Europa nach dem Brexit: Weg vom Jubeleuropäismus

Lasst uns die Euroskeptiker*innen mitnehmen auf dem Weg zum föderalen Europa!

, von  Felix Hohlfeld

Lasst uns die Euroskeptiker*innen mitnehmen auf dem Weg zum föderalen Europa!
Atomium in der belgischen Hauptstadt. Die empfundene Distanz zur „Brüsseler Politik“ sollte ernstgenommen werden.
Foto: Unsplash / Klaudio Metolli / Unsplash License

Das europäische Projekt bleibt zunehmend auf der Strecke – und das nicht erst seit dem Brexit. So schmerzhaft und unerfreulich diese Diagnose ist, so erdrückend sind die Beweise. Sei es die AfD in Deutschland, der Rassemblement Nationale in Frankreich oder die niederländische Freiheitspartei um Geert Wilders: Die Gegner eines geeinten, integrativen Europas sind leicht ausgemacht. Doch anstatt im Licht solcher Bedrohungen einem blinden, unreflektierten „Jubeleuropäismus“ zu verfallen, braucht es Mut, auch schwierige Fragen und Probleme offen und unvoreingenommen zu benennen. Dabei gilt es auch, die Ängste und Sorgen der Euroskeptiker*innen zu verstehen – und sie mitzunehmen auf dem Weg zu einem föderalen Europa. Ein Kommentar.

Seit fast einem Monat ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil der Europäischen Union. Für uns europäische Föderalist*innen ist klar: Der Brexit war ein schwerwiegender, kapitaler Fehler. Wer die Lösung für drängende Herausforderungen – der globalen Migration, den sicherheitspolitischen Bedrohungen oder dem Klimaschutz – in einer reflexhaften Flucht in die engen Grenzen des Nationalstaats gefunden zu haben meint, der irrt. Der Nationalstaat ist nicht das Nonplusultra politischer Entscheidungsfindung im 21. Jahrhundert: Wer also mit einem Europa der Vater- und Mutterländer sympathisiert, dem muss mit klarer Kante begegnet werden.

Populismus als Krisensymptom

Es jedoch bei dieser Kritik zu belassen, ein „weiter so“ zu fordern und die Europäische Union gegen jede Kritik zu imprägnieren - auch das wäre falsch. Der erstarkende Populismus und Nationalismus ist nicht nur eine ernstzunehmende Bedrohung für das Friedensprojekt Europa: Er ist auch Symptom tiefer liegender Probleme.

Halt, Orientierung und Identität in Zeiten von Globalisierung und Denationalisierung zu finden, Armut effektiv zu bekämpfen, sprachliche und kulturelle Barrieren zu verringern sowie Formen politischer Beteiligung jenseits des Nationalstaats zu ermöglichen: All das sind Herausforderungen, die sich in unserer ständig wandelnden und eng vernetzten Welt unweigerlich stellen. Und all das sind Fragen, auf die die EU bislang keine zufriedenstellenden Antworten geliefert hat. Umso leichter ist es daher für populistische Parteien, desillusionierte Bürger*innen aufzufangen und sich als Ventil ihrer Sorgen und Nöte aufzuspielen.

Dass Populisten mit ihrer nationalistischen, rückschrittlichen Agenda zum einen nicht ernsthaft an konstruktiven Lösungen interessiert sind und dass die „Sorgen und Ängste der Menschen“ zum anderen nicht immer rational begründet sind – all das bedarf keiner weiteren Erläuterung.

Die verspürte “Distanz zu Brüssel”, der subjektive Kontrollverlust, den viele Menschen auch gegenüber den Institutionen der Europäischen Union empfinden, lässt sich indes nicht aus der Welt reden. Zu deutlich ist das noch immer bestehende Demokratie- und Repräsentationsdefizit der EU. Zu erdrückend sind die politischen Stimmungsbilder. Für Jubeleuropäismus ist es daher zu früh.

Wir brauchen mehr als bloßen Symbolismus

Das Gebot der Stunde liegt insofern nicht in blinder Euphorie oder Schönrederei: EU-Hoodies zu tragen und die Europahymne zu singen mag ein begrüßenswertes Bekenntnis zur EU und einer europäischen Identität sein. Will man hingegen auch Nichtwähler*innen und Skeptiker*innen vom europäischen Projekt überzeugen, greift dieser bloße Symbolismus zu kurz. Vielmehr müssen wir existierende Probleme ehrlich anerkennen, die Ängste und Nöte der Euroskeptiker*innen berücksichtigen - und handfeste Lösungen präsentieren.

Der empfundene Kontrollverlust könnte beispielsweise durch eine Demokratisierung europäischer Institutionen und durch eine Stärkung des europäischen Parlaments abgebaut werden. Sprachliche und kulturelle Barrieren durch eine stärkere Förderung von Austauschprogrammen wie Erasmus oder Reiseprogrammen wie Interrail verringert werden. Und Armut könnte durch die Einführung eines europäischen Mindestlohn, sowie eine gemeinsame europäische Sozialpolitik bekämpft werden.

Dass die Lösungen für die drängenden Probleme gerade im europäischen Kontext aufzufinden sind, überrascht unter Föderalist*innen wohl kaum einen. Doch genau das müssen wir den Skeptiker*innen noch klarer verdeutlichen - auf Augenhöhe, mit Wertschätzung und ganz ohne Arroganz. Nur so können wir sicherstellen, dass wir gemeinsam voranschreiten und sich die Gräben zwischen Europabegeisterten einerseits und Euroskeptiker*innen andererseits nicht weiter vertiefen.

Europa ist und darf kein Projekt der wenigen, kein “Top-down-Modell” werden, sondern muss eine Bewegung von unten sein, die sich des Vertrauens grundsätzlich aller erfreut - auch der jetzigen Skeptiker*innen. Ihre Kritik, ihre Sorgen, ihre Nöte müssen wir dabei verstehen und ihnen ein Angebot machen, das besser ist als jenes der Nationalisten.

Lasst sie uns also mitnehmen. Mitnehmen auf dem Weg zu einem föderalen Europa!

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