Möge die Macht mit euch sein!

, von  Martin Samse

Möge die Macht mit euch sein!
Die Briten haben sich in einem Referendum für den EU-Austritt entschieden. © freestocks.org / Flickr / CC 1.0-Lizenz

Nur wenige Stunden nach dem EU-Referendum setzt die Katerstimmung ein. Viele Briten bereuen öffentlich, für den Austritt gestimmt zu haben und suchen nach Wegen, um den Brexit zu verschleppen oder die Wahl schlicht zu wiederholen. Es ist ein Armutszeugnis für die Demokratie in Europa: Die EU-Bürger haben verlernt, mit echter Macht verantwortungsvoll umzugehen.

Natürlich möchte man im ersten Impuls die Briten bei den Schultern packen und fragen: Ernsthaft? Jetzt tut es euch Leid? Nachdem ihr euch von den Blendern und Populisten habt verführen lassen? Obwohl die Folgen offensichtlich waren und es kein Zurück mehr geben soll? Und dann verliert man das Mitleid in Gedanken an das Exempel, welches die EU an den Briten statuieren will. Doch statt sich in Schadenfreude zu ergehen, sollten die Wähler in Europa ganz genau hinschauen, was auf der Insel geschieht. In diesen Tagen werden sie mit aller Härte daran erinnert, welche Macht vom Wähler ausgehen kann – wenn man Ihnen die Gelegenheit dazu gibt.

Die europäische Postdemokratie

Die Ironie daran: Es war ein Brite, der 2003 mit einem schmalen Essay den Begriff „Postdemokratie“ populär gemacht hat. Der Politikwissenschaftler Colin Crouch beschrieb darin ein politisches System, in dem die demokratischen Institutionen (Parlamente, freie Wahlen und Regierungswechsel) vorhanden und intakt sind. Doch in der Postdemokratie wird die Demokratie nicht mehr mit Leben gefüllt. Die Wahlen sind reine PR-Spektakel und die großen Entscheidungen werden im Vorfeld hinter verschlossenen Türen getroffen. Die Bürger begehren nicht gegen die Zustände auf, sondern versinken in Apathie. Crouch ging davon aus, dass sich die Staaten in Europa dem Status einer Postdemokratie immer weiter annähern.

Bürger ohne Macht

Die Finanz- und Eurokrise hat diesen Trend scheinbar bestätigt. Die Sparpakete in Südeuropa wurden gegen alle Widerstände durchgesetzt. Selbst als die Griechen 2015 ein Referendum über die Eurorettungspolitik abhielten und den politischen Eliten in Brüssel ein gellendes „Oxi!“ („Nein!“) entgegen schleuderten, änderte sich in Folge... nichts. Die Sparpolitik wird ungehindert fortgesetzt und weitere Tranchen an Griechenland überwiesen. Die Regierung durch anonyme Kassenprüfer schien Realität geworden zu sein.

Politik war „alternativlos“ geworden, die Höhe von Milliardenbeträge spielte scheinbar keine Rolle mehr und die Meinung der Bürger wurde zwar angehört, aber im selben Zuge vom Tisch gefegt. Ist es da nicht irgendwie verständlich, dass die Wähler in Europa den Respekt vor Wahlen verlieren? Wenn die Eliten doch scheinbar sowieso nur das umsetzen, was Ihnen passt, was macht es dann für einen Unterschied, ob man zur Wahl geht und wofür man stimmt?

Die Wähler sind Herr im Haus

Jetzt sind die Briten verdutzt, denn sie werden sich mit einem Schlag ihrer eigenen Macht wieder bewusst. Davon können alle Europäer etwas lernen: Die Postdemokratie ist nicht Realität. Weder „die Politiker“, noch die Finanzmärkte, geschweige denn die Bürokraten in Brüssel haben die Briten in diese Situation gebracht: Es war die Bevölkerung selbst, die ihre eigene Macht unterschätzt hat und sich von falschen Versprechen und plumpen Lügen hat leiten lassen.

Es kann eine erschreckende und gleichsam heilsame Erfahrung sein, wenn man feststellt, dass man der Herr im Hause ist. Stellvertretend für den Rest der EU lernen die Briten grade wieder, was es bedeutet, wirkliche Macht zu besitzen und für seine Entscheidungen einstehen zu müssen. Was das in Zukunft für die Bevölkerung Britanniens bedeuten wird, kann zu diesem Zeitpunkt noch niemand genau sagen. Die Briten müssen die Bedingungen für den Brexit aushandeln, das Vereinigte Königreich zusammen halten und sich auf internationaler Ebene in Zukunft alleine behaupten. Wir sollten Ihnen dafür sehr viel Kraft und Erfolg wünschen. Sie werden es brauchen.

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