Am 13. September 2022 flammte der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut auf. Der Angriff wurde als neue, kritischere Phase des Konflikts eingestuft, da dieses Mal das Kernland Armeniens von Aserbaidschan militärisch angegriffen wurde. Bis zum heutigen Zeitpunkt starben bei den erneuten Auseinandersetzungen über 280 Soldaten , und tausende Armenier*innen flohen aus den betroffenen Gebieten. Die aktuellen Kämpfe beruhen auf dem altbekannten Konflikt über den Status der Berg-Karabach Region. Seit 2020 zählt das umstrittene Territorium nach internationalem Recht zu Aserbaidschan. Allerdings hat sich das mehrheitlich von Armenier*innen bewohnte Gebiet 1991 von Aserbaidschan losgesagt. Seit der Unabhängigkeitserklärung argumentiert Armenien, dass die Berg-Karabach Region auf Basis des internationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker zu Armenien gehören sollte. Aserbaidschan bezieht sich zugleich auf das internationale Recht der territorialen Unversehrtheit, um das Gebiet für sich zu beanspruchen. Trotz des Engagements externer Parteien , wie unter anderem Russland, den USA und Frankreich, konnte bis heute keine dauerhafte Friedenslösung im Konflikt erzielt werden.
Interessen und Macht: Einfluss des russischen Angriffskriegs in der Ukraine
Dass der ethno-territoriale Konflikt vor Kurzem wieder zurück in die öffentliche Debatte gerückt ist, liegt nicht allein am Wiederaufflammen der Gewalt. Der Konflikt wird wieder verstärkt diskutiert, da es scheint, als würde eine Interessen- und Macht- Verschiebung unter den externen Friedensvermittlern stattfinden. In vorherigen Jahrzehnten waren vor allem Russland, Frankreich und die USA im Rahmen des OSZE – Minsk Formats als Friedensvermittler aktiv. Die Minsk-Gruppe OSZE wurde 1992 gegründet, um eine friedliche Verhandlungslösung für den Konflikt zwischen um Berg-Karabach zu fördern. Den gemeinsamen Vorsitz der inzwischen als Minsk-Prozesse bekannten Verhandlungen führen Frankreich, die Russische Föderation und die Vereinigten Staaten. Die EU wurde hingegen der Passivität bezichtigt. Vertreter der EU argumentierten stets, dass die Union die OSZE in ihren Bemühungen unterstützen und sich deshalb mit direkten Eingriffen zurückhalten würde. Aktuelle Gegebenheiten, wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Gaspreiskrise , könnten jedoch bewirken, dass sich die EU zukünftig mehr für Friedensverhandlungen im Kaukasus engagieren wird. Ein Anzeichen dafür ist bereits die Stationierung einer zivilen Grenzbeobachtungs- und Überwachungsmission der EU auf armenischer Seite der international anerkannten Grenze zwischen den beiden Kriegsbeteiligten von Oktober bis Dezember 2022.
Russland scheint aktuell seine starke Präsenz und Vermittlerposition in der Auseinandersetzung zu verlieren. Seit 1991 unterstützt Russland Armenien. Moskau stationierte eigene Militärbasen in Armenien, unterhält enge Handelspartnerschaften mit dem Land und leitet die Organisation für kollektive Sicherheit (OVKS), in welcher auch Armenien Mitglied ist. Aufgrund der Ukraineinvasion erscheint Russland in seiner Vermittlerposition im Berg-Karabach Konflikt jedoch geschwächt. Grund dafür ist wahrscheinlich, dass Russland auf unerwarteten ukrainischen Widerstand gestoßen ist und deshalb wichtige Kampfgruppenleiter aus Armenien und Berg-Karabach abziehen und in die Ukraine schicken musste. Der aserbaidschanische Angriff auf armenisches Staatsterritorium, in dem russisches Militär stationiert ist, wird als Zeichen interpretiert, dass Aserbaidschan die russische Schwäche erkannt hat und die neue Situation austestet. Zudem ignorierten beide Kriegsparteien die aktuellen russischen Waffenstillstandsversuche, was als Zeichen der Schwächung Russlands interpretiert wird.
Auch die OSZE scheint Probleme zu haben, ihre Friedensverhandlungsmacht aufrecht zu erhalten. Obwohl sie bereits im Oktober 2022 Friedensdiskussionen im Minsk-Format initiierte, wird die Erfolgsperspektive dieser Bemühungen international hinterfragt. Dies wird unter anderem mit dem stark strapazierten Verhältnis zwischen dem Westen und Russland begründet. Weiterhin beanstandet Aserbaidschan zunehmend, dass das Minsk Format ‚armenien-freundlich‘ sei, da alle das Format leitenden Staaten einzelstaatlich Armenien unterstützen. Das Format hätte seit Aserbaidschans Wiedereroberung der Berg-Karabach Region in 2020 zudem kein Mandat zur Friedenslösung mehr. Die Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Russland auf der einen und den USA und Frankreich auf der anderen Seite, sowie die Aberkennung der Unparteilichkeit und der Friedensverhandlungsberechtigung seitens Aserbaidschans untergraben aktuell ein geschlossenes Auftreten und den Einfluss des Minsk Formats.
Dilemma für die Europäische Union: Handeln oder Verhandeln
Der aktuelle Krieg in der Ukraine sowie die Schwächung der OSZE bieten der EU Raum, ihre Friedensvermittlungsrolle auszubauen. Aufbauend auf der Europäischen Nachbarschaftspolitik (EnP) und der Östlichen Partnerschaft unterhält die EU zunehmend stärkere Beziehungen mit Aserbaidschan und Armenien und strebt eine Annäherung der beiden Staaten an die EU-Grundwerte an. Weiterhin sind sowohl die beiden Staaten als auch die EU daran interessiert die wirtschaftlichen Partnerschaften zu festigen und dadurch die Integration Armeniens und Aserbaidschans in den europäischen Wirtschaftsraum zu vertiefen. Durch in den Partnerschaftsverträgen vereinbarte Reformen des juristischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems in Armenien und Aserbaidschan, sowie verstärken Handel konnte die EU signifikanten Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kooperationspartner nehmen. Aufgrund regierungspolitischer Reformen und damit verbundenen Förderungen und Stärkungen des demokratischen Systems in Armenien (‚Samtene Revolution‘) hat sich das Land seit 2018 immer stärker und im schnellen Tempo an die EU-Grundwerte angepasst. Gleiches kann im Hinblick auf Aserbaidschan, das aktuell als harte Autokratie klassifiziert wird, jedoch nicht beobachtet werden. Aserbaidschan, das keinen innerpolitischen Druck zum Systemwechsel hat und sich weiterhin durch seine Energieressourcen gegenüber der EU in der Machtposition sieht, ist aktuell eher fern vom EU-Wertesystem. Trotz der unterschiedlichen Fortschritte Aserbeidschans und Armeniens hinsichtlich der Umsetzung der EnP-Reformen bieten die Verträge der EnP und der Östlichen Partnerschaft eine gute Basis für die EU in engeren Kontakt mit den beiden Kriegsparteien zu treten und die Friedensverhandlungen über die Berg-Karabach Region zu fördern.
Von einem Erfolg eines verstärkten EU-Friedensengagement kann jedoch derzeit nicht ausgegangen werden. Zum einen untergräbt die fehlende Militärpräsenz der EU ihre Friedensverhandlungsposition im Vergleich zu anderen Vermittlern, wie zum Beispiel Russland. Des Weiteren verkompliziert die aktuelle EU-Energiekrise eine Einflussnahme der EU. Aufgrund der Probleme mit russischen Gaslieferungen versucht die EU ihre Gaslieferanten zu diversifizieren. Aserbaidschan liefert seit langem Gas an die EU und stellt deshalb eine gute Verlagerungsmöglichkeit dar. Damit die Energiepartnerschaft jedoch verstärkt werden kann, muss sich die EU für gute Beziehungen mit Aserbaidschan einsetzen. Verstärktes Engagement im Berg-Karabach Konflikt könnte die energiepolitischen Ambitionen der EU gefährden. Zuletzt könnte ein verstärktes Auftreten der EU auch das bereits strapazierte EU-Russland-Verhältnis nachhaltig schädigen. Russland bezichtigte die EU bereits während der Stationierung der zivilen Mission von September bis Dezember 2022, Russland aus dem Südkaukasus verdrängen zu wollen.
Der Altkonflikt um die Berg-Karabach Region bleibt ein hochkomplexes Streitthema auf internationaler Ebene. Das Zusammentreffen multipler Interessen von Konfliktparteien und externen Friedensvermittlern verkompliziert eine Antizipation möglicher Kriegsauswege. Wie die EU sich in Zukunft verhalten wird, bleibt abzuwarten. Zu hoffen ist, dass wirtschaftliche Interessen das EU-Friedensengagement nicht untergraben werden. Dies ist jedoch auch von der zukünftigen Entwicklung des Ukrainekriegs und der europäischen Energiekrise abhängig.
Kommentare verfolgen: |