Genauso gespannt, wie wir im Frühjahr dieses Jahres nach Paris oder Den Haag geschaut haben, als dort gewählt wurde, werden unsere europäischen Partner am 24. September auf uns blicken. Denn die politischen Weichen, die heute ein EU-Mitgliedsstaat stellt, wirken sich morgen auf die anderen EU-Mitglieder aus. Europapolitik entsteht längst nicht mehr nur in Brüssel, sondern auch in den europäischen Hauptstädten und in den Regionen und Kommunen. Als wirtschaftlich stärkstes und bevölkerungsreichstes Land der EU trägt Deutschland eine besondere Verantwortung für die Zukunft Europas.
„Mehr Europa“ ist kein frommer Wunsch, sondern rationale Notwendigkeit. Denn die politischen Herausforderungen sind zu groß, um ihnen alleine begegnen zu können: Klimakrise, Terrorismus, Flucht, Entwicklung, Digitalisierung, Sicherheit, Steuerbetrug. Um sie zu bewältigen, brauchen wir eine starke europäische Demokratie, handlungsfähige Gemeinschaftsinstitutionen und den Willen zur Zusammenarbeit.
Wir kämpfen aber auch für Europa, weil wir die Europäische Union als einzigartiges Friedensprojekt erhalten möchten. Sie hat Deutschland und Frankreich nach endlosen Kriegen zu engen Partnern gemacht, Millionen Menschen zusammengebracht, die früher durch den Eisernen Vorhang getrennt waren, und ein vereintes Deutschland ermöglicht. Heute prägt die EU unser Leben. Wir lernen, lieben, studieren und arbeiten in Paris oder Prag, haben Freundinnen und Freunde in Madrid oder Warschau. Wir reisen, ohne an Grenzposten Schlange zu stehen oder Geld umtauschen zu müssen.
Aber dass dies in Europa auch so bleibt, ist bei weitem keine Selbstverständlichkeit. Mit Sorge betrachten wir, dass rückwärtsgewandte und nationalistische Kräfte an Unterstützung gewinnen. Leider gibt es mit der AfD inzwischen auch in Deutschland eine Partei, die sich in diesen Reigen einreiht – und damit bei Wahlen Erfolge erzielt. Doch auch im politischen Mainstream werden nationale Versäumnisse und eigene Fehlentscheidungen gerne mit einer Schuldzuweisung an „Brüssel“ übertüncht.
Gefragt sind jetzt mutige Pro-Europäerinnen und Europäer. Und von denen gibt es viele: Mit der Bewegung „Pulse of Europe“ gehen sie auf die Straße. In Rumänien oder Polen kämpfen sie gegen Korruption und für Pressefreiheit und Frauenrechte. In Frankreich, den Niederlanden und Österreich haben mit Emmanuel Macron, Jesse Klaver und Alexander van der Bellen drei überzeugte Europäer großartige Wahlerfolge erzielt. Wir Grüne stehen an der Seite derjenigen, die für ein starkes Europa der offenen Gesellschaften eintreten. Wir glauben, dass nicht Abschottung und nationales Klein-Klein, sondern ein konstruktives Miteinander der richtige Weg im 21. Jahrhundert ist.
Zukunftsfähig ist ein starkes Europa dann, wenn es den Mut hat, nötige Reformen anzupacken. Die EU muss zur Vorreiterin für umwelt- und klimafreundliches Wirtschaften werden. Mit dem Rückzug von Donald Trump aus dem Pariser Klimaabkommen müssen wir Europäer nun erst recht die Führungsrolle beim Retten unseres Planeten übernehmen. Wir brauchen eine EU-weite Industriestrategie, die auf Ressourcen- und Energieeffizienz, Digitalisierung, Zukunftstechnologie und Kreislaufwirtschaft setzt. Emissionsfreie Mobilität muss zum europäischen Projekt werden. Das ist nicht nur für unser Klima gut, sondern macht auch die europäische Wirtschaft wettbewerbsfähig für die Zukunft.
Die Zeit der einseitigen Sparpolitik in Europa ist vorbei. Jetzt muss es um sozial gerechte und ökologisch sinnvolle Zukunftsinvestitionen gehen. Darum wollen wir Grüne einen Zukunftsfonds im EU-Haushalt schaffen, der mittels öffentlicher Investitionen die öko-soziale Modernisierung der europäischen Wirtschaft vorantreibt. Alle EU-Staaten, die entschlossen gegen aggressive Steuervermeidung und Steuerhinterziehung vorgehen, sollen sich am Zukunftsfonds beteiligen können. Wir möchten den EU-Investitionsfonds aufstocken und einen Risiko-Kapitalfonds für europäische Start-ups schaffen. Damit stärken wir nicht nur die Eurozone, sondern den Zusammenhalt aller künftig 27 Mitgliedstaaten.
Ein starkes Europa steht zu seinen Werten, auch im Umgang mit denen, die zu uns flüchten. Um das Sterben im Mittelmeer zu beenden, braucht es eine gemeinsame Seenotrettungsmission der EU-Mitgliedsstaaten. Damit sich Menschen gar nicht erst in die lebensgefährlichen Boote der Schlepper begeben, müssen wir endlich legale und sichere Zugangswege für politisch Verfolgte und andere Schutzsuchende schaffen. Ebenso wichtig ist es, mit der viel beschworenen Bekämpfung von Fluchtursachen endlich ernst machen. Wir wollen einen Grünen Zukunftspakt mit den Ländern in Afrika, der gemeinsam erarbeitet wird und der die Agenda der Afrikanischen Union unterstützt.
Es kommt jetzt darauf an, Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zurückzugewinnen und die europäische Demokratie zu stärken. Deutsche Europapolitik muss transparent und für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein. Das direkt gewählte Europäische Parlament sollte der zentrale Ort aller europäischen Entscheidungen werden. Gleichzeitig sollen die nationalen Parlamente Europapolitik aktiv mitgestalten und ihre jeweiligen Regierungen in Europafragen kontrollieren.
Die Europäische Union ist kein abstraktes Konstrukt. Sie wird von den Bürgerinnen und Bürgern gemacht. Mit dieser Bundestagswahl bestimmen Sie nicht nur, welche Richtung unser Land nimmt, sondern auch wohin Europa steuert. Wir sind überzeugt davon, dass wir Kurs auf ein starkes Europa nehmen müssen. Denn von weniger Europa hat niemand mehr.
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