Human Rights Matter – Den Rechtsstaat in der EU verstärken

, von  Andrea Cofelice, übersetzt von Lukas Baake

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Human Rights Matter – Den Rechtsstaat in der EU verstärken
Die Kommission wird dazu berechtigt sein, Maßnahmen zu beschließen, die den Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsland entsprechen. Foto: pixabay/Dimitris Vetsikas/Lizenz

Das wichtigste Ergebnis der Sitzung des Europäischen Rates vom 17. bis zum 21. Juli stellt ohne Zweifel das Programm „Next Generation EU“ dar. Es handelt sich dabei um das ambitionierteste gemeinsame Hilfsprogramm in der Geschichte der EU. Allerdings wurde auf der Sitzung des Rats auch eine weitere wichtige Maßnahme in Form eines neuen Mechanismus beschlossen, der in Zukunft dabei helfen kann die Rechtstaatlichkeit in der EU weiter auszubauen.

Obwohl der endgültige Kompromiss, der zur Erzielung eines Konsenses im Europäischen Rat notwendig war, teilweise von dem Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 2018 abweicht, stellt er zweifellos einen Fortschritt beim Schutz und Respekt der Menschenrechte und der Demokratie in der EU dar (Artikel 2, 3 und 13 EUV).

Der neue Mechanismus sieht vor, dass „die Kommission im Fall von Verstößen Maßnahmen vorschlagen wird, die vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden. Der Europäische Rat wird sich rasch mit der Angelegenheit befassen“ (Punkt 23 der Schlussfolgerungen). In anderen Worten: Die Kommission wird dazu berechtigt sein, Maßnahmen zu beschließen, die den Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsland entsprechen. Zu den Maßnahmen könnten die Aufhebung oder Reduzierung der Finanzmittel gehören. Der Rat kann diese Maßnahmen dann mit qualifizierter Mehrheit beschließen. Es handelt sich dabei um eine substanzielle Neuerung, da im Moment noch Einstimmigkeit nötig ist. Aus diesem Grund ist es Ungarn und Polen bis dato gelungen, jede Entscheidung zu blockieren. Dementsprechend kritisieren beide Länder die neuen Beschlüsse stark.

Am Ende wird der Europäische Rat in der Lage sein, die Angelegenheit erneut zu überprüfen, muss jedoch Einstimmigkeit erzielen, um eine Entscheidung der Minister zu ändern. Um die Vorschläge der Kommission abzulehnen, müssen die Staaten von nun an auf Ministerebene „eine blockierende Minderheit“ schaffen oder die Einstimmigkeit der Staats- und Regierungschefs erzielen. Eine Hürde also, die sicherlich höher liegt als die aktuelle.

Der neue Mechanismus ist angelehnt an zwei grundlegende Instrumente, die im Falle einer Verletzung der Rechtstaatlichkeit von dem Vertrag von Lissabon vorgesehen sind (rule of law toolbox). Der erste besteht aus dem Vertragsverletzungsverfahrens, das von dem Rat (oder in seltenen Fällen auch von einem Mitgliedstaat, vgl. Art. 258-260 AEUV) initiiert werden kann. Der zweite ist eher politischer Natur und kann auf Entscheidung von Seiten des Rates dazu führen, dass einem Mitgliedstaat alle durch den Vertrag zugestandenen Rechte, auch das Recht im Rat abzustimmen (vgl. Art. 7 EUV), aberkannt werden. Allerdings wurde der in Artikel 7 vorgesehen Mechanismus noch nie genutzt. Dies kann unter anderem auf interne Differenzen, aber auch auf die Komplexität des Verfahrens selbst zurückgeführt werden. Derzeit laufen lediglich „vorläufige Dialoge“, nachdem die Kommission (2017) gegenüber Polen und das Parlament (2018) gegenüber Ungarn Anträge auf Aktivierung des Verfahrens gestellt hatten.

Herausforderungen durch die Corona-Pandemie

Im Gegensatz dazu kann das Vertragsverletzungsverfahren als vielversprechendes Mittel angesehen werden. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die bisherigen Strafen, die von dem Europäischen Gerichtshof für Verletzungen der Rechtstaatlichkeit, vor allem in Ungarn und Polen, verhängt worden sind. Zuletzt konnte dies in einem Beschluss vom 8. April gesehen werden, in dem der Gerichtshof Polen dazu auffordert, die Maßnahmen zur Disziplinarkontrollen von Richtern aufzuheben.

Bis Anfang des Jahres 2020 richtete sich die Aufmerksamkeit bezüglich der nötigen Einhaltung der Rechtstaatlichkeit innerhalb der EU vor allem auf Ungarn und Polen. Beide Länder haben ab 2011 zunehmend eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt, die die Autonomie wichtiger Institutionen eingeschränkt haben. Darunter auch die der Verfassungsgerichte, des Richteramts, der Presse und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Allerdings weitete sich die Debatte um die Frage der Rechtstaatlichkeit innerhalb der EU mit den beschlossenen Maßnahmen zahlreicher Mitgliedstaaten im Rahmen der Coronapandemie aus. Durch diese wurde die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, inwieweit ein Staat von seinen Pflichten, Grundrechte zu schützen, in einer Notsituation abweichen kann.

Ein Grundprinzip internationaler Menschenrechtsstandards besagt, dass alle Einschränkungen eine Reihe von Kriterien erfüllen muss. Diesen Kriterien zufolge müssen etwaige Einschränkungen gesetzlich geregelt, verhältnismäßig, notwendig, von begrenzter Dauer und national und international überwacht sein. Dies wird auch von der etablierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterstützt.

Eine solche Überwachung auf nationaler und internationaler Ebene ist von großer Bedeutung, da Regierungen dazu neigen, Zwecke zu verfolgen oder Maßnahmen zu ergreifen, die durch die Forderungen der Situation nicht gerechtfertigt sind. Erneut stellt Ungarn einen Extremfall dar: Die Befugnisse, die Premierminister Orbán dank eines Gesetzes erhalten hat, das am 30. März vom Parlament mit großer Mehrheit verabschiedet wurde, scheinen in klarem Gegensatz zur Achtung der Rechtsstaatlichkeit zu stehen. Aber auch in anderen Ländern lassen sich Tendenzen finden, die darauf abzielen, Aspekte der Rechtstaatlichkeit zu komprimieren: Zwischen März und Mai haben Estland, Lettland und Rumänien auf die Europäische Menschenrechtskonvention verzichtet. In den Niederlanden veröffentlichte die beratende Abteilung des Staatsrates im Mai einen Bericht, in dem darauf hingewiesen wurde, dass die durch Regierungsverordnungen auferlegten Beschränkungen nicht der in der Verfassung vorgeschriebenen Rechtsgrundlage entsprechen. Auch der französische Verfassungsrat hat zwei „Teilzensuren“ des Gesetzes zur Ausweitung des Gesundheitszustands verabschiedet, da dies den individuellen Freiheiten keine ausreichenden Garantien bieten würde.

In diesem Kontext wurde bisher keine der in der „rule of law toolbox“ vorgesehenen Maßnahmen aktiviert. Der Rat hat sich an dieser Stelle erneut unfähig gezeigt, auf den Mechanismus von Artikel 7 zurückzugreifen. Die Kommission selbst hat lediglich die Möglichkeit angesprochen, auf das Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn zurückzugreifen.

Neue Hoffnung und alte Sorgen


Allerdings könnte ein neuer Mechanismus die Effektivität einer europäischen Antwort vergrößern. Für September wurde die Veröffentlichung des ersten Berichts über die Rechtstaatlichkeit der Kommission erwartet. Es handelt sich dabei um ein Instrument der allgemeinen und regelmäßigen Kontrolle, die der Kommission und dem Rat als solide Grundlage dienen kann, um Artikel 7 aktivieren und ein mögliches Vertragsverletzungsverfahren zu initiieren. Dadurch könnte den Vorwürfen der Selektivität und Politisierung, die die Legitimität des gegenwärtigen Systems untergraben, entgegengetreten werden. Der erste Bericht richtet sich vor allem auf die Maßnahmen die im Rahmen der Covid-19-Pandemie ergriffen wurden.

Die Debatte um die Wahrung der Rechtstaatlichkeit in der EU ist nicht auf die institutionelle Ebene beschränkt, sondern findet auch in der weiteren Öffentlichkeit Beachtung. Dies wird durch eine Ende Juni von der EU-Agentur für Grundrechte veröffentlichte Umfrage bestätigt: Etwa 9 von 10 Befragten (aus einer Stichprobe von 35.000 Bürgern der 27 Mitgliedstaaten) erklären, dass der Schutz der Menschenrechte und die Achtung demokratischer Grundsätze wichtig seien. Den Befragten zufolge, würden sie dazu beitragen, gerechtere Gesellschaften zu schaffen. Andere Zahlen sind weniger beruhigend: fast 70% der Befragten glauben, dass einige einen unfairen Vorteil aus dem Schutz der Menschenrechte ziehen. Ein Viertel sagte sogar, dass sich die Richter in ihrem eigenen Land nur selten oder sogar nie dem Einfluss der Regierung entziehen könne. Besonders besorgniserregend ist dabei die Orientierung der jungen Bevölkerung (zwischen 16 und 29 Jahren): fast die Hälfte findet es in Ordnung, auf Korruption in kleinem Maßstab (kleine Geschenke oder Gefälligkeiten) zurückzugreifen, um eine öffentliche Dienstleistung zu erhalten oder einen Vorgang zu beschleunigen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es allein durch die Verstärkung der bereits bestehenden Kontrollmechanismen und eine adäquate Umsetzung der rechtstaatlichen Grundsätze möglich sein wird, wirksam auf die Bedenken und Forderung der europäischen Bürger zu reagieren. Allein dadurch kann der Weg zu einer gerechten europäischen Integration beschritten werden.

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