Internationaler Strafgerichtshof: Möglicher Haftbefehl gegen Netanjahu?

, von  Niklas Wester

Internationaler Strafgerichtshof: Möglicher Haftbefehl gegen Netanjahu?
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin trifft den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoaw Gallant in Tel Aviv am 13. Oktober 2023. Foto: Wikimedia Commons / U.S. Secretary of Defense / Copyright

Die vom Internationalen Strafgerichtshof beantragten Haftbefehle gegen die Hamas-Führung und Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sowie Verteidigungsminister Joaw Galant stellen einige Länder, insbesondere die deutsche Bundesregierung, vor einige Unsicherheiten. Was bedeutet der Antrag? Welche Folgen hätte ein möglicher Haftbefehl für Benjamin Netanjahu und die deutsch-israelischen Beziehungen?

Am 20. Mai diesen Jahres wurden am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Joaw Gallant beantragt. Der Chefankläger Karim Khan begründete seinen Antrag durch den Verdacht auf mögliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dies bezieht sich auf „das Vorgehen Israels im Gazastreifen durch das Aushungern von Zivilisten sowie durch Angriffe auf die Zivilbevölkerung“.

Das Büro des Chefanklägers habe dazu Beweise gesammelt, die aufzeigen, dass Israel der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen vorsätzlich und systematisch überlebensnotwendige Strukturen genommen habe. Dies wäre etwa durch die Unterbrechung von Wasser- und Stromleitungen, sowie durch den Einsatz von Hunger als Methode der Kriegsführung geschehen. Dabei liegt der argumentative Fokus des Chefanklägers hier explizit auf der Vorgehensweise der militärischen Offensive Israels in Gaza – nicht auf einer möglichen Rechtfertigung. Dieses wäre grundsätzlich durch das Selbstverteidigungsrecht Israels gemäß Artikel 51 der UN-Charta völkerrechtlich gedeckt.

Der Internationale Strafgerichtshof hat seinen Sitz im niederländischen Den Haag

Gleichzeitig wurden Haftbefehle gegen die drei ranghöchsten Vertreter der islamistischen Terrororganisation Hamas im Gazastreifen beantragt. Im Zusammenhang mit dem Terrorangriff auf Israel am 07. Oktober letzten Jahres liegt auch hier ein „begründeter Verdacht“ vor, dass die drei Männer strafrechtliche Verantwortung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen. So führt Chefankläger Khan beispielsweise die Tatbestände der Ausrottung, der vorsätzlichen Tötung oder der Geiselnahmen an.

Noch liegen jedoch keine Haftbefehle vor, sondern nur die Anträge, solche zu erlassen. Ob die Voraussetzungen für die Haftbefehle tatsächlich vorliegen und ob sie auch erlassen werden, muss nun die Vorermittlungskammer des IStGH entscheiden - ein Prozess, der mehrere Monate dauern kann. In der Vergangenheit folgte die Vorermittlungskammer meist der Anklage, so auch bspw. im März 2023 bei Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa, wegen der gewaltsamen Deportation ukrainischer Kinder. Da im Fall Netanjahu/Gallant einige Fragen umstritten sind, ist es vorstellbar, dass die Richter anders entscheiden.

Hintergrund

Der IStGH ist für vier Kategorien von Verbrechen nach internationalem Recht zuständig:

  • Völkermord
  • Kriegsverbrechen
  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Verbrechen der Aggression

Seine Ermittlungen führt der Gerichtshof über das Büro des Anklägers durch. Es besteht aus achtzehn Richtern, von denen jeder aus einem anderen Mitgliedsland stammt und von den Mitgliedsstaaten gewählt wird. Der Gründungsvertrag des IStGH wurde von der UN-Generalversammlung auf einer Konferenz in Rom im Juli 1998 angenommen. Nach der Ratifizierung durch mehr als sechzig Länder trat das Römische Statut am 1. Juli 2002 in Kraft.

Wann darf der Internationale Gerichtshof ermitteln?

Grundsätzlich erstreckt sich die Gerichtsbarkeit des IStGH nur auf Staaten, die dem Römischen Statut beigetreten sind und sich so der Gerichtsbarkeit des IStGH unterworfen haben. Der Gerichtshof kann auf drei Arten Ermittlungen zu möglichen Straftaten einleiten: Ein Mitgliedsland kann den Ankläger mit einer Situation befassen, die überall auf der Welt auftritt, vorausgesetzt, sie fällt in die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Der UN-Sicherheitsrat kann sich mit einer Situation befassen, die überall auf der Welt auftritt oder der Ankläger kann mit Genehmigung der Richter des IStGH oder „auf eigene Initiative“ Ermittlungen in einer Situation einleiten. Der Gerichtshof kann gegen Personen aus Nichtmitgliedstaaten ermitteln, wenn die mutmaßlichen Straftaten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats begangen wurden, wenn der Nichtmitgliedstaat die Zuständigkeit des Gerichtshofs anerkennt oder mit Genehmigung des Sicherheitsrats.

Israel hat - wie bspw. auch die USA oder Russland - das Statut nie ratifiziert – die Palästinensische Autonomiebehörde schon. Obwohl Palästina völkerrechtlich kein Staat ist, entschied der Gerichtshof im Jahr 2021, es wie einen Staat zu behandeln. Damit fallen Taten, die auf palästinensischem Territorium begangen wurden, unter die Gerichtsbarkeit des IStGH, und zwar auch solche von Staatsangehörigen des Nichtvertragsstaates Israel. Daher kann der Chefermittler gegen alle Taten, die auf palästinensischem Gebiet oder eben von Palästinenser*innen verübt wurden, ermitteln.

Reaktionen

Sowohl von israelischer als auch palästinensischer Seite wurde die Entscheidung des IStGH-Chefanklägers kritisiert. Israels Ministerpräsident Netanjahu sprach von einem „moralischen Skandal historischen Ausmaßes“ und wies „einen Vergleich“ zwischen der demokratisch gewählten Führung Israels mit der Hamas vehement zurück.

Die EU-Mitgliedsstaaten, welche - anders als Israel - allesamt Vertragsstaaten des IStGH sind, reagierten mitunter unterschiedlich. Deutschland betonte, es respektiere die Unabhängigkeit des Strafgerichtshofes, kritisierte aber die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle gegen die Hamas-Führung und israelische Amtsträger. Dadurch entstünde der „unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung“. Allerdings schlossen sich nicht alle Staaten dieser Kritik an. So erklärten bspw. französische Regierungsvertreter den IStGH, dessen Unabhängigkeit sowie dessen „Kampf gegen die Straflosigkeit in allen Situationen zu unterstützen.“

Welche Folgen hat der Antrag?

Wenn sich die Richter*innen am IStGH dem Antrag des Chefanklägers anschließen und einen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten erlassen, wäre die Bewegungsfreiheit Benjamin Netanjahus – in der Theorie – stark eingeschränkt. Demnach wäre jeder der 124 Mitgliedstaaten des Römischen Statuts zu einer Festnahme Netanjahus auf dessen Staatsgebiet verpflichtet. Davor würde ihn auch die Immunität als Staatsoberhaupt Israels nicht schützen.

In der Praxis war das allerdings nicht immer der Fall. So kann der IStGH eine Festnahme durch die Mitgliedsländer nicht erzwingen. Der frühere sudanesische Diktator Umar al-Baschir, gegen den seit 2009 ein Haftbefehl existiert, reiste etwa durch mehrere IStGH- Mitgliedsländer, ohne festgenommen zu werden. Chefankläger Khan ermahnte bereits die Mitgliedstaaten, eine solche Entscheidung des Gerichts mit der gleichen Ernsthaftigkeit zu behandeln, wie sie es in anderen Fällen getan hätten. Dies ist mit Blick auf Deutschland besonders interessant, bekräftigte Bundesjustizminister Buschmann letztes Jahr noch, man würde Wladimir Putin sofort festnehmen, würde dieser deutsches Staatsgebiet betreten.

Das „Deutsche Dilemma“

Im Falle eines ausgestellten Haftbefehls gegen Benjamin Netanjahu stünde die Deutsche Bundesregierung vor einer schwierigen Situation. So müsste Netanjahu bei einem Staatsbesuch in Deutschland verhaftet werden - ein schwerer Affront gegen Israel und mit Hinblick auf die besondere Position Israels innerhalb der deutschen Staatsräson schwer vorstellbar. Dass Deutschland eng an der Seite Israels steht, wenn es um die Verteidigung gegen den Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung geht, ist eine Selbstverständlichkeit und wurde in den vergangenen Monaten immer wieder auf höchster politischer Ebene betont.

Bundeskanzler Olaf Scholz mit Präsident Jitzchak Herzog bei seinem Israel-Besuch im Oktober 2023

Gleichzeitig sollte Deutschland eine mögliche Entscheidung des IStGH nicht ignorieren und somit die Autorität des IStGH untergraben. Von vielen renommierten Völkerrechtlern wie bspw. Kai Amboss wird der IStGH als „Nachfolgegericht von Nürnberg“ bezeichnet. Mit Blick auf die historische Verantwortung Deutschlands gilt es die Integrität und Autorität des IStGH unter allen Umständen zu wahren. Die Bundesrepublik hatte an der Ausarbeitung des Römischen Statuts aktiv mitgewirkt, ist zweitgrößter Beitragszahler des IStGH und setzte sich in der Vergangenheit vehement für eine breite Akzeptanz des IStGH in der Staatengemeinschaft ein. Zugleich hat sich Deutschland zuletzt deutlich hinter den IStGH als unabhängige Institution gestellt und international wiederholt völkerstrafrechtsfreundliche Positionen eingenommen.

Somit wäre es ratsam, dem IStGH nicht just dann die politische Unterstützung vorzuenthalten, wenn es für eigene Verbündete unbequem wird. Regierungssprecher Steffen Hebestreit hatte zuvor auf die Frage, ob sich Deutschland an Entscheidungen des Strafgerichtshofs halten werde, geantwortet: „Ja, wir halten uns an Recht und Gesetz“ und ließ damit eine mögliche Verhaftung Netanjahus im Falle eines Deutschlandbesuchs offen. Deutschland sei „grundsätzlich“ ein Unterstützter des IStGH. Am wahrscheinlichsten wäre es, dass Netanjahu im Fall eines Haftbefehls erst einmal nicht mehr nach Deutschland reisen würde.

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