Viktor Orbán liebt Provokation. Direkt im Anschluss an die Feierlichkeiten zum 75.-jährigen Bestehen der NATO traf sich der ungarische Ministerpräsident mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Detaillierte Informationen zu dem Treffen gibt es kaum. Orbán schrieb später, die beiden hätten eine „Friedensmission 5.0“ zur Lösung des Ukrainekrieges diskutiert.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs zeigten sich entsetzt. „Die rotierende Präsidentschaft repräsentiert die EU nicht nach außen“, so schreibt der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel in einem internen Brief an Orbán. Das Problem: Ungarn hat am 01. Juli dieses Jahres turnusgemäß den Vorsitz im Rat der Europäischen Union (kurz: EU-Ratspräsidentschaft) übernommen und reist seitdem unter dem Banner der EU auf eigene Faust um die Welt. Das Motto, das sich Ungarn für die kommende Zeit gesetzt hat, ist in seiner Anspielung kaum zu übersehen: „Make Europe Great Again“.
Was ist die EU-Ratspräsidentschaft?
Jedes EU-Mitgliedsland übernimmt etwa alle dreizehneinhalb Jahre den Vorsitz im Ministerrat, unabhängig von Größe oder Beitrittsdatum. Zuletzt hatte Ungarn die rotierende Ratspräsidentschaft im Jahre 2011 inne. Im Ministerrat der Europäischen Union kommen die jeweiligen Fachminister*innen der Mitgliedstaaten zusammen. Gemeinsam mit dem Parlament entscheiden sie über Gesetzesentwürfe der Europäischen Kommission.
Dem Vorsitz kommen dabei zwei Hauptaufgaben zu: Zum einen plant und leitet dieser die Sitzungen des Rates und dessen Vorbereitungsgremien. Damit soll ein geordneter Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens sichergestellt werden. Zum anderen vertritt der Vorsitz den Rat gegenüber anderen EU-Organen wie der Kommission und wirkt in Verhandlungen auf Einigungen über Gesetzgebungsvorhaben hin. Der Vorsitz soll so als „ehrlicher Makler“ fungieren.
Nicht zu den Aufgaben des Vorsitzes gehört die Außenvertretung der EU. Diese kann nur vom Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel, der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell vorgenommen werden.
Zwischen Wettbewerb und Migration: Das Programm Ungarns
Zu Beginn jeder Ratspräsidentschaft stellt das vorsitzende Land ein Programm vor, was die Prioritäten für die kommenden sechs Monate widerspiegeln soll. Jedoch ist diese Prioritätensetzung nicht zu überschätzen. Die Agenda des Ministerrates wird weiterhin maßgeblich vom aktuellen Tagesgeschehen bestimmt.
Ungarn rückt für seine Ratspräsidentschaft sieben Themenbereiche in den Vordergrund. „Europa steht vor den gemeinsamen Herausforderungen des Krieges in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, des globalen Wettbewerbs, einer fragilen Sicherheitslage, illegaler Migration, Naturkatastrophen, den Auswirkungen des Klimawandels und der demografisch Lage“, so erklärt János Bóka, der ungarische Minister für Angelegenheiten der Europäischen Union, die ungarischen Prioritäten.
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit als Hauptziel
Prioritätsziel Nummer 1 ist dabei die Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union. Ungarn schlägt einen „New European Competitiveness Deal“ vor. Die Idee ist nicht neu, bereits im April hatte der Europäische Rat einen solchen gefordert. Ungarns Ansatz beruht auf einer technologieoffenen Industriestrategie. Explizit werden Initiativen zur Unterstützung der europäischen Elektrofahrzeuge-Produktion erwähnt. Auch soll der Marktzugang für neue Technologien erleichtert und so die Bedingungen für nachhaltiges Wachstum geschaffen werden. Der „New European Competitiveness Deal“ soll vor allem kleine und mittlere Unternehmen unterstützen (KMU).
Im Gegensatz dazu sind Initiativen, die primär dem Umweltschutz dienen, nicht zu erwarten. Die angestrebten Ziele des europäischen „Green Deals“ werden an Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit geknüpft. Ein Beispiel dafür ist die angekündigte Unterstützung von KMUs bei der Umsetzung von Umweltauflagen.
Ebenso plant Ungarn die Verteidigungsfähigkeit der EU zu stärken. Budapest setzt beispielsweise auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Beschaffung von Verteidigungsmitteln sowie auf die Umsetzung des Strategischen Kompasses, der die Hauptausrichtung der EU-Verteidigungspolitik vorgibt. Explizit keine Erwähnung finden Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine. Ministerpräsident Orbán lehnt einen EU-Beitritt sowie Waffenlieferungen an die Ukraine strikt ab. Anstelle dessen priorisiert Ungarn den Ausbau des Handels mit Asien und die Förderung der EU-Erweiterung Richtung Westbalkan.
Illegale Migration durch Rückführungen bekämpfen
Besondere Priorität erhält auch das Thema „Eindämmung der illegalen Migration“. Diese stellt laut des ungarischen Programmes eine „enorme Belastung für die einzelnen Mitgliedstaaten, insbesondere an den Außengrenzen der Union“ dar. Um kurzfristig Abhilfe zu schaffen, konzentriert sich Budapest auf Rückführungsmaßnahmen und eine Kooperation mit EU-Anrainerstaaten sowie mit Herkunfts- und Transitländern.
Damit legt Ungarn seinen Fokus auf die externe Dimension der Migration. Genaue Details sowie der Schutz von Menschenrechten bei Rückführungen bleiben unerwähnt. Auch die interne Dimension der Migrationspolitik, also der Aufbau eines gemeinsamen, europäischen Asylsystems wird außen vor gelassen. In Ungarn selbst wurde das Recht auf Asyl unter der Regierung Orbáns stark eingeschränkt. Wegen illegaler Abschiebungen und der Verletzung der EU-Asylgesetze verurteilte der oberste Gerichtshof der EU, der EuGH, Ungarn im Juni dieses Jahres zu einer Geldstrafe von 200 Millionen Euro. Dazu verhängten die Richter*innen eine Strafe von einer Million Euro täglich. Diese bleibt so lange bestehen, bis Ungarn den Forderungen des EuGH-Urteils nachkommt und die rigide Migrationspolitik an die EU-Asylregeln anpasst.
Kein Fokus auf die Grundwerte der EU
Nicht ins ungarische Programm aufgenommen sind Maßnahmen zur Stärkung der Grundwerte und -rechte der EU. Im Jahr 2014 hatte Orbán selbst sein Land in einer Rede zu einer „illiberalen Demokratie“ erklärt. Seitdem werden Grundfreiheiten von Minderheiten, die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz stark eingeschränkt.
Als Reaktion auf ein Gesetz aus dem Jahre 2021, das das „Bewerben und Darstellen“ von Homosexualität und Sex gegenüber Minderjährigen generell verbietet, reichte die Kommission Klage ein. Denn das Gesetz verbietet jegliche öffentliche Aufklärung von Kindern sowie Werbespots mit homosexuellen Inhalten. Seit 2022 läuft ein dahingehendes EU-Vertragsverletzungsverfahren, das die demokratischen Normen der EU „ernsthaft verletzt.“
Autoritäre Charme Offensive
Bereits die ersten Tage der ungarischen Ratspräsidentschaft sorgen für Schock. Nach einem ersten bilateralen Treffen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj stattete der ungarische Ministerpräsident dem russischen Präsidenten Putin in Moskau einen Besuch ab. Zuvor hatte Orbán wiederholt europäische Sanktionen gegen Moskau blockiert und kritisiert. Er ist der einzige EU-Regierungschef, der trotz des Angriffskriegs gegen die Ukraine Beziehungen zu Russland aufrechterhalten hat.
Die Reaktionen aus Brüssel folgten prompt. „Russland ist der Aggressor, die Ukraine ist das Opfer. Keine Diskussion über die Ukraine kann ohne die Ukraine geführt werden“, so bekräftigt Charles Michel die Haltung der EU. Derweil spricht EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf ihrem offiziellen X-Account von Orbans Verhalten als „Appeasement“, das „Putin nicht aufhalten“ wird. Kaja Kallas, die ehemalige estnische Ministerpräsidentin und designierte Hohe Außenvertreterin der EU setzt hinterher: „In Moskau vertritt Viktor Orbán in keiner Weise die EU oder die Positionen der EU. Er nutzt die EU-Präsidentschaft aus, um Verwirrung zu stiften“. Während seiner Reise verwendete Orbán das Logo der ungarischen Ratspräsidentschaft. Auch widersprach er dem russischen Präsidenten Putins nicht, als dieser erklärte, Orbán spreche in Moskau für die EU. Die russischen Staatsmedien nutzten Orbáns Besuch für Propagandazwecke.
Nach seinem Besuch in Moskau reiste Orbán weiter nach Aserbaidschan, um am informellen Gipfel der Organisation der Türkischen Staaten teilzunehmen, bei dem auch Vertreter*innen der von der EU nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern anwesend waren. Für Zypern, einem EU-Mitgliedstaat, stellt dies ein politisch heikles Unterfangen dar, da der Gipfel territoriale Integrität und Souveränität Zyperns infrage stellt.
Provokation während des NATO-Gipfels
Kurz darauf traf sich Orbán mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Peking und lobte dessen Engagement für einen Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine. Ein weiterer klarer Bruch mit der Position der EU – und der der USA. Von der chinesischen Hauptstadt aus reiste Orbán weiter zum NATO-Gipfel nach Washington DC. Mehrere Quellen berichteten, dass Orbán keine Einzelheiten seiner Verhandlungen mit Putin oder Xi mit der Regierung Biden besprochen und auch nicht um ein bilaterales Treffen mit US-Präsident Joe Biden gebeten habe.
Eine Erklärung für sein Verhalten lieferte Orbán selbst. Vor seinem Flug nach Washington D.C. sagte der ungarische Ministerpräsident in einem Interview mit Politico, dass es „sehr, sehr wahrscheinlich“ sei, dass der derzeitige US-Präsident Joe Biden die US-Wahlen im November nicht gewinnen werde. Dagegen lobte Orbán den Ex-Präsidenten Trump als „Mann des Friedens“. Direkt im Anschluss an den NATO-Gipfel traf sich Orbán dann mit republikanischen Ex-Präsidenten zu seiner „Friedensmission 5.0“. Seine Amtskolleg*innen der NATO-Staaten hatte Orbán nicht über das geplante Treffen mit Trump informiert.
Boykottaufrufe
Als Protest auf die diplomatischen Alleingänge Orbáns hat die Europäische Kommission ihre Kommissar*innen aufgefordert, an keinen informellen Minister*innentreffen teilzunehmen. Traditionell werden diese während der EU-Ratspräsidentschaft in der Hauptstadt des Vorsitzenden Landes abgehalten. „Angesichts der jüngsten Entwicklungen zu Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft hat die Präsidentin beschlossen, dass die @EU_Kommission nur auf der Ebene hoher Beamter bei informellen Ratssitzungen vertreten sein wird“, erklärt der Sprecher der Europäischen Kommission. Die Ankündigung wirkte: Zu einem industriepolitischen Treffen in Budapest Anfang Juli kamen nur sieben Minister*innen aus EU-Staaten. Auch war kein Kommissionsmitglied anwesend, welches für das Dossier zuständig ist.
Andere Maßnahmen blieben ohne Erfolg. Bereits ein Jahr vor Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft hatte das Europäische Parlament eine Resolution verabschiedet, die „infrage stellt, wie Ungarn in der Lage sein wird, diese Aufgabe im Jahr 2024 glaubwürdig zu erfüllen, da es das EU-Recht und die in Artikel 2 EUV verankerten Werte sowie den Grundsatz der aufrichtigen Zusammenarbeit nicht einhält.“ Mit einer parteiübergreifenden Mehrheit von 442 zu 144 Stimmen stimmten die Parlamentarier*innen für die Resolution und forderten den Rat auf „geeignete Maßnahmen“ zu ergreifen. Resolutionen im Parlament sind jedoch rechtlich für den Rat nicht bindend. Über die Ratspräsidentschaften entscheidet dieser allein, einstimmig. Geeignete Maßnahmen wurden nicht ergriffen.
Als Reaktion auf die Boykottaufrufe erklärte der ungarische Minister János Bóka, dass Budapest weiterhin „zu einer aufrichtigen Zusammenarbeit“ mit den Institutionen und Mitgliedstaaten der EU entschlossen sei. Seine „Friedensmissionen“ sieht Orbán selbst unkritisch: „Wir sollten – im Geiste der europäischen strategischen Autonomie – eine europäische Initiative in Erwägung ziehen“, so schreibt er an Charles Michel, den Präsidenten des Europäischen Rates und rechtfertigt seinen Vorstoß zur „Lösung des Ukrainekrieges“. Orbán scheint an seinem Motto festzuhalten. „Make Europe great again“.
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