Im Gespräch mit der EU-Kommissarin Elisa Ferreira im Rahmen der EU Regions Week

„Es ist wichtig, dass wir Kohäsionsmittel nicht als Ausgaben, sondern als Investitionen betrachten.“

, von  Madelaine Pitt, übersetzt von Maria Mitrov

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Im Gespräch mit der EU-Kommissarin Elisa Ferreira im Rahmen der EU Regions Week
Bildrechte: Patricia De Melo Moreira / European Union, 2019 / CC BY-ND Elisa Ferreira, EU-Kommissarin für Kohäsion und Reformen

Madelaine Pitt spricht mit EU-Kommissarin Elisa Ferreira über die aktuelle Kohäsionspolitik in Europa.

Für die EU-Kommissarin für Kohäsion und Reformen ist es ist eine arbeitsreiche Woche. Da die 18. European Week of Regions and Cities momentan vollständig auf soziale Distanz gehen muss, scheint Elisa Ferreira mehr Zeit auf den Bühnen und Bildschirmen der Veranstaltung zu verbringen als außerhalb von ihnen.

Ihre ruhige, leidenschaftliche Art und ihr Engagement haben der ansonsten weitgehend online stattfindenden Konferenz zusätzliche Glaubwürdigkeit verliehen und es Madelaine Pitt von The New Federalist ermöglicht, sie am Ende einer der Sitzungen für ein Gespräch zu gewinnen.

Einmal im Jahr bringt die EU Regions Week in Brüssel Akademiker*innen, Politiker*innen, Journalist*innen und Empfänger*innen von EU-Mitteln zusammen, um über den Politikbereich zu debattieren, der ein Drittel des EU-Haushalts ausmacht: die Kohäsionspolitik. Diese hat maßgeblich zur Entwicklung von Regionen und Städten auf dem gesamten Kontinent beigetragen. Doch die heutigen Herausforderungen bedeuten für Ferreira stetig wachsende Aufgaben: die Unterstützung der Mitgliedstaaten während der Pandemie, die Erleichterung eines grünen Wandels trotz eines durch den Brexit reduzierten Geldtopfs und einem allgemein unzureichenden öffentlichen Bewusstsein gegenüber der EU-Kohäsionspolitik. Ferreira stammt aus Portugal, dem Mitgliedstaat, für den der EU-Kohäsionsfonds den größten Teil der öffentlichen Investitionen ausmacht. Sie hatte bereits jahrzehntelang im Politikbereich gearbeitet, bevor sie unter Ursula von der Leyen zum Mitglied der neuen Kommission nominiert wurde.

Madelaine Pitt, The New Federalist : Noch vor der Coronakrise wurden die wachsenden zwischenregionalen Ungleichheiten von Wissenschaftler*innen und Ökonom*innen, allen voran Thomas Piketty, zunehmend als Anlass zur Sorge genommen. Das ist wohl eine der größten Herausforderungen, vor denen viele fortgeschrittene Demokratien stehen. Welche Bedeutung hat die Kohäsionspolitik für Europa aktuell bei der Bewältigung dieses Problems?

Ferreira: Es konnte in den letzten Jahren bereits eine erhebliche Annäherung zwischen den Regionen erreicht werden, aber Krisensituationen wie diesen können stärkere Regionen besser standhalten als schwächere. Angesichts der aktuellen Krise erwarten wir eine Zunahme der Ungleichgewichte – tatsächlich sehen wir das jetzt schon. Wenn wir uns die wirtschaftliche Seite dieser Krise ansehen, treffen Lockdowns besonders die Regionen, die stärker von physischen Kontakten abhängen – also von Tourismus, Kultur und Industrie. Um eine Erholung zu fördern ist eine Vielzahl von Instrumenten nötig – und diese Annäherung ist historisch. Wir konnten alte Mittel aus den nationalen Umschlägen umarbeiten, um die Coronavirus Response Investment Initiative (CRII) zu bilden und somit unter anderem medizinische Geräte für Krankenhäuser oder digitale Geräte für Schulen zu finanzieren. Das wird zusätzlich bis 2023 um 47,5 Mrd. Euro aus der Kohäsionspolitik ergänzt, in Form von React-EU („Recovery Assistance for Cohesion and the Territories of Europe). Dann ist da noch die Hilfe des mehrjährigen Finanzrahmens, die von 2021 bis 2027 gewährleistet wird. Und zudem wird es noch den Just Transition Fund geben. Ohne auf Details einzugehen: all diese Instrumente bündeln ihre Kräfte zusammen, um eine „Investitions-Bazooka“ zu schaffen! Wir wollen Wachstum stimulieren – aber nicht dasselbe Wachstum wie zuvor.

Die Kohäsionspolitik war in dieser sich rasant entwickelnden Gesundheitskrise sehr hilfreich und flexibel – trotz begrenzter Zuständigkeiten der EU in der Gesundheitspolitik. In mehreren Sitzungen in dieser Woche haben Sie recht optimistisch über das Potenzial von Kohäsionsfonds im Hinblick auf den Klimanotstand gesprochen. Ich würde allerdings behaupten, dass wir bislang noch nicht den Fortschritt gesehen haben, den wir wissenschaftlich brauchen. Sind wir auf dem richtigen Weg, Kohäsionsfonds für unseren Übergang zu einem grüneren Europa einzusetzen, oder sollte sich noch mehr tun?

Ferreira: Wir sind auf dem richtigen Weg, vorausgesetzt, wir beschleunigen die Prozesse, um sie ganz oben auf die Agenda zu setzen. Wir haben wesentliche Pläne, aber dann sind da noch allerlei Verfahren. Wir von der Europäischen Kommission müssen auf die Märkte gehen, um Kredite aufzunehmen. Wir brauchen die Zustimmung der Mitgliedstaaten, und in vielen Fällen müssen sie sich an ihre eigenen Parlamente wenden, um die Genehmigung zu erhalten. Hinzu kommt, dass der Mehrjährige Finanzrahmen noch verabschiedet werden muss, der gemeinsam mit dem Europäischen Parlament diskutiert wird und an den viele Bedingungen geknüpft sind. Die dritte Dimension ist, alle Gesetzestexte fertigzustellen. Morgen werde ich in einem Dialog mit den beiden Mitgesetzgebern [dem Parlament und dem Rat] und mit der Kommission stehen – normalerweise dauert das lange, aber es ist deutlich, dass alle drei Institutionen ihr Bestes geben, um diese Frage abschließend zu klären. Es muss alles gutgehen. Ist das der Fall, sind wir auf dem richtigen Weg.

In den Medien zieht die Kohäsionspolitik hauptsächlich Berichte über den Missbrauch von Geldern an. Dieser Missbrauch ist zwar problematisch, macht jedoch nur einen sehr geringen Teil der Gesamtmittel aus, und daher spiegelt die Berichterstattung nicht die Gesamtheit der Kohäsionspolitik wider. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Ferreira: Das Erste, was ich zu Beginn meiner neuen Arbeit getan habe, war, nach den Zahlen zu fragen für die betrügerische Verwendung von Mitteln aus dem letzten abgeschlossenen Mehrjährigen Finanzrahmen, der 2014 endete – die Zahl lag unter 1%. Das bedeutet jedoch nicht, dass das restliche Geld wie beabsichtigt verwendet wird, da es auch zu Fehlverteilungen oder Verwaltungsfehlern kommt. Allerdings ist das nicht das Bild, das die Öffentlichkeit hat – die hat den Eindruck von massivem Betrug. Wir haben jedoch eine Reihe von Kontrollen – von den Mitgliedstaaten, von der Kommission, vom Rechnungshof – und haben eine Null-Toleranz-Politik für Betrug.

Und was ist mit dem Prinzip der rechtstaatlichen Konditionalität?

Ferreira: Man muss dieses Problem separat betrachten. Bei Betrug geht es darum, keinen Interessenkonflikt zu deklarieren oder zu erfahren, wo das Geld eingegangen ist und warum das Projekt nicht ausgeführt wurde. Rechtsstaatlichkeit ist ein anderes Thema. Da Kohäsionsfonds jedoch aus Steuergeldern stammen, ist jeder Missbrauch ein sehr ernstes Problem, und es ist eine große Verantwortung, es zu bewältigen. Aber es ist die Ausnahme, nicht die Regel – in Ländern wie meinem eigenen Land, Portugal, ist es erstaunlich, wie sehr Fortschritt in quantitativer und qualitativer Hinsicht beschleunigt wurde durch die effektive Verwendung und Verwaltung von Kohäsionsfonds.

In Großbritannien, wo ich herkomme, erhielten einige Regionen wie Cornwall beträchtliche Mittel, stimmten jedoch überzeugt dafür, die Europäische Union zu verlassen. Als die lokalen Behörden die Auswirkungen des Mittelverlusts erkannten, versuchten sie, die nationale Regierung aufzufordern, diese Mittel zu ersetzen. Diese Anekdote unterstreicht das mangelnde öffentliche Bewusstsein für die wichtigen Vorteile eines Landes, wenn es Mitglied der EU ist. Was sollten wir tun, um der Öffentlichkeit ein besseres Verständnis zu ermöglichen – liegt es in der Verantwortung der Medien oder der Kommission?

Ferreira: Es liegt in der Verantwortung aller. Man kann nicht mehr Geld verlangen, wenn eine Krise eintritt, und sich darüber beschweren, dass das für die Entwicklung eingezahlte Geld schlecht investiert wird. Wir müssen die Auswahl von Projekten sehr ernst nehmen. Es muss Transparenz, Rechenschaftspflicht und Einbeziehung aller Beteiligten geben, damit die Menschen von den Projekten überzeugt sein können. Lokale Einrichtungen sind formal und gesetzlich verpflichtet, zu kennzeichnen, wenn EU-Mittel für ein Projekt verwendet worden sind. Wenn sie jedoch über das Projekt sprechen, spielen sie häufig die Rolle der EU unter. Wir brauchen etwas mehr Ehrlichkeit darüber, was Europa tut, zumal Europa nicht allein entscheidet, was eine bestimmte Region braucht – es ist eine Partnerschaft, deshalb haben wir ein Mehrebenensystem, in dem Regionen eine aktive Rolle bei der Zuweisung der Mittel spielen.

Zum zweiten Mal bin ich hier in Brüssel, um über die EU Regions Week zu berichten, und beide Male habe ich viel über die Kohäsionspolitik gelernt. Was ist das Wichtigste, was Sie bei Ihrer Arbeit zu diesem Thema über Kohäsion gelernt haben?

Ferreira: Vom Beruf bin ich Wirtschaftswissenschaftlerin und Universitätsprofessorin und habe fast mein ganzes Leben lang sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht zum Thema Kohäsionspolitik gearbeitet. Es ist wichtig, dass wir diese Mittel nicht als Ausgaben, sondern als Investitionen betrachten. Ich bin hoffnungsvoll und vertraue allen Entscheidungsebenen, aber ich fordere auch die Bürger auf, aktiv die Art von Projekten vorzubereiten, die unser Leben für die nächste Haushaltsperiode der Kohäsionsfonds gestalten werden.

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