren, dabei ein Prozent sogar vegan. Die Organisation ProVeg, ehemals Vegetarierbund, spricht sogar von einem Anteil von acht bis neun Prozent Vegetarier*innen in Deutshcland. Darüber hinaus gibt es auch Menschen, die von sich aus nur wenig Fleisch essen.

Die Ernährungsfrage kann im Alltag eine persönliche Entscheidung sein, aber ebenso auf politischer Ebene ganze Gesellschaften verändern. Ein Beispiel: Seit Ende der 1990er Jahre verhandelten EU und Mercosur, ein Binnenmarkt, dem Brasilien, Argentinien, Urugay und Paraguay angehören, bis sie sich 2019 vorerst einigten. Das EU-Mercosur-Abkommen geriet wegen dem Deal von „deutschen Autos im Tausch für brasilianisches Rindfleisch“ heftig in Kritik. Viele gerodete Waldflächen im Amazonasgebiet werden genutzt, um Rinder für den Export zu halten, oder Soja für Viehfutter, meist Schweinefutter, anzubauen. Dabei ist die EU längst Netto-Exporteurin von Fleisch und konsumiert bereits doppelt so viel wie ernährungswissenschaftlich empfohlen.

Die Antwort aus Europa

Nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron im Sommer 2019 im Verlauf der Amazonasbrände zum Stopp der EU-Mercosur Verhandlungen aufrief, zeigte sich ein erster Sinneswandel auf der Führungsebene ab. Die Kritik der Öffentlichkeit an dem Abkommen war laut, das umweltpolitische Bewusstsein auch durch Bewegungen wie Fridays for Future gestiegen und eine Fortsetzung der schon über 20 Jahre andauernden Verhandlungen politisch höchst riskant. Die Parlamente in Österreich und den Niederlanden stimmten bereits gegen das Abkommen zwischen EU und Mercosur. Allerdings bedeutet das noch nicht das Ende. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier denkt weiterhin über eine „nachhaltige Lösung“ für das Abkommen nach.

Wesentlich tiefgreifender als der Deal mit Mercosur für unsere europäische Agrarpolitik und Ernährung ist allerdings die von der EU-Kommission veröffentlichte „Farm-to-Fork“ („vom Hof zum Tisch“)-Strategie, welche unser gesamtes Ernährungssystem nachhaltiger gestalten soll. Die Strategie befürwortet unter anderem einen reduzierten Fleischkonsum, die Förderung des Verzehrs pflanzlicher Produkte und ein europäisches Tierwohlsiegel. Während die Fleischindustrie zurückschreckt, jubeln Umweltverbände, Tierschutzorganisationen und Hersteller rein pflanzlicher Produkte. Die Strategie plant zum Beispiel, explizit alternative Proteinquellen wie pflanzliche, algen- und insektenbasierte Eiweißquellen sowie Fleischalternativen in den Forschungsschwerpunkt zu stellen und Investitionen zu fördern. Manche sagen, die Strategie leite die Agrarwende ein, andere erkennen gar keine richtige Strategie, sondern nur Ziele. Aber wusste die EU-Kommission nicht schon viel länger, welche Auswirkungen Massentierhaltung und exzessiver Fleischkonsum haben?

Rückblick: Was geschah die letzten 20 Jahre?

Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU gibt es bereits seit den 1960er Jahren. Sie ist das älteste und vormals größte Programm im EU-Budget. Eine vergleichbare Ernährungspolitik, die sich mit Fragen jenseits der Produktion beschäftigt, gibt es bislang jedoch nur beschränkt. 1997 kündigte die Kommission an, Essen im Einklang mit Umwelt und Gesundheit von Mensch und Tier produzieren zu wollen, und bezog sich dabei auf die verstärkte Sorge der Bürger*innen auf die Auswirkungen der Tierhaltung. Die gesamte Kette von Produktion, Verarbeitung und Konsum von Fleisch betreffend sollten einfache Regeln für das Essen in der EU „from the stable to the table“, also „vom Stall zum Tisch“, geregelt werden.

Im Jahr 2009 veröffentlichte die EU bereits eine ausführliche Liste mit Möglichkeiten für europäische Tierwohlsiegel. Drei Jahre später folgte der nächste Bericht über nachhaltigen Konsum, wo der überhöhte Fleischkonsum und dessen Schäden für Umwelt, Mensch und Tier angeprangert wurden. Er enthielt dieselben Veränderungen wie schon zuvor, teilweise sogar tiefergreifende Punkte wie CO2-Besteuerungen im Fleischsektor und Bildungsprogramme für EU-Bürger*innen.

Der Bericht wurde nicht in Taten umgesetzt: Stattdessen ist der Fleischkonsum seit 1990 mehr oder weniger auf einem stabilen aber doppelt so hoch wie ernährungswissenschaftlich angemessenem Niveau. Dies liegt zum einen daran, dass viele Verbraucher*innen nach den günstigsten Fleischprodukten greifen. Ihnen wird aus der Politik gerne die größte Verantwortung zugeschrieben. Diese wiederum können sich teureres Bio-Fleisch oft kaum leisten und klagen über mangelnde Transparenz. Eine Eurobarometer-Umfrage aus 2016 ergab, dass 94 Prozent der Europäer*innen Tierwohl für wichtig halten, aber nur 59 Prozent bereit wären, mehr zu zahlen. Dementsprechend wird von der Seite der Verbraucher*innen auf Agrarministerin Klöckner und die Industrie, wie zum Beispiel das während der Pandemie in die Schlagzeilen geratene Unternehmen Tönnies, mit dem Vorwurf verwiesen, diese seien in ihren Tierschutzzielen nicht ambitioniert genug.

Zurück in die Zukunft: Mit den Plänen von gestern und dem Essen von morgen

Dass im Jahr 2020 die Farm-to-Fork-Strategie für die Agrar- und Ernährungswende vorgestellt wird, war demnach längst überfällig. Die Pläne über Handlungsmöglichkeiten seitens der EU sind unter Expert*innen größtenteils bekannt, doch verändert hat sich am exzessiven Konsum seit Jahrzehnten nicht genug. Dafür haben sich drei andere Faktoren verändert. Erstens: Die Öffentlichkeit in Europa ist zunehmend besser informiert über die Auswirkungen der Massentierhaltung. Dies liegt unter anderem an der Klimabewegung, sozialen Medien und Streaming-Plattformen, die es so einfach wie nie zuvor machen, Bildmaterialien aus Tierhaltung und ökologischer Zerstörung zu teilen. Dort sind auch Nichtregierungs-Organisationen wie Greenpeace, World Wildlife Fund und weitere aktiv, um über Zusammenhänge des Konsums zu informieren.

Zweitens gibt es in den letzten Jahren einen wachsenden Trend hin zu einem verstärkten Konsum pflanzlicher Produkte. Mehr und mehr EU-Bürger*innen ernähren sich vegetarisch oder vegan, doch sind es hauptsächlich Menschen, die auch Fleisch essen, die gerne pflanzliche Ersatzprodukte einkaufen .

Drittens, neue Innovationen wie Laborfleisch oder Insektenfleisch sind auf dem Vormarsch und gelten als tier- und umweltfreundlich. Zwar sind sie, bis auf vereinzelte Insektenprodukte, noch nicht in unserem Alltag angekommen, doch eilt ihr Ruf ihnen voraus. Die Konkurrenz aus der Zukunft erhöht den Druck auf die moderne Fleischindustrie, sich dem Strukturwandel anzupassen. Somit erklärt sie sich zunehmend bereit, verstärkt Tierwohl und Transparenz zu fördern.

Die Umsetzung entscheidet sich an allen beteiligten

In der nahen Zukunft werden wir von Insektenfleisch und Laborburgern nicht viel sehen. Auch wenn das kontroverse EU-Mercosur Abkommen noch abgeschlossen wird, wird es unseren Konsum nicht grundlegend verändern. Umso tiefgreifender ist die Farm-to-Fork Strategie.

Die Kombination von wachsendem öffentlichem Bewusstsein, jahrzehntelanger Erkenntnis seitens der Politik und neuen Ernährungstrends bringt dennoch einen strukturellen Wandel in der europäischen Ernährung. Dieser wird vor allem von Verbraucher*innen abhängig sein, indem sie sich entscheiden, nachhaltiger einzukaufen. Während die Öko-Tierhaltung eine Chance auf stärkere Etablierung sieht, könnten Verbände von Landwirt*innen und Unternehmen der intensiven Tierhaltung sich querstellen, da sie ihren Absatz in Gefahr sehen. Gleichzeitig kann es ebenso passieren, dass trotz Umwelt- und Tierschutzkampagnen ein Greenwashing-Effekt entsteht. Dies wäre der Fall, wenn unzureichende Maßnahmen, wie zum Beispiel geringe Verbesserungen beim Tierwohl durch ein übertriebenes tierfreundliches Image angepriesen werden. Ein gesellschaftliches Bewusstsein über Risiken von Greenwashing könnte hingegen dafür sorgen, dass auch die Agrar- und Ernährungspolitik in der nächsten Bundestagswahl stärker thematisiert wird.

Nein, Insektenfleisch werden wir bald noch nicht essen. Dafür sind Europäer*innen im Vergleich zu anderen Kulturen auch noch zu wählerisch. Und eine weitere Entwarnung: vegetarisch zu essen, wird auch keine Verpflichtung sein. Aber wir werden höchstwahrscheinlich weniger Fleisch essen, für einen höheren Preis.

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