Mein Land hat eine Identitäskrise. So wie ich. Teil 2: The People’s Vote March

, von  Madelaine Pitt, übersetzt von Lukas Hengel

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Mein Land hat eine Identitäskrise. So wie ich. Teil 2: The People's Vote March
Knapp 700.000 Demonstrant*innen erschienen zum Peoples Vote March for the future in London am 20. Oktober 2018. Fotos zur Verfügung gestellt von Madelaine Pitt

Ich ging zum Peoples Vote March for the Future.

Es war ein historischer Moment: knapp eine dreiviertel Millionen Menschen zogen durch Londons Zentrum. Die Demonstration wurde als die zweitgrößte in der britischen Geschichte eingestuft und bleibt einzig von den Protesten gegen den Irak-Krieg im Jahr 2003 übertroffen. Nicht einmal die optimistischsten Prognosen sagten mehr als ein Drittel der letztendlich eingetroffenen Teilnehmerzahl voraus und als wir am Ende des Tages in den Bus stiegen und wir die Nachrichten des Tages mit unseren Smartphones durchforsteten, schlug das Event bereits Schlagzeilen – allen voran beim BBC.

Normalerweise wäre der gestrige Tagesplan alles andere als verlockend gewesen. Ich kämpfte damit, um 05:30 aufzustehen und anschließend mit dem Fahrrad durch den, noch müden und feuchtkalten Oktobermorgen zum Treffpunkt in Yorkshire zu gelangen, nur um von dort aus mit dem Bus zwölf Stunden nach London zu schleichen. Aber das Bewusstsein, Teil eines großen Ereignisses zu sein, verdrängte den Argwohn mit jeder Stunde in der wir im unvermeidlichen und überquellenden Verkehr feststeckten. Wir hielten uns vor Anspannung und Vorfreude kaum auf den Sitzen. Während der Bus, an allen vier Enden von rollendem Blech eingeengt, mühsam voran kroch, hängten Mitdemonstrant*innen bereits ihre Pappschilder in die Rückscheibe, bindeten sich Flaggen über die Schultern und redeten wild durcheinander. Ungeduld wandelte sich nach und nach in Adrenalin. Die Gruppe war sichtlich aufgeregt.

Niemals werde ich den Moment vergessen, als ich der ersten Gruppe von Mitstreiter*innen begegnete: Eine vierköpfige Familie, herrlich normal, im Kontrast zum Leuchtreklame-Feuerwerk der Shops und Restaurants der Edgware Road, das sich hinter ihnen auftat. Dennoch war ich auf unerklärliche Weise überrascht vom Anblick blaugelber Europa T-Shirts, im Herzen der Hauptstadt eines Landes, welches in der internationalen Presse mittlerweile ausschließlich mit Brexit in Verbindung gebracht und dem eine schwarze post-europäische Zukunft vorausgesagt wird. So wurde mir im Laufe des Tages klar, dass die Mainstream-Medien es versäumt hatten, ein akkurates Bild britischer Politik aus der Sicht der Bevölkerung zu zeichnen.

Der Guardian gab zwar an, dass über 100 Wahlkreise, in denen einst die Leave-Fraktion die Mehrzahl an Stimmen hatte, umschwenkten und mittlerweile mehrheitlich Befürworter eines Verbleibs Großbritanniens in der EU sind. Jedoch ist diese Information nicht nur praktisch in allen anderen Medien ausgespart worden, sondern lässt die Berichterstattung über die Aktivist*innen, die ihre Zeit für Unterschriftkollekten, Organisationstreffen und Leserbriefe opfern, mehr als zu wünschen übrig. So kommt es, dass wir beinahe vergessen, dass Millionen von britischen Bürger*innen an die europäische Idee glauben und überzeugt sind, dass die EU-Mitgliedschaft für das Vereinigten Königreich richtig ist.

Der Verkehr kam kaum voran und unser Gruppenleiter überzeugte den Busfahrer, dass es besser sei, uns aussteigen zu lassen. So marschierten wir in heller Herbstsonne über den hektischen Londoner Asphalt gen Marble Arch.

Seit einschließlich dem 24. Juni 2016 brachte mich dieser Ort bereits unsäglich oft zum Weinen und auch gestern übermannten mich die Tränen. Ich erfasste zum ersten Mal die Ausmaße des Events, sah die gewaltigen Menschenmassen bis weit über das Ende der Park Lane hinaus, wie sie lärmten, um auch von weiter Ferne gehört zu werden. Ein Ozean an Menschen, die sich zum ersten und wohl auch letzten Mal ihres Lebens begegneten. Sie alle verband eine gemeinsame Überzeugung, die auch ich von ganzem Herzen teile. Diese Erfahrung lies in mir alle Dämme brechen, doch dieses Mal weinte ich aus einem anderen Grund. Es war die wunderbare Feststellung, dass meine handvoll Brexit-kritischer Freunde und ich bei weitem nicht alleine sind.

Die meisten Demonstrationen sind gegen eine Sache, wenige sind dafür. Paradoxerweise ist The People’s Vote march beides: Auf der einen Seite sind wir gegen die Heuchlerei der konservativen Regierung und die Art und Weise wie sie ihr Mandat dafür missbraucht, ihrem Volk einen Weg aufzuzwingen, den es so nicht wollte. Auf der anderen Seite fordern wir eine Abstimmung, die dem Land eine zweite Chance gibt, über den finalen Deal abzustimmen. Etwas pauschaler ausgedrückt sind wir eine fahnenwedelnde Masse an Unterstützer*innen der europäischen Idee. Die Gesamtstimmung war unglaublich positiv und spiegelte sich in der friedvollen Atmosphäre des Demonstrationstages wider. Obwohl 700.000 Menschen zur gleichen Zeit durch die Straßen Londons zogen, wurde kein Mensch verletzt. In klassisch britischer Manier entschuldigten sich die Demonstrant*innen, wenn sie anderen vor die Füße liefen und respektierten höflich jegliche Warteschlangen ohne zu drängeln.

Als jemand der den Großteil seines bisherigen Erwachsenenlebens im Ausland arbeitete und dies auch gerne in der Zukunft weiterhin fortführen würde, habe ich ein starkes persönliches Interesse daran, dass mir meine Rechte als europäische Bürgerin nicht vom Staat und Theresa May genommen werden. Die Mehrzahl der Demonstrant*innen gehörte nicht zu der Gruppe der 20-30 jährigen, im Ausland tätigen Akademiker*innen und Arbeiter*innen, die um ihre internationale Karriere bangen. Vielmehr waren die Bürger*innen auf die Straße gegangen, die sich um ihre Zukunft und die ihres Landes sorgten und weit anreisten, um für ihre Überzeugungen laut zu werden. Für sie war der Zeitpunkt gekommen, um ihre Pflicht als Bürger*innen wahrzunehmen und das Verhalten ihrer Regierung in Frage zu stellen und somit für Gerechtigkeit und Ehrlichkeit einzustehen. So fand sich letztendlich eine sehr heterogene Menschenmenge zusammen, in der Demonstrant*innen verschiedenster gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hintergründe für ihre gemeinsame Überzeugung laut wurden. Welch beeindruckendes Erlebnis, mit so zahlreichen, engagierten und unterschiedlichen Leuten auf die Straße zu gehen!

Und Hut ab vor jedem*r der*die sich die Mühe machte, ein Schild zu basteln! Die Schriftzüge reichten von gut platzierten, gesellschaftskritischen Parolen („Wenn eine Demokratie nicht in der Lage ist, Meinungen zu wechseln, ist sie keine mehr.“), über aussagekräftige Zahlen („2016 – 48%, 2019 - ?“), gut recherchierten Fakten bezüglich Brexit-bedingter Kosten für das vereinigte Königreich , bis hin zu humorvollen Parolen, die sich auf die britische Demonstrations-Angst bezogen („Ich bin Brite*in und auf einer Demonstration – irgendetwas muss wohl wirklich schieflaufen“). Auch waren kritische Schilder gegenüber zahlreicher Politiker*innen zu sehen und Kinder und Jugendliche liefen mit schlagfertigen Parolen bezüglich ihrer Zukunftssorgen durch die Straßen („Ich durfte nicht abstimmen, muss aber dafür zahlen“, „Ich habe auf meine dritte Geburtstagsparty verzichtet um heute hier sein zu können.“). Es gab auch super lustige EU-Scherze nach dem Motto („Ich kann ohne die EU nicht leben.“) und selbstgemachte brillante Diagramme:

Dieses Kreisdiagramm war monatelang ein Internet-Klassiker unter Brexit-Kritiker*innen

Beinahe alles, was ich las, brachte es auf den Punkt – auch wenn so viele der Parolen normalerweise eher lächerlich klängen, wenn es doch nicht so schmerzhaft wahr wäre. Der Tag war aber auch eine Erinnerung daran, dass wir Briten*innen niemals unseren ausfallend schrägen Humor aufgeben werden, was auch immer in der Politik passieren mag.

Diesen typisch selbstironischen und kühlen Humor spiegelte wohl dieses folgende Demonstrationsschild am besten wider. Es beklagt die Auflockerung des britischen Verbraucherschutzes zugunsten der künftigen Importe von hormonell behandeltem Rindfleisch und Chlor-Hühnchen aus Amerika:

„Our food is OK at best“

Und zum ersten Mal seit meiner Rückkehr in dieses Land konnte ich ein Stück weit wieder mit der Nationalität, die auf meinem Ausweis steht, Frieden schließen.

Zum ersten Mal seit Juni 2016 war es ein guter Tag, britisch zu sein.

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