Auch bei uns persönlich war noch vieles anders: Wir beide studierten damals in Maastricht, der Geburtsstadt der Verträge, die für die EU prägend sein sollten. Im Frühjahr 2019 stand die Wahl zum Europäischen Parlament an und das war im Studiengang „European Studies“ natürlich ein großes Thema. Im Theater in Maastricht fand eine große Debatte zur Europawahl statt und eingeladen waren alle Spitzenkandidat*innen der großen europäischen Parteien. Die europäischen Parteien hatten durchaus Schwergewichte ausgewählt, vor allem der Sozialdemokrat Frans Timmermans und die Liberale Margrethe Vestager hatten sich in pro-europäischen Kreisen durchaus einen Namen gemacht. Wir beide hatten den Eindruck, dass sich die europäische Demokratie verfestigte und eine*r der Spitzenkandidat*innen auf der Bühne in Brüssel ins Berlaymont-Gebäude einziehen würde.
Die Umgehung des Spitzenkandidierenden-Prinzips
Am Ende kam jedoch alles anders. Zwar wurde die Europäische Volkspartei (EVP) die stärkste Kraft bei der Europawahl, jedoch störten sich die Staats- und Regierungschef*innen an der fehlenden Regierungserfahrung von Manfred Weber, dem Spitzenkandidaten der EVP. Nach einigem Hin und Her wurde die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf den Posten der Kommissionspräsidentin gehievt. Ausgerechnet von der Leyen, die uns beiden nicht wegen ihres Engagements für Europa oder aufgrund ihrer effizienten Regierungsführung bekannt war – gab es doch einige Anschuldigungen wegen unklar vergebener Beratungsverträge. Nachdem wir beide viel Hoffnung in die europäische Demokratie und das Prinzip der Spitzenkandidat*innen gesetzt hatten, trübte dieser Akt exekutiver Arroganz seitens der europäischen Regierungschef*innen unsere Aussichten. Doch auch Ursula von der Leyen selbst war wohl bewusst, dass ihre Nominierung ein politischer Affront war und so bemühte sie sich sichtlich darum, für ihre Politik zu werben. Sie konnte damit eine knappe Mehrheit von 383 Abgeordneten auf ihre Seite ziehen – 374 Stimmen waren für eine Mehrheit nötig gewesen. Als erste Frau an der Spitze der EU-Kommission entschied sie sich schließlich für eine paritätische Besetzung des „College of Commissioners“ und holte die beiden Spitzenkandidierenden Vestager und Timmermans in ihr Team, die von ihren jeweiligen nationalen Regierungen nominiert wurden.
Who do you call? Von der Leyen!?
Trotz ihres holprigen Starts an der Spitze der EU-Kommission und ihrer fehlenden demokratischen Legitimation, hat die Politikerin es geschafft, eine wichtige Stimme auf dem internationalen Parkett zu werden: Vor allem der politische Handlungsbedarf als geeinte Union aufgrund der COVID-Krise und der russischen Aggression gegen die Ukraine haben die Europäische Kommission und ihre Präsidentin in eine Schlüsselrolle katapultiert. Auf die berühmte Frage des ehemaligen US-Außenministers Henry Kissinger „Wen rufe ich an, wenn ich Europa anrufen möchte?“, scheint Ursula von der Leyen momentan die offensichtliche Wahl zu sein.
Doch was konnte die EU-Kommission in den vergangenen fünf Jahren konkret umsetzen? Mit dem Titel einer „Union, die mehr erreichen will“, startete sie ihre politische Agenda im Jahr 2019. Sie versprach viel: einen Europäischen Green Deal, eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion oder auch einen europäischen Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Doch welche dieser Versprechungen konnte sie wirklich halten? Welche Initiativen und Gesetzespakete hat die EU in der vergangenen Legislaturperiode verabschieden können und wo scheiterte die Agenda der EU-Kommission und warum? Für diese Bilanz legen wir in einer Mini-Serie die Arbeit der EU-Kommission in den folgenden Bereichen unter die Lupe:
- Wirtschaft und Digitales
- Außenpolitik und Erweiterung
- Klimaschutz / European Green Deal
- Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
- Migration und Asyl
Entgegen der Situation im Jahr 2019 wird Ursula von der Leyen dieses Jahr wohl als Spitzenkandidatin der EVP antreten. In ihrer Rolle als Wahlkämpferin muss sie die Wähler*innen von sich überzeugen und für die Wahl von konservativen, nationalen Parteien der EVP werben. Laut aktuellen Umfragen wird ihre Parteienfamilie wohl auch stärkste Kraft bleiben. Es bleibt zu hoffen, dass die Wähler*innen in ganz Europa die Spitzenkandidierenden wahrnehmen und sich auch die Staats- und Regierungschef*innen nach der Wahl an die demokratischen Spielregeln halten werden!
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