Michel Barnier: „Der Binnenmarkt ist nicht verhandelbar“

, von  Thomas Arnaldi, übersetzt von Etienne Höra

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Michel Barnier: „Der Binnenmarkt ist nicht verhandelbar“

Die Brexit-Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich, die nun schon seit über einem Jahr laufen, beschleunigen sich: Der 29. März 2019, Stichtag für den Ausstieg, rückt immer näher. Was auch immer vorher passiert: Am 30. März des nächsten Jahres wird das Vereinigte Königreich für das Unionsrecht ein Drittstaat. Michel Barnier, Beauftragter der EU für die Austrittsverhandlungen, hat bei einem Zwischenstopp in Paris eine Bilanz gezogen. Le Taurillon hat ihn dabei interviewt.

„Außergewöhnlich komplexe Verhandlungen“

Das ehemalige Kommissionsmitglied, seit dem 1. Oktober 2016 Chefunterhändler für die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich, verfolgt Vorbereitungen für den Brexit bis ins kleinste Detail. Es handelt sich dabei um eine Situation, die in der Geschichte des europäischen Projekts so noch nie dagewesen ist: Ein Mitgliedstaat, der an 44 Jahren des europäischen Integrationsprozesses beteiligt war, verlässt die Europäische Union, nach dem Referendum vom 23. Juni 2016, bei dem 51,2% der Wähler für den Austritt gestimmt haben. Am 29. März 2017 hat die britische Premierministerin Theresa May daraufhin den Verhandlungsprozess nach dem Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union eingeleitet, für eine Dauer von maximal zwei Jahren. Michel Barnier und seine 60 Mitarbeiter müssen bis dahin ein Konzept für den Austritt entwickeln, der noch 2016 unvorstellbar war und für den es keinen Präzedenzfall gibt. „Die Verhandlungen müssen auf praktische, pragmatische und einheitliche Weise geführt werden. Ich werde vor allem darauf achten, dass sie einheitlich geführt werden.“

Außerdem seien die Unterstützung und die Übereinstimmung der 27 anderen Mitgliedsstaaten unverzichtbar. Mit dem erneuten Mandat durch die Kommission will Barnier den „geordneten Rückzug“ des Vereinigten Königreichs organisieren. Er will dafür sorgen, dass es auf den Austritt eine gemeinsame europäische Antwort gibt, besonders im Zusammenhang mit „all den Themen, bei denen der Brexit Unsicherheiten, Sorgen oder Ängste erzeugen kann“. Barnier trifft sich deshalb jede Woche mit Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten sowie Vertretern der Zivilgesellschaft, der politischen Parteien und der Gewerkschaften, um zu „verstehen“ und sich Inspiration für die Verhandlungen zu holen. Am Mittwoch, dem 4. April, dem Tag unseres Gesprächs, kam er gerade aus Dänemark zurück und war auf dem Weg nach Finnland und danach nach Tschechien.

Barnier bedauere die Entscheidung der Briten zutiefst. Er will „ohne jeden Hintergedanken“ verhandeln; sich bei den Briten rächen zu wollen, sei kontraproduktiv. Für ihn könne es „keinen Mehrwert“ beim Brexit geben: „Es handelt sich nicht um eine Win-Win-Situation. Der Austritt schwächt uns alle; wir müssen also versuchen, die Konsequenzen so weit wie möglich einzudämmen.“

„Die Bürger sind unsere Priorität“

Seit dem Vorvertrag, der im Dezember 2017 abgeschlossen wurde, sind die Verhandlungen um entscheidende Schritte fortgeschritten, besonders bei den drei zentralen Themen: dem Schicksal der europäischen Bürger, die vom Brexit betroffen sind, dem Budget der EU und der irisch-nordirischen Grenze. Bis zum Ende der Übergangsphase am 31. Dezember 2020 müssen die Rechte von 3,5 Millionen europäischen Bürgern in Großbritannien sowie 1,5 Millionen Briten in der EU gesichert werden.

Das gemeinsame Budget ist ein weiterer Punkt, der die Verhandlungen komplexer macht. Die Briten haben nämlich weiterhin Verpflichtungen im Rahmen des Budgets 2014-2020, die sie einhalten müssen. Barnier: „Alles, was mit 28 Mitgliedsstaaten entschieden wurde, muss auch mit 28 bezahlt werden. Wie bei jeder Trennung müssen die Konten abgerechnet werden. Die Briten müssen ihre Verpflichtungen bis zum Ende dieser Phase einhalten.“ Die Nordirlandfrage ist ein weit sensibleres Thema. Nach dem Ende des Nordirlandkonflikts mit den Karfreitagsabkommen hat ein Friedensprozess begonnen, dessen wichtigstes Ergebnis die Abschaffung der physischen Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, einem Teil des Vereinigten Königreichs, ist. „Wir müssen diese Stabilität aufrechterhalten“, warnt Barnier mit Blick auf die Austrittsverhandlungen.

„Wir bedauern die Entscheidung der Briten zutiefst, aber wir respektieren sie und setzen sie um.“

Die weiteren Fortschritte bei den Austrittsverhandlungen beschleunigen ebenfalls die Verhandlungen über ein Übergangsabkommen, das von Theresa May in einer Rede in Florenz gefordert wurde. Beide Abkommen müssen bis März 2019 sowohl vom Europäischen Parlament und dem Rat der EU als auch durch Großbritannien ratifiziert werden. Beide Parteien haben sich auf eine Übergangsfrist von 21 Monaten verständigt. Der Brexit tritt also erst am 31. Dezember 2020 vollständig in Kraft. Ein Dokument, das die Kommission am 19. März veröffentlicht hat, stellt den Kompromiss, der gerade verhandelt wird, in juristischer Form dar. Das Abkommen würde Großbritannien in der Form erlauben, weiterhin zur europäischen Politik beizutragen und davon zu profitieren. Michel Barnier betont, dass über „75% des Textes“ Übereinstimmung herrsche, aber dass die Steuerung der Übergangsphase und insbesondere die Lösung für Nordirland noch offen seien. „Die Kommission schlägt vor, Nordirland in die Zollunion zu integrieren. Die Briten sind nicht einverstanden, wir warten auf ihre Vorschläge. Wenn die Briten bessere Lösungen haben, nehmen wir sie an.“

Neben der Notwendigkeit, eine physische Grenze in Irland zu vermeiden, ist für Michel Barnier die „future relationship“ zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit zentral. Es handelt sich dabei um das Thema eines ganzen dritten Verhandlungsstranges neben den Verhandlungen über den Austritt und den Übergang, der demnächst anfängt. Nach dem 29. März 2019 „verlässt Großbritannien automatisch 750 internationale Verträge“, so Barnier. Er sieht deshalb vier zentrale Projekte vor, um eine privilegierte Beziehung mit einem besonders engen Partner der EU zu erhalten. Es handelt sich um ein Freihandelsabkommen, die Zusammenarbeit bei speziellen Themen wie etwa der Forschung und der Luftfahrt, der Kooperation in Polizei und Justiz und der Verteidigung im Rahmen der GSVP (Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik) der EU. Dagegen stehe nicht zur Diskussion „die vier Freiheiten des Binnenmarktes aufzuteilen. Der Binnenmarkt ist nicht verhandelbar. Wenn wir all die roten Linien befolgen, die die Briten momentan in die Diskussion einbringen, dann kommen wir zu einer Beziehung, die einem Freihandelsabkommen ähnelt, wie etwa mit Kanada oder Südkorea.“

In jedem Fall müssen für Barnier die Verhandlungen vor Oktober 2018 beendet sein, damit die Abkommen noch rechtzeitig ratifiziert werden können, um am 30. März 2019 in Kraft zu treten. Selbst wenn der Brexit laut Enrico Letta, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Italiens, „eines der größten politischen Erdbeben des 21. Jahrhunderts“ darstellt, möchte Barnier einen Hard Brexit unbedingt vermeiden. „Der Hard Brexit ist per Definition ein no deal.“

Auch wenn er die Entscheidung der Briten „zutiefst“ bedauert, bleibt Barnier ein überzeugter Europäer, der in der EU mehr sieht als einen „großen Supermarkt“. Jede der 28 Nationen habe es geschafft, „ihr Schicksal an die Gemeinschaft zu binden und gleichzeitig auf ihre eigene nationale Identität stolz zu bleiben“. Trotzdem warnt er die Europäer: „Was wir nicht gemeinsam für Europa tun, tut niemand für uns. Die Europäer müssen sich vereinigen, um in der Globalisierung weiterhin eine Rolle zu spielen. Deshalb müssen wir unser soziales und wirtschaftliches Modell und auch unsere Interessen verteidigen.“ Eine Art europäischer Renaissance? Wenngleich er den Sieg Emmanuel Macrons bei den französischen Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr begrüßt, mahnt er diesen doch auch, sich „um die großen Probleme zu kümmern“, wie es Jean-Claude Juncker einmal ausgedrückt hat. „Niemand kann mich daran hindern, leidenschaftlich von Europa zu sprechen, aber in Bezug auf den Brexit kommt es vor allem auf die Vernunft an“, schließt Barnier.

Gespräch am Mittwoch, den 4. April 2018 am Rande eines Vortrags von Michel Barnier über „Die europäischen Fragen zu Zeiten des Brexit“ an Sciences Po Paris.

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