Moldau als “sicheres Herkunftsland“ und das europäische Migrationsdilemma

, von  Chiara Bachels, Lucas Shiller, Martina Bianco, Rob Somogyi, übersetzt von Philip Gaude

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Moldau als “sicheres Herkunftsland“ und das europäische Migrationsdilemma
Passkontrolle der Europäischen Union Foto: Unsplash / Daniel Schludi / Unsplash Lizenz

Im Jahr 2000 läutete Europa mit der Verabschiedung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das neue Jahrtausend ein. In Artikel 1 verkündet sie: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie muss geachtet und geschützt werden.“ Diese Erklärung, die allen Menschen (nicht nur den Europäern) das Recht auf ein menschenwürdiges Leben zugesteht, wurde in den Vordergrund gestellt. Fast 25 Jahre später ist die EU nun nach Meinung einiger auf dem besten Weg, einen ihrer Grundwerte ernsthaft zu untergraben, insbesondere im Bereich der Migration.

Mit der jüngsten Verabschiedung des Pakts zu Asyl und Migration wird der EU vorgeworfen, rechte Ängste zu beschwichtigen und gleichzeitig Migranten und Asylbewerbern einen schwierigeren Weg auf den Kontinent zuzumuten. Sie sehen sich zunehmend härteren Herausforderungen gegenüber, um in Europa zu leben und zu bleiben. In diesem Text werden wir untersuchen, wie sich neue Entwicklungen auf der Ebene der Stadt Berlin, auf nationaler Ebene in Deutschland und in der EU insgesamt auf Roma-Migranten ausgewirkt haben, die oft aus Ländern im Osten wie Moldawien fliehen.

Drückt sich Deutschland vor seiner Verantwortung?

Die Republik Moldau war in den letzten Jahren ein verlässlicher Partner der EU und ihrer Mitgliedsländer. Nachdem das Land im März 2022 um eine EU-Mitgliedschaft ersucht hatte, begannen im Dezember 2023 die Verhandlungen über den Beitritt. Diese Verhandlungen könnten sich jedoch negativ auf moldauische Migranten in Deutschland ausgewirkt haben. Im Anschluss an die Beitrittsverhandlungen nahm die deutsche Regierung die Republik Moldau in die Liste der Länder auf, die sicher genug sind, um Migranten dorthin zurückzuschicken. Die Sicherheit ist jedoch nicht für alle gleich: Die ethnische Minderheit der Roma wird in ihrem Alltag diskriminiert, ist mit Segregation konfrontiert und hat nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheits- und Bildungsdiensten. Aufgrund dieser Schwierigkeiten in Moldawien wurde den Roma von der früheren Berliner Landesregierung, die aus einer Koalition aus Sozialisten, Linken und Grünen bestand, Schutz versprochen. Sie kündigte sogar an, dass sich Berlin auf Bundesebene für ein Bleiberecht für Roma einsetzen würde. Seit dem Amtsantritt der neuen konservativ-sozialistischen Koalition im Jahr 2023 kommt es jedoch vermehrt zu Abschiebungen von Migranten aus Moldawien, wovon Roma überproportional betroffen sind. Laut der moldawischen Volkszählung von 2014 lebten 9000 Roma im Land, ein Bericht des UN-Entwicklungsprogramms aus dem Jahr 2009 geht jedoch von einer weitaus höheren Zahl von bis zu 250.000 aus. Der enorme Unterschied zwischen den Bevölkerungszahlen erklärt sich „durch die Zurückhaltung, sich selbst als Roma zu identifizieren, da die Roma-Identität in der moldauischen Gesellschaft mit einem Stigma behaftet ist“. Während im Jahr 2022 in Berlin 309 Moldauer abgeschoben wurden, hat die neue Regierung seit ihrem Amtsantritt 640 Menschen abgeschoben, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Unter ihnen sind Roma besonders betroffen. Zudem hat die neue Landesregierung die Pläne der vorherigen Koalition für ein Bleiberecht gestrichen und das Thema ganz von der Tagesordnung genommen.

Elif Eralp, Sprecherin für Migration, Teilhabe und Antidiskriminierung der Fraktion DIE LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus, bezeichnet die Abschiebungen als „unmenschliches Vorgehen“ und betont weiter, dass sich Deutschland gerade aufgrund seiner historischen Verantwortung um den Schutz dieser historischvulnerablen ethnischen Minderheit bemühen sollte, anstatt sie in ihren Herkunftsländern neuen Gefahren auszusetzen.

Während sich die Bundesregierung aufgrund der Gräueltaten an den Juden während des Zweiten Weltkriegs zur Unterstützung der jüdischen Gemeinden innerhalb ihrer Grenzen bekennt, wird den ebenfalls betroffenen Minderheiten der Sinti und Roma offenbar die gleiche Rücksichtnahme verweigert.

Moldawien als “sicheres Herkunftsland”

Am 8. April, dem Internationalen Roma-Tag, wurde in den Berliner Bezirken die blau-grüne Romani-Flagge mit einem roten sechzehnspeichigen Chakra in der Mitte gehisst, „um ein klares Zeichen für Respekt und Gleichberechtigung und gegen Ausgrenzung zu setzen“, wie es die Vertreter des Bezirks Steglitz-Zehlendorf formulierten. Diese Geste erscheint jedoch in einem rein symbolischen und zynischen Licht, wenn man sie vor dem Hintergrund der letztjährigen Resolution zur Erleichterung der Abschiebung von Moldawiern in Berlin betrachtet. Auf nationaler Ebene hat die Bundesregierung die Republik Moldau jedoch zu einem „sicheren Herkunftsland“ erklärt. Dadurch können Asylanträge schneller bearbeitet werden, was zu einer schnelleren Ablehnung führt. Nach der Definition der „sicheren Herkunftsländer“ von 1993 werden nur solche Länder als „sicher“ anerkannt, in denen 1) keine Bürger vom Staat verfolgt werden und 2) der Staat gleichzeitig seine Bürger vor Verfolgung schützen kann. In dieser Hinsicht wird bei der Erklärung des osteuropäischen Landes als „sicher“ die Realität der meisten Moldauer, die zu gefährdeten Minderheiten wie den Roma gehören, außer Acht gelassen. Und das Problem geht noch weiter: Wenn ein abgelehnter Asylbewerber Berufung einlegen will, muss er zunächst beweisen, dass sein Heimatland tatsächlich gefährlich ist und er Grund zur Flucht hat - eine Umkehrung der Beweislast in typischen Asylverfahren. Die Menschenrechtsgruppe Pro Asyl und der linke Politiker Eralp wenden ein, dass die neue Einstufung Moldawiens es der Roma-Bevölkerung viel schwerer macht, Asyl zu erhalten, als es für Antragsteller aus „nicht sicheren Herkunftsländerändern“ der Fall ist. Eralp fügt hinzu: „Einfach nur Roma zu sein oder diskriminiert zu werden, ist keine ausreichende Rechtfertigung für die Gerichte“.

Hinzu kommt, dass die kurze Bearbeitungszeit von nur einer Woche für den Asylantrag „kaum eine realistische Chance lässt, sich angemessen auf das Asylverfahren vorzubereiten oder gar einen Rechtsbeistand zu suchen“, so Pro Asyl in einer Beschwerde über die Entscheidung. Nancy Faeser, der deutsche Bundesinnenminister, behauptet, schnellere Asylverfahren seien „ein weiterer wichtiger Schritt zur Begrenzung der irregulären Migration“, aber als direkte Folge der Beschleunigung können Roma innerhalb einer einzigen Woche in ihr Herkunftsland abgeschoben werden. Diese Schnelligkeit kann zu absurden Ergebnissen führen, wie Pro Asyl erklärt: In einem Drittel bis einem Viertel der Asylfälle aus einem „sicheren Herkunftsand“ ist der Widerspruch des Antragstellers letztlich erfolgreich und er erhält erst nach der Rückkehr in das Land, aus dem er geflohen ist, Asyl in Deutschland.

Warum sollte Deutschland schutzbedürftige Migranten einem so langwierigen, komplizierten und unfairen Verfahren aussetzen? Pro Asyl beschreibt es als „ein klares Instrument, um Migranten daran zu hindern, aus bestimmten Herkunftsländern nach Deutschland zu fliehen“. Auf diese Weise gewinnt der Staat den Anschein von Kontrolle über eine Situation, die zunehmend aus den Fugen gerät. Pro Asyl weiter: „Im vergangenen Jahr wurden Flüchtlinge immer wieder zum Sündenbock für überlastete Strukturen und soziale Probleme gemacht.“ Verstärkte Abschiebungen und die Begrenzung der Migration wurden von der Regierung als Lösung für diese komplizierten Probleme propagiert, erklärt Elif Eralp. Dieser politische Diskurs hat nicht nur Flüchtlinge ihrer Rechte beraubt, sondern auch Fremdenfeindlichkeit und das Erstarken rechter Ideologie geschürt. Dieses Problem besteht jedoch nicht nur auf nationaler Ebene.

Abseits von Deutschland: Ähnliche Entscheidungen auf EU-Ebene

In der europäischen Politik erleben viele Länder einen politischen Rechtsruck, während sie gleichzeitig versuchen, mit einer steigenden Zahl von Flüchtlingen fertig zu werden. Während die Europäische Union die Bewältigung des Migrantenzustroms als gemeinsame Herausforderung sieht, scheinen ihre Lösungen der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Anfang April verabschiedete das Europäische Parlament den Pakt zu Asyl und Migration mit 322 zu 266 Stimmen bei 31 Enthaltungen. Dies und die jüngsten deutschen Reformen haben dazu geführt, dass die europäische Migrationspolitik unter Beschuss von Menschenrechtsaktivisten geraten ist. Während Deutschland Staaten zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärte, um den Migrationszustrom zu begrenzen, ergreift die EU mit ihrer Regelung zu „sicheren Drittstaaten“ ähnliche Maßnahmen. With the approval of the New Pact, it will become easier for the respective authorities to send migrants whose asylum application has been rejected, not back to their country of origin, but to a “safe” third country. Third countries are non-EU states that have been designated safe enough for the migrants who have applied for international protection. With the passage of the New Asylum Pact not even the entire third third country must be safe, simply having safe areas qualifies a country for the “safe” label.

Darüber hinaus beabsichtigt die EU, Abkommen mit solchen Drittländern abzuschließen, die Abschiebungen erleichtern. Ein Beispiel dafür ist das im März abgeschlossene Abkommen mit Ägypten, das von Menschenrechtsgruppen und Strategen gleichermaßen heftig kritisiert wurde: Ägypten hat eine wechselvolle Geschichte von Menschenrechtsverletzungen, die es für Migranten oft unsicher machen, dorthin zu gehen. Insbesondere für Minderheiten wäre das nordafrikanische Land nicht sicherer, als es Moldawien für die Roma-Minderheit ist.

“Demokratie ist ein gemeinsames Projekt”

Für viele Roma in Deutschland hat die neue Einstufung der Republik Moldau deutliche Konsequenzen. Auch wenn die Diskriminierung für sie kein ausreichender Grund mehr ist, um Asyl zu beantragen, so bleibt sie doch ein Risikofaktor nach ihrer Rückkehr nach Moldawien. Erschwerend kommt hinzu, dass die Diskriminierung von Roma auch in Deutschland, wo sie paradoxerweise Schutz suchen, zunimmt. Es stellt sich sogar die Frage, inwieweit der wachsende Antiziganismus mit einer diskriminierenden Politik zusammenhängt. Pro Asyl ist besorgt darüber, wie antidemokratische, rechtsgerichtete Stimmen den politischen Diskurs beeinflussen.

Damit sich die Gesamtsituation in der EU verbessert, fordert Elif Eralp, dass sich das Narrativ rund um Migration in Medien und Politik ändern muss: „Die Demokratie ist unser gemeinsames Projekt. Der Diskurs muss so verändert werden, dass Migration nicht mehr oder weniger als eine Tatsache ist. Wir müssen uns fragen: Wie kann dieses Projekt positiv und gleichberechtigt gestaltet werden?“

Für moldawische Roma und Flüchtlinge aus anderen „sicheren“ Herkuntfsländern fordert Pro Asyl ernsthafte individuelle Anhörungen, damit die Neuankömmlinge die Chance haben, ihre Fluchtgründe zu erklären. Elif Eralp geht noch einen Schritt weiter: Sie fordert ein Bleiberecht für Roma und setzt sich damit für die Grundwerte Europas ein.

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Newsroom Europe“, das junge Europäer aus drei EU-Mitgliedstaaten (Belgien, Deutschland und Ungarn) in kritischer und aufgeschlossener Medienberichterstattung und in der Funktionsweise der europäischen Entscheidungsfindung schult. Das Projekt wird gemeinsam von der Europäischen Akademie Berlin e.V., dem Zentrum für unabhängigen Journalismus und der Friedrich-Naumann-Stiftung durchgeführt und auch von der Europäischen Union kofinanziert. Treffpunkteuropa.de ist Medienpartner des Projekts.

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