„Gift für den Kontinent“

Warum die Europäischen Fonds nicht dazu genutzt werden sollten, Mitgliedsstaaten zu sanktionieren, die ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind.

, von  Laurin Berresheim, Ninon Lagarde, übersetzt von Patrick Geneit

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„Gift für den Kontinent“
Ein Projekt des Europäischen Strukturfonds in Ostrołęka, Polen. © Piotrek91 / Wikimedia Commons / CC 3.0-Lizenz

Im Kontext der aktuellen Diskussionen über den nächsten sogenannten mehrjährigen Finanzrahmen der EU (MFR) wurde mehrmals der Vorschlag eingebracht, die europäische Finanzierung von Mitgliedsstaaten zu kürzen, die die europäischen Werte nicht respektieren. Welche Gründe sprechen gegen ein solches Unterfangen? Eine Übersicht.

Der MFR – ein wilder Kampf

Seitdem die Mitgliedsstaaten über den MFR zu diskutieren angefangen haben ist ein wahrer Kampf ausgebrochen. Der „mehrjährige Finanzrahmen“ legt für die unterschiedlichen Aktionsbereichen und -ressorts der Europäischen Union die genauen Geldsummen sowie ihre Verwendung fest. Der aktuelle MFR endet im Jahr 2020, die Vorbereitung der nachfolgenden Haushaltsperioden hat schon begonnen. In diesem Zusammenhang hat sich eine Diskussion darüber entfacht, ob die europäischen Fonds auch als Sanktionsmaßnahme verwendet werden können - um Mitgliedstaaten, die nicht komplett die europäischen Werte einhalten, die im Artikel 2 des EU-Vertrages (EUV) definiert sind, zu sanktionieren. Die JEF Europa hat vor Kurzem eine billigende Position mit Hinblick auf potenzielle Sanktionen herausgegeben, die in deren Pressemitteilung über den nachfolgenden MFR veröffentlicht wurde. Diese Idee, Fonds zu kürzen, ist bereits mehrmals vorgeschlagen worden, insbesondere im Bezug auf die mögliche Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn. Günther Oettinger, europäischer Haushaltskommissar, kündigte an, der Idee nicht abgeneigt zu sein. Auch die deutsche Regierung schlug in einem Orientierungspapier zur Zukunft der europäischen Kohäsionspolitik vor, die Kommission solle sich mit der Abhängigkeit der Fondzahlungen von der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit befassen.

Was spricht gegen diese Idee?

Erstens würde die Aussetzung der Zuweisung von europäischen Geldmitteln ungerechterweise bestimmte Personen benachteiligen. Im Falle der Kohäsionspolitik beispielsweise, dienen die Gemeinschaftsfonds dazu, bestehende Unterschiede zwischen unterschiedlichen Regionen zu reduzieren. Des Weiteren zielen sie darauf ab, die am wenigsten geförderten Regionen zu unterstützen. Diese wären die Leidtragenden, sollten deren Geldmittel ausgesetzt werden. Die Bürger dieser Regionen würden für das Verhalten ihrer nationalen Regierungen bestraft werden. Es wäre ungerecht, Geldmittel für den Bau von Autobahnen oder für die Finanzierung von Forschungsprojekten zum Gemeinwohl der polnischen Bürger einzufrieren, nur weil deren Regierung kontroverse Gesetze verabschiedet hat, die das Justizsystem verändern. Zweitens würde das Einfrieren europäischer Geldmittel antieuropäische Stimmungen anheizen. Es wäre nicht schwer für die nationalen Regierungen, durch diese Sanktionen die EU zum Sündenbock zu machen. So wie sich die Auswirkungen der Sanktionen direkt auf der lokalen Ebene bemerkbar machen würden, würden solche Vorwürfe an die EU sofort ein großes Echo auslösen. Außerdem würden einige Länder wie Polen oder Ungarn, die abhängiger von Strukturfonds sind, stärker von solchen Prozessen getroffen als Länder wie die Niederlande oder Österreich. Das Gefühl, ungleich behandelt zu werden, würde unausweichlich entstehen. Und auch der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker merkt zurecht an, dass die Aussetzung europäischer Geldmittel die Europäische Union teilen würde und somit Gift für den Kontinent wäre.

Alternativen finden (1): politische Sanktionen

Es existiert bereits ein Sanktionsmechanismus für Mitgliedsstaaten, die europäische Werte wie die Rechtsstaatlichkeit nicht einhalten. Dieser Mechanismus wird im Artikel 7 des EUV beschrieben: Wenn die Europäische Kommission in einem begründeten Vorschlag anmerkt, dass es ein „klares Risiko einer schwerwiegenden Verletzung“ oder eine „schwerwiegende und andauernde Verletzung“ europäischer Werte vorliegt, kann der Europäische Rat entscheiden, ein Verfahren einzuleiten, welches zu einer Aussetzung bestimmter Rechte von Mitgliedsstaaten führen kann, unter Anderem das Wahlrecht der Vertreter des Mitgliedsstaates im Europäischen Rat.

Dieses Verfahren wurde bereits nach der geplanten Reform des Justizsystems in Polen durch einen Antrag der Kommission in Gang gesetzt. Darüber hinaus, bereitet das Europäische Parlament gerade einen Bericht vor, der die Möglichkeit einer Anfrage an die Kommission prüfen soll, dieses Verfahren auch auf Ungarn anzuwenden. Man muss zugeben, dass dieses Verfahren sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, um in Gang gesetzt zu werden und dass mehrere Schwellen dafür überschritten werden müssen (es ist z. B. erforderlich, dass der Europäische Rat einen einstimmigen Entschluss fasst). Aber bedeutet das, dass es keinen Nutzen bringt? Keinesfalls! Politische Sanktionen sind viel effektiver darin, direkt die nationalen Regierungen zu treffen, die für die Verletzungen europäischer Werte verantwortlich sind. Es ist nicht garantiert, dass ein zusätzlicher Mechanismus einfacher zu implementieren wäre. Durch den Fakt, dass die Mitgliedsstaaten sich darüber zuerst auch einigen müssten, wären die Schwellen zu einer gemeinsamen Lösung wohl genauso hoch. Anstatt nach zusätzlichen Mitteln zu suchen, sollten wir lieber darüber nachdenken, das bestehende Verfahren zu verbessern.

Alternativen finden (2): Den Europäischen Gerichtshof einbinden

Eine andere Alternative für das sperrige Verfahren des Artikel 7 wäre eine Einbindung des Gerichtshofs. Dieser hat bereits die Kompetenz, einem Mitgliedsstaat finanzielle Sanktionen im Rahmen eines Vertragsverletzungsprozesses (VVP) zu verhängen. Das Urteil über eine potentielle Verletzung der europäischen Werte wäre ein anderes Verfahren als ein VVP – dieses wird in Gang gesetzt, wenn ein Mitgliedsstaat seine nationale Judikative der europäischen nicht richtig anpasst. Ein neuer Ansatz wäre nötig, um dem Gerichtshof die Möglichkeit zu geben, sich mit Blick auf Artikel 2 äußern zu dürfen. Beispielsweise könnten viele Prozesse bei einer Vertragsverletzung neugeordnet werden, um (wie die Professorin Scheppele nennt), einen „systematischen VVP“.

Den Gerichtshof einzubinden würde den Vorteil bringen, potentiellen politischen Behinderungen aus dem Weg zu gehen, da kein einstimmiger Entschluss nach Artikel 7 mehr nötig wäre. Der Gerichtshof könnte als unabhängiger Akteur fungieren, außerhalb von politischen Interessen. Außerdem könnte dieser Bußgelder verhängen, sofern eine Verletzung des Artikels 2 festgestellt würde. Diese Lösung – im Gegensatz zur Aussetzung der Gemeinschaftsfonds – träfe direkt die Regierungen.

Stopp der Zwietracht!

Die Uneinigkeit der Länder in der Europäischen Union ist in den letzten Jahren angestiegen. Rechtspopulistische Parteien werden immer beliebter und versuchen, die Einheit Europas zu schwächen. Sie haben es sogar vollbracht, Großbritannien aus der Union austreten zu lassen. Gleichzeitig wird der Mangel an Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten deutlich, wie es die Reaktion auf die Flüchtlingsbewegung, die Wirtschaftskrise, oder auch die getroffenen Entscheidungen im Rahmen der Sicherung der Energieversorgung (siehe Nord Stream II) gezeigt haben. Ohne Zweifel ist das Wort „Solidarität“ praktisch aus der öffentlichen Debatte in Europa verschwunden.

Um zu den Sanktionen zurückzukehren, hat das Europäische Parlament einen Beschluss gefasst, die Kommission anzurufen und diese einen Dialog mit d-er maltesischen Regierung über den Rechtsstaat einzuleiten und eine Diskussion über den Rechtsstaat in Polen im Verlauf der letzten Plenarsitzung im November abzuhalten. Parallel bereitet der LIBE-Ausschuss einen Bericht vor, der potentiell eine Anfrage zu einem Verfahren zur Wiederherstellung des Rechtsstaats in Ungarn einleiten würde. Das Spiel der gegenseitigen Anschuldigungen hat angefangen. Wir Autoren dieses Artikels glauben, dass ein zusätzlicher Sanktionsmechanismus dieses gefährliche Spiel nur noch weiter anheizen würde. Wir ermutigen daher die JEF Europa dazu, nicht bei diesem Spiel mitzumachen und an Alternativen zu denken, die besser das Einhalten europäischer Werte in der EU bewahren würden.

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