Diesen Sonntag werden die französischen Wahlberechtigten erneut an die Urnen gehen. Diese Mal um ihren nächsten Premier Minister zu wählen. Am 9. Juni, nachdem die Stimmen der Europawahlen ausgezählt waren, hatte sich der Sieg der extremen Rechten von düsteren Vorhersage zu düsteren Realität gewandelt. Mit über 31,5% für die Nationale Sammelbewegung (Rassemblement Nationale) konnten sich ihr Vorsitzender Jordan Bardella und die Präsidentschaftskandidatin für 2027, Marine Le Pen, selbstbewusst als Sieger*innen der Kampagne präsentieren. Macrons Renaissance erlitt einen erschütternden Schlag und erreichte weniger als 15% der Stimmen. Aufgrund seiner unbeliebten Reformen – insbesondere das französische Rentenreformgesetz von 2023 sowie das umstrittene Einwanderungsgesetz vom Januar 2024 – wird seine Partei mehr und mehr Objekt umfangreicher Unzufriedenheit. Der Kandidat der sozialistischen Partei (Parti socialiste), Raphaël Glucksmann, erreichte schlanke 13,8%. Er schnitt damit dennoch etwas besser ab, als die anderen linken Parteien der franzöischen Politiklandschaft.
Infolge dieser Ergebnisse, entschied sich Macron dazu, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Eine Entscheidung welche nicht nur die gesamte politische Landschaft, sondern auch seine eigenen Parteimitglieder in Schock versetzte. Nur die extreme Rechte hieß die Neuwahlen willkommen. Sie und die bisherigen Umfragen erwarten einen Sieg der RN.
Frankreich befindet sich nun seit dem 9. Juni in Aufruhr. Obwohl die politische Linke angesichts der Angst vor dem Sieg Bardellas, es schließlich geschafft hat, sich zu vereinen und zur Volksfront (Front Populaire) zu werden, liegt die französische Parteipolitik in Trümmern. Die alten Anführer des französischen Parteiensystems, die Sozialistische Partei und die Republikaner (Républicains), sterben seit der Jahrtausendwende einen langsamen Tod. Es scheint, dass „2024“ nun endgültig den Grabstein ihres 66-Jährigen politisches Daseins markiert. Die Sozialitische Partei ist nun Teil der Ad-hoc-Koalition der Volksfront. Die Republikaner wurden von ihrem (ehemaligen) Vorsitzenden Éric Ciotti, der ein Bündnis mit der RN vorschlug, auseinandergerissen. Nachdem er daraufhin aus seiner Partei ausgeschlossen wurde, weigerte er sich zurückzutreten. Er kehrte am nächsten Tag zum Hauptquartier der Republikaner zurück und drohte gegen die Entscheidung seines Auschlusses zu klagen. Bei dem Versuch, Ciottis Besetzung des Republikanischen Hauptquartiers aufzulösen, näherte sich die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse dem Gebäude – ein Bild, das in den sozialen Medien viral ging.
Après plusieurs sommations, c’est finalement Valérie Pécresse qui arrive au siège LR pour y déloger Éric Ciotti. Exit le GIGN. pic.twitter.com/cXZZPuIrvJ
— Charlotte Rocher🎗️ (@ChaRocher) June 12, 2024
Obwohl sie die Umfragen anführen, hat die RN das erwartete Bündnis mit der noch weiter rechts stehenden Partei Reconquête! des islamfeindlichen Journalisten Éric Zemmour abgelehnt. Marion Maréchal, ehemalige Vorsitzende der europäischen Liste von Reconquête!, verließ die Partei zugunsten der RN. Eine Entscheidung, welche von Zemmour als „Weltrekord des Verrats“ verurteilt wurde. Maréchals Entscheidung erscheint jedoch nicht ganz überraschend, da die RN selbst ein bekanntes Familienunternehmen ist und Marion Maréchal die Nichte von Marine Le Pen. Le Pen ist selbst die Tochter des RN-Gründers Jean-Marie Le Pen sowie die Tante von Bardellas Freundin. Und obwohl man sagen könnte, dass diese Familienkonstellationen nur ein Zufall seien und für die politischen Geschehnisse unbedeutend, steht der Nepotismus der RN symbolisch für ihre Politik. Eine Vorliebe für Blut und familiäre Loyalität.
Was auch immer das Ergebnis der Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juni sein wird, die Frage bleibt: Warum? Warum hat Macron beschlossen, diese Neuwahlen auszurufen? Der Präsident hat seine Entscheidung als Folge des Ausdrucks der Unzufriedenheit der Wähler dargestellt. Diese hätten das Gefühl „nicht gehört oder respektiert zu werden... Wir können all diese Botschaften nicht ignorieren“ sagte er bei einer Pressekonferenz vor einer Woche. Vielleicht hoffte er, dass die Wähler*innen angesichts der Bedrohung durch die „unheilige Allianzen an den beiden Extremen“ Kräfte zur vernünftigen Mitte, also zu ihm, zurückkehren würden. The Economist sieht „Macrons Wette“ als in der Tradition der europäischen Politik stehend. Diese Art von high-stakes Politik würde die Wähler*innen dazu auffordern den Präsident „entweder zu unterstützen oder abzuwählen“. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass diese Parlamentswahlen in jedem Fall ein Win für Macron sind. Zumindest ein halber Sieg. Denn er hat klar gemacht, dass er Präsident der Republik bleiben wird, egal wie die Ergebnisse ausfallen. Entweder werden seine, wenn auch träumerischen, Hoffnungen wahr, und die von seiner Renaissance geführte Mitte-Koalition wird Stimmen zurückgewinnen und eine Mehrheit erringen. Unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Oder die RN gewinnt und sein neuer Premierminister wird Jordan Bardella. Dies würde eine sogenannte Kohabitation zur Realität machen, wobei der Präsident und der Premier Minister aus verschiedenen politischen Parteien stammen. Auf eine mehr sekundäre Rolle beschränkt, behielte Macron dennoch bestimmte Befugnisse. Die wichtigste unter diesen ist insbesondere die Verlagerung von Exekutivbefugnissen auf sich selbst, im Falle einer ernsthaften Bedrohung der Institutionen. Könnte es sein, dass Macron versucht, eine „Testphase“ der extremen Rechten in Frankreich zu überwachen und einzuschränken, in der Hoffnung, dass die RN enttäuschen und die Präsidentschaftswahl 2027 verlieren wird? Was sind drei Jahre eines kontrollierten RN-Parlaments gegen eine fünfjährige freie Herrschaft in der Zukunft? Macron selbst sagte, „Ich möchte nicht, dass die Schlüssel zur Macht im Jahr 2027 der extremen Rechten übergeben werden“.
Was auch immer Macron dachte, als er diese Neuwahlen ausrief, der Schock hallt in Frankreich und darüber hinaus. Die Auswirkungen auf die EU sind gravierend. Bardella verspricht Grenzkontrollen wieder einzuführen und die Kontrolle zurückzugewinnen. Ein Narrativ, das stark an die Brexit-Katastrophe von 2016 erinnert. Wenn der französische Motor der EU anfängt zu stottern, stellt sich die Frage: was wird aus der Europäischen Union? Was wird aus ihrer globalen Rolle im kommenden Jahrzehnt? Der Wahlerfolg der RN stellt eine Bedrohung für soziale- und Bürgerrechte innerhalb Frankreichs dar. Doch die Bedrohung geht über die nationalen Grenzen hinaus. Wie soll der Klimawandel bekämpft werden, wenn dessen Leugner*innen und Profiteure die Regierungen der 2020er anführen? Die Zeiten erscheinen düster - trotz Sommersonne, Fangesängen und Saxophonklängen. Es ist nun abzuwarten für wen sich die Franzosen und Französinnen in den kommenden zwei Wochen entscheiden werden.
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