Seit ein paar Tagen befinde ich mich in Portugal. Nachdem ich meine Pilgerreise durch den nördlichen Jakobsweg in Santiago beendet habe, bin ich mit einem Bus in die niedliche Stadt Porto gefahren. Von hier aus wird bald mein Rückflug nach Italien starten.
Während des Wanderns auf dem Camino ist kein einziger Tag vergangen, ohne dass ich daran dachte, wie sehr ich diese kurze Zeit „richtigen Urlaubs“ in Porto genießen würde: Eine Wohnung mit Ozeanblick, köstliche Weine und der Komfort einer Stadt, die man mit öffentlichen Verkehrsmitteln endlich mal schnell befahren kann.
Und jetzt, dass ich hier bin - auf dieser ersehnten Terrasse, mit einem Glas Rotwein in meinen Händen und den Blick auf die im Ozean untergehenden Sonne – schaffe ich es doch nicht, mich diesem Seelenfriede ganz zu überlassen.
Wenn ich am heutigen Tag an der Stadt zurückdenke, fühle ich mich einfach gestört. Gestört von den allzu vielen Tourist*innen, die sich vor den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt zusammendrängen. Gestört von der unzähligen Autos und Bussen und von ihren giftigen Abgasen. Vom Lärm und vom Beton, die mich umgeben.
Aber vor allem stört es mich, dass der Grund für all diese Störung, welche anscheinend an äußeren Faktoren liegt, tatsächlich in einem Gefühl besteht. Was ich in Wirklichkeit nicht ertragen kann, ist nun ziellos zu sein. Die gelben Pfeile und Jakobsmuscheln, welche mir bis Santiago den richtigen Weg gezeigt haben, sind nicht mehr zu sehen. In den letzten Wochen musste ich mich nur um eines kümmern: Einen Fuß vor den anderen setzen. In Porto ändert sich alles.
Diese Stadt markiert das Ende meiner Pilgerreise und die Rückkehr ins normale Leben.
Über die Erlebnisse auf dem Jakobsweg wurden und werden unzählige Seiten geschrieben. Bücher wie „Auf dem Jakobsweg“ von Paulo Coelho oder „Ich bin dann mal weg“ von Harpe Kerkeling haben sogar Millionen von Leser*innen weltweit fasziniert. An erfolgreichen Filmen mangelt es auch nicht, denke man nur an den berühmten Film „Dein Weg“ vom Regisseur Emilio Estevez, der zusammen mit seinem Vater Martin Sheen auch die Hauptrolle spielt.
Was mir jedoch fehlt, sind Erzählungen über das, was nach dem Camino geschieht. Da ich keinerlei Vergleichsmöglichkeit habe, muss ich selbst mein Unwohlsein verarbeiten.
Die Phase, in der ein*e Pilger*in sich normalerweise entscheidet, wozu er*sie sich auf den Weg macht, habe ich total übersprungen. Ich wollte einfach eine günstige Rucksackerfahrung machen, und erwartete daraus keine lebensverändernde Erleuchtung und keine große Lehre. Jetzt scheint es aber, als ob sich der Camino dafür revanchiert, und mir doch eine Lektion erteilen möchte.
Warum fühle ich mich also so unwohl nach dem Ende dieser Erfahrung? Was ist an diesem Camino so besonders?
Die Müdigkeit, die Blasen, die Herbergen und die immense Befriedigung, als man in den Kathedrale von Santiago endlich eintritt, sind nun Teil der öffentlichen Wahrnehmung des Jakobswegs geworden. Es handelt sich nämlich um Bilder, mit denen jede*r eine selbst gelebte Erfahrung verbinden kann. Und daher werden sie verständlicherweise immer erwähnt, als man zu Hause gefragt wird, wie es gelaufen ist. Diese Pilgerreise bedeutet aber viel mehr als schmerzende Füße und der Besuch einer Grabstätte. Der Camino ist eine Blase außerhalb von Zeit und Raum: Alle gehen in die gleiche Richtung, grüßen einander freundlich und respektieren sich gegenseitig.
Nichts und niemanden habe ich auf den Camino gefürchtet, denn als „peregrina“ wird man nicht nur von den anderen Pilger*innen geschützt – ob man sie kennt oder nicht spielt hier gar keine Rolle, da sich alle auf dem Weg Teil einer großen Familie fühlen -, sondern auch von den Einheimischen. Sie haben mir den Weg gezeigt, als ich verwirrt an einer Kreuzung stand. Als sie mich durstig vor einem ausgeschalteten Brunnen gefunden haben, haben sie mir die Türen ihres Heims geöffnet, damit ich meine Wasserflasche auffüllen konnte.
Der Weg ist, wie die Welt sein sollte, wenn sie perfekt wäre.
Porto war heute laut und überfüllt. Mir schienen die Tourist*innen ständig in einer Warteschlange und gleichzeitig in Eile zu sein. Ungeduldig, ihr Ziel zu erreichen, damit sie schnell tausende Selfies machen und dann zur nächsten Attraktion loslaufen konnten. Auf dem Weg von einer Etappe zur anderen war der Kopf auf das Handy gesenkt, weil die Selfies direkt mit der ganzen Welt geteilt werden mussten. Weiter entfernt von Santiago könnte ich mich eigentlich nicht fühlen.
Das Erste, was man auf dem Camino lernt - normalerweise durch Krämpfe und Blasen - besteht darin, den eigenen Rhythmus zu respektieren. Wenn man ihn noch nicht kennt, muss man zuerst lernen, auf den eigenen Körper zu hören.
Wie tut man das? Indem man das überflüssige Gedankenkarussell zum Schweigen bringt, um den wesentlichen und körperlichen Bedürfnissen eine Stimme geben zu können.
Beherrscht man diese Technik, ist der Schritt zu einem breiteren Hören kurz. So entdeckt man die Schönheit des Rauschens des Windes durch die hohen Eukalyptusbäume oder die Lockrufe der Vögel von einer zur anderen Seite des Waldes.
Sogar die Beobachtungsfähigkeit wird schärfer: Die Menge der Hortensien mit ihren unterschiedlichen Farben - rot, weiß, rosa, lila und blau -, die menschlichen Züge der Tieren auf den Wiesen gegenüber ihrer Welpen, eine Großmutter, die mit ihrem Enkelkind im Garten spielt, während die Familie nach dem Sonntagessen noch um den Tisch auf der Veranda quatscht. Auf dem Weg ist alles würdig, gehört und beobachtet zu werden.
Um diese Friedensblase weiterhin genießen zu können, ist es oft so, dass die Pilger*innen nicht in Santiago verweilen, sondern sich kurz danach nach Fisterra begeben. Viele von ihnen wiederholen die ganze Erfahrung nach ein paar Jahren, einigen nach einigen Monaten. Manche beschließen, gar nicht zurückzukehren und auf dem Weg zu bleiben. Als ich diese Leute getroffen habe, dachte ich, dass sie verrückt wären. Jetzt verstehe ich aber ihre Sehnsucht.
Fast besteht das Risiko, sich in dieser Blase zu verfangen und nicht mehr herauskommen zu können. Vielleicht ist dies der Fall des Schweizer Michel, für welchen die 1.524 Kilometer von Genf nach Santiago nicht genug gewesen sind. Also beschloss er, ebenso viele Kilometer bei der Heimkehr über den nördlichen Weg zu laufen. Dort traf ich ihn zusammen mit seinem unermüdlichen Reisebegleiter: dem vierzehnjährigen Esel Anatole.
Ich denke über die vielen interessanten Treffen auf dem Camino nach. Mir sind die Worte von Luigia , einer Pilgerin aus Süditalien, die sich durch drei Jobs in Mailand über Wasser hält, um ihren Traum zu verfolgen, professionelle Schauspielerin und Synchronsprecherin zu werden, besonders im Kopf geblieben: „Ich versuche jeden Tag eine gute Tat vollzubringen. Es kann alles sein: eine leere Tasse zum Tresen zurückzubringen, oder beharrlich an die Tür einer Toilette zu klopfen und sogar der hospitalera Alarm geben, dass ein Pilger da wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen ist. In der Tat hatte der Pilger die albergue schon lange verlassen, und die Tür war einfach geklemmt… Aber bereit war ich zu allem!“
Hier ist also die Lektion, die mir der Camino erteilen möchte. Er hat sie mir jeden Tag vor den Augen, in die Ohren und ins Herz geführt.
Die wirkliche Herausforderung besteht nicht darin, Tausende von Kilometern bis Santiago de Compostela zu gehen, sondern nach Hause zurückzukehren und den Camino in den Alltag zu bringen. Die eigene Umgebung wahrzunehmen, und sich wie Pilger*innen gegenüber den anderen Menschen und der Umwelt zu verhalten.
Es stimmt, hier in Porto habe ich meinen Jakobsweg beendet. Ziellos bin ich aber nicht. Genau hier beginnt ein neuer Weg. Von heute an bin ich eine Undercover-Pilgerin.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Italienisch auf TPI veröffentlicht. Die deutsche Version hat die Autorin treffpunkteuropa.de zur Verfügung gestellt.
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