Im Gespräch mit Jacqueline Mayen

Frauen im Kolonialismus: ein Stadtrundgang durch Berlin

, von  Hannah Luisa Faiß

Frauen im Kolonialismus: ein Stadtrundgang durch Berlin
Das Afrikanische Viertel in Berlin ist ein „sehr großflächiger Beweis dafür, dass Deutschland sehr, sehr konkrete Pläne hatte, die Kolonien zu behalten und zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückzuerobern“, so Jacqueline Mayen. Foto: Flickr / Ingolf / CC BY-SA 2.0

Deutschlandweit tragen Städte heute Spuren von Kolonialzeit und -verbrechen. In Berlin organisieren Vereine wie Berlin Postkolonial kolonialkritische Stadtrundgänge, die solche Hinweise offenlegen. Jacqueline Mayen ist eine der Referent*innen, die diese Rundgänge leitet – mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Rolle von Frauen im Kolonialismus. Im Gespräch erzählt die Kulturanthropologin, welche besondere Rolle Frauen zukam, wo sich Kolonialismus in der heutigen Sprache wiederfindet und wie jede*r Einzelne zur Dekolonialisierung von Städten und Gedankengut beitragen kann.

Seit mehreren Jahren arbeitet Jacqueline Mayen freiberuflich in der antirassistischen und rassismuskritischen Arbeit und setzt sich insbesondere mit Diskriminierungskritik, Postkolonialismus und Schwarzem Empowerment auseinander. Regelmäßig führt sie in Stadtrundgängen durch Berlin und macht auf oft übersehene Spuren der deutschen, kolonialen Vergangenheit aufmerksam. Da das Gespräch vor der gewaltsamen Tötung an George Floyd und den daraufhin stärker werdenden Black Lives Matter Protesten geführt wurde, wird hierauf im Gespräch kein Bezug genommen.

treffpunkteuropa.de: Die Stadtrundgänge zeigen nicht nur koloniale Spuren auf, sie fokussieren sich auch explizit auf eine weibliche Perspektive. Wie kam es zur Entstehung der Rundgänge?

Jacqueline Mayen: Geschichte, so wie wir sie im deutschen oder im europäischen Raum lernen, gibt meistens Perspektiven von weißen, heteronormativ-geprägten Männern wider. Diese Perspektiven wollten wir ändern. Wir wollten Geschichte aus einer Schwarzen, feministischen Perspektive erzählen oder reflektieren - und dabei auch nochmal spezifisch den Fokus auf die Rolle der Frauen werfen. Und wenn ich von Frauen rede, meine ich eben nicht nur weiße Frauen als Täterinnen oder Komplizinnen, sondern auch die Rolle und Funktion von Schwarzen Frauen beziehungsweise afrikanischen Frauen, die kolonisiert wurden, die ebenso Bestandteil antikolonialer Widerstandsgeschichte sind, aber auch Bestandteil ihrer Landesgeschichte.

Berlin Postkolonial e.V. bietet schon seit über zehn Jahren kolonialkritische Stadtrundgänge in Berlin an. Vor fünf oder sechs Jahren kam eine Freundin und Kollegin auf mich zu und fragte, ob ich Interesse hätte Stadtrundgänge mit einer genderspezifischen Perspektive zu geben. Dann habe ich, zuerst mit meiner Kollegin und dann später alleine, angefangen, den Stadtrundgang „Frauen im Kolonialismus“ zu konzipieren.


Stadtrundgänge in Berlin

Wie werden die Stadtrundgänge angenommen?

Als ich um 2015 angefangen habe, habe ich so zwei Stadtrundgänge im Jahr gegeben. Mittlerweile gebe ich alle zwei Monate oder gar jeden Monat einen Stadtrundgang. Es gibt einmal die Möglichkeit Stadtrundgänge zu buchen, was die meisten meiner Stadtrundgänge ausmacht. Bildungseinrichtungen, NGOs oder andere Institutionen schreiben mich an, weil sie sich im Unterricht, in ihren Fortbildungskontexten oder bei Projektschwerpunkten mit deutscher Kolonialgeschichte auseinandersetzen. Über Berlin Postkolonial e.V. oder Mund-zu-Mund-Empfehlung stoßen Menschen auf diesen Stadtrundgang und melden sich bei mir. Und es gibt eine Handvoll öffentlicher Stadtrundgänge im Jahr, die direkt von Berlin Postkolonial oder Aric e.V. organisiert werden.

Mehr zu den Stadtrundgängen!

Und wie erleben Sie die Teilnehmenden?

Die meisten Menschen, die den Stadtrundgang besuchen, sind tatsächlich weiß. Aber sie kommen zu meinem Stadtrundgang, weil sie schon wissen, dass sie weiß sind und weil sie ein Interesse daran haben, mehr zur verstehen – auch gerade gegenwärtige Konstellationen oder Machtgefüge. Es verlaufen sich eigentlich nie Leute in meinem Stadtrundgang, die gar kein Interesse daran haben, sich kritisch mit Kolonialismus auseinanderzusetzen.

Die meisten sind interessiert und haben aus welchen Gründen auch immer gemerkt, dass dieser Teil der Geschichte in unserem kollektiven Gedächtnis total vergessen oder entinnert wurde. Und dass er aber noch wirkmächtig ist. Deswegen sind die Resonanzen eigentlich immer sehr positiv und die Leute sind dankbar dafür, dass es so etwas gibt. Sie sind rege interessiert daran nochmal was über weiterbringende Literatur zu erfahren.

Aber es ist auch anstrengend. Die Rundgänge sind im Grunde genommen wenig interaktiv gestaltet – es sind einfach Stadtrundgänge. Ich erzähle Geschichten über die Orte, an denen wir gerade sind. Klar gibt es da kleine Gespräche und auch Nachfragen, aber im Grunde genommen ist es sehr frontal. Ich bin auch immer wieder überrascht, wie lange die Menschen sich dieses Thema reinziehen können. Gesamtgesellschaftlich besteht ja kein großes Interesse, das aufzuarbeiten oder sich auch mal kritisch weißen Positionen in dieser Gesellschaft zu widmen.


Was gibt es denn eigentlich zum Thema „Frauen im Kolonialismus“ zu erzählen?

Ach, da gibt es ganz viel zu erzählen! (lacht)

Einerseits gibt es natürlich weiße Frauen auf der Seite der Kolonialverbrecherinnen als glühende Verfechterinnen der kolonialen und der rassistischen Ideologie. Das hat sich im Grunde genommen durch alle gesellschaftlichen Klassen gezogen. Angefangen hat es in den adeligen Kreisen, im Bildungsbürger*innentum, wo sich weiße Frauen als erstes in Frauenbunden organisierten. Natürlich auch um parallel andere politische Rechte einzufordern. Zu diesem Zeitpunkt, im 19. Jahrhundert, hatten Frauen ja noch keinerlei Möglichkeiten, um sich an parlamentarischer Politik zu beteiligen. Entsprechend haben sich viele weiße Frauen aus den oberen gesellschaftlichen Schichten schnell formiert und sich dieser Kolonialbewegung angeschlossen. Einerseits, weil sie dadurch die Hoffnung hatten, sich selber politisches Mitspracherecht zu erkämpfen. Und andererseits, weil sie tatsächlich hinter der Ideologie gestanden haben, dass Deutschland Anspruch auf Kolonien hat.

Im Spektrum der Möglichkeiten weißer Frauen lag zum Beispiel die Gründung vieler Kolonialvereine, wie der Frauenbund der deutschen Kolonialgesellschaft 1908. Das war die größte Kolonialgesellschaft und rund 19.000 Frauen waren Mitglied. Im ganzen Kaiserreich gab es über 145 Geschäftsstellen. Sie haben Kolonialfeste und -ausstellungen organisiert - Ausstellungen, die teilweise in zoologischen Gärten stattgefunden und Menschen von kolonisierten Völkern ausgestellt haben, die wie Tiere von den Besucher*innen angestarrt werden konnten. Frauen haben außerdem die Propagandamaschinerie ungemein angetrieben und wahnsinnig viel publiziert - sowohl private Literatur wie Memoiren oder Tagebücher, als auch viele Zeitschriften, unter anderem das Magazin „Kolonie und Heimat“. Das war das größte Kolonialblatt im deutschen Kaiserreich, was auch in die Kolonien exportiert wurde. Es wurde nicht nur von Frauen mitgegründet, Frauen waren auch diejenigen, die die meisten Artikel und Inhalte zu diesen Blättern beigetragen haben. Sie waren eine wesentliche Kraft, um diese kolonial-rassistische Ideologie materiell zu bewerben, sowohl in Deutschland als auch in den Kolonien.

Andererseits haben sie auch eine wesentliche Rolle in der geplanten Besiedlung der damaligen Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika, was wir heute Namibia nennen, gespielt. Für diese Siedlungskolonie gab es eine Art - ich möchte es in Anführungszeichen setzen - „Rassenkampagne“. Das Ziel der deutschen Regierung war die Schwarze Bevölkerung, die kolonisierte Bevölkerung, komplett auszulöschen und diesen Raum weiß zu besiedeln. Frauen spielten in dem Sinne eine Rolle, weil sie für den Nachwuchs sorgen sollten.

Die Kolonie Namibia war für die deutsche Regierung sowieso problematisch, weil der Anteil an weißen Frauen dort sehr gering war. Es kam zu starker sexualisierter Gewalt gegenüber der einheimischen Bevölkerung, gegenüber den lokalen Frauen. Oftmals entstanden daraus Kinder, die auch aus „rassenideologischer Sicht“ nicht existieren durften. Entsprechend wurden Bestrebungen angestellt, möglichst viele weiße Frauen in die Kolonien zu schicken, damit sie dort möglichst schnell heiraten, Familien gründen, Kinder kriegen und zum Anstieg der weißen Bevölkerung sorgen. Die Frauen wurden als Trägerinnen der deutschen Kultur gesehen, die in dieser rassenideologischen Hierarchie als höchste Spitze der Existenz deklariert wurde. Sie wurden praktisch als Gebärmaschinen rübergeschickt – und viele weiße Frauen haben sich liebend gerne bereit erklärt, sich diesem Unterfangen zu widmen.

Jetzt haben wir vor allem über weiße Frauen gesprochen. Was lässt sich über Schwarze Frauen und ihre Rolle im Kolonialismus sagen?

Schwarze Frauen oder kolonisierte Frauen – und ich versuche immer den Begriff „afrikanisch“ zu vermeiden, da Afrika und seine Menschen keine monolithische Einheit sind und die Verwendung des Begriffs eine koloniale Perspektive spiegelt – haben eine massive Rolle in den Widerstandsbewegungen gespielt. Die Quellenlage zu ihrer Rolle ist aber sehr dünn, sodass Schwarze Frauen in der Reflektion von Kolonialgeschichte weitgehend ausgeblendet werden. Es gab Frauen, zum Beispiel Yaa Asantewaa, die die Widerstandskämpfe maßgeblich mitgeprägt oder sogar angeführt haben.

Wir finden in allen kolonisierten Gebieten, auch jenseits deutscher Kolonialgebiete, Geschichten zu Frauen, die zeigen, dass Frauen in den präkolonialen „afrikanischen“ Gesellschaften anders sozialisiert wurden als weiße deutsche Frauen zu diesem Zeitpunkt. Sie haben vielfältige soziale, politische und kulturelle Funktionen und auch Pflichten und Rechte gehabt. Entsprechend war es für die Frauen selbstverständlich, sich den antikolonialen Widerstandskämpfen oder auch den Unabhängigkeitskämpfen Anfang des 20. Jahrhunderts anzuschließen. Anna Mungunda gilt als erste namibische Frau, die sich den Unabhängigkeitskämpfen im 20. Jahrhundert anschloss. Sie ist letzten Endes von der Kolonialadministration auf einer der Demonstrationen erschossen worden und wird heute in namibischer Erinnerungskultur als Nationalheldin erinnert. Die Petersallee in Berlin-Wedding soll nach ihr umbenannt werden.

Und ich finde, das sind ganz wichtige Aspekte. Wir dürfen nicht vergessen: In der kolonial-rassistischen Hierarchie haben kolonisierte Frauen die letzte Stufe menschlicher Existenz bekleidet. Sie waren Schwarzen oder kolonisierten Männern untergeordnet. Entsprechend wurden sie zu ihren Lebzeiten entmenschlicht und in der Geschichte unsichtbar gemacht - zumindest aus einer weißen europäischen Perspektive. Deswegen finde ich es immer super wichtig ihre Geschichten zu erwähnen.

Wenn Leute Interesse haben, mehr über Kolonialismus zu erfahren, dann gebe ich immer den Tipp: Lest nicht nur über weiße Kolonialverbrecher*innen, sondern lest auch über Schwarze Frauen und die Rollen in ihren Gesellschaften, auch vor Einfall der Kolonialherren und -frauen, und ihren Funktionen während der kolonialen Eroberung.


Dünne Quellenlage in der akademischen Literatur

Sie erwähnten, dass die Quellenlage sehr dünn ist. Ist Ihnen das Thema in Ihrem Studium begegnet?

Da habe ich gar nichts darüber gelernt. Ich finde generell, dass es Afrikawissenschaften als Studiengang überhaupt gibt, ist schon ein Anzeichen unserer immer noch postkolonialen Perspektive auf nicht-europäische Nationen und Kulturen. Dass der Studiengang so heißt, ist eigentlich größenwahnsinnig und spiegelt auch – aus meiner Perspektive – eben diese künstliche Erhabenheit über ehemals kolonisierte Gebiete wider. Das Studium hat mir gezeigt, dass es Anstrengungen von der Wissenschaft und von einzelnen Dozent*innen gibt, dieses koloniale Erbe kritisch aufzuarbeiten. Aber nichtsdestotrotz ist der Studiengang immer noch sehr kolonial geprägt. Entsprechend habe ich nichts über Frauen im Kolonialismus gelernt. Diesen Impuls habe ich tatsächlich erst durch Berlin Postkolonial e.V. und von Schwarzen Frauen, die zu diesem Thema arbeiten, bekommen.

Mehr zur Quellenlage!

War es schwierig, die Materialien für die Aufarbeitung des Stadtrundgangs zu erhalten und aufzuarbeiten?

Am Anfang war es sehr schwer, sich die Literatur zusammenzusuchen. Zunächst hatte ich zwei Bücher. Das eine war von Martha Mamozai „Schwarze Frau, weiße Herrin“, das andere war von Marianne Bechhaus-Gerst und Mechthild Leutner, „Frauen in den deutschen Kolonien“. Diese Bücher zitieren verlässliche Quellen und werfen unterschiedliche Perspektiven auf den Abschnitt. Ansonsten war das wirklich ziemlich detailreiches Suchen im Netz oder in den Bibliotheken. Ich habe aber schon im Laufe der Jahre gemerkt, dass immer mehr Literatur dazu gekommen ist. Es gibt zum Beispiel von Anette Dietrich ein Buch, „Weiße Weiblichkeiten“, was sich mit der Konstruktion von „Rasse“ und Gender in den Kolonien beschäftigt. Es gibt auch Literatur, die sich der Rolle von Schwarzen Frauen oder von kolonisierten Frauen innerhalb der europäischen oder spezifisch deutschen Kolonialperiode beschäftigt, zum Beispiel von Megan Cassedy Welch. Das sind dann entsprechend englische Texte.

Ich habe das Gefühl, dass die Forschungslage immer mehr bestückt wird, aber sie ist nicht annähernd so breit gefächert wie die Literatur zu deutscher Kolonialgeschichte allgemein. Da gibt es ja schon einige Werke, z.B. von Jürgen Osterhammel.

Und dann finde ich, ist es auch wichtig zu schauen: Wer schreibt darüber? Ist es eine weiße Frau, die darüber schreibt? Eine Schwarze Frau? Oder ist es ein weißer Mann? Wenn ein weißer Mann über Kolonialgeschichte mit diesem spezifischen Gender-Blick schreibt und dann über Schwarze Frauen schreibt, muss ich davon ausgehen, dass diese Widergabe verzerrt ist. Deswegen ist es wichtig zu überlegen, welche Quellen ich rezipiere und was ich benutze. Es gibt immer mehr Menschen, auch im deutschen Raum, die sich mit diesem Diskurs befassen, aber er ist im Vergleich zu anderen historischen Abschnitten sehr, sehr dünn.


Kolonialgeschichte aufarbeiten

Wie können Städte entkolonialisiert werden?

Die Straßennamen müssen umbenannt werden. Da gibt es gar keine Diskussion. Und da bin ich auch sehr dankbar, dass es Vereine wie Berlin Postkolonial, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, ADEFRA, Decolonize Berlin und Einzelpersonen gibt, die seit über zehn Jahren massiv u.a. dafür kämpfen, dass die Straßen umbenannt werden.

Das Paradoxe ist ja, Deutschland beschäftigt sich gesamtgesellschaftlich überhaupt nicht mit dem Kolonialismus. Und schon gar nicht kritisch. Aber auf der anderen Seite hält der Staat - und das nicht nur in Berlin, auch in anderen deutschen Städten der Fall - an diesen Straßennamen fest, beziehungsweise erinnert an Kolonialverbrecher*innen. Wenn Deutschland sich als „offenes“, „tolerantes“ – diese Schlagworte, die immer benutzt werden – und vor allem auch demokratisches Land deklariert, ist es schlicht und ergreifend an der Zeit, dass Deutschland sich derer Namen oder Menschen entledigt, die eben absolut antidemokratisch und gewaltvoll gehandelt haben.

Gleichzeitig ist es auch wichtig die Präsenz, Arbeit und die Perspektiven von Schwarzen Menschen anzuerkennen und sichtbar zu machen. Und das wird eben nicht getan, wenn seit Jahrzehnten Historiker*innen und andere einschlägige Expert*innen sagen: Diese Namen müssen weg. Nicht nur weil sie an einen Teil der Geschichte erinnern, der so nicht erinnert werden darf. Gleichzeitig wird Schwarze Präsenz in Deutschland ausradiert und unsere Perspektiven auf Geschichte werden als nicht gleichwertig erachtet.


Wo finden wir in Berlin koloniale Spuren?

Koloniale Spuren sind auf ganz Berlin verteilt. Die größte Spur, wenn wir das jetzt so nennen können, ist auf jeden Fall das Afrikanische Viertel in Berlin Wedding. Ursprünglich war es als Kolonialviertel geplant, in dem sogenannte „Kolonialausstellungen“ mit kolonisierten Menschen geplant waren. Carl Hagenbeck, ein sehr reicher Kaufmann, führte in Zoologischen Gärten solche Kolonialausstellungen durch und hatte im Afrikanischen Viertel eine Art Dauerausstellung geplant. Es ist ein sehr großflächiger Beweis dafür, dass Deutschland sehr, sehr konkrete Pläne hatte, die Kolonien zu behalten und zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückzuerobern. In diesem Afrikanischen Viertel befinden sich heute noch mehrere Straßen, die auch an Kolonialverbrecher wie Carl Peters oder Adolf Lüderitz erinnern.

Mehr zu kolonialen Spuren in Berlin!

An welche Orte mit kolonialer Geschichte führt uns der Stadtrundgang noch?

Mein Stadtrundgang findet in Berlin Mitte statt. Dort finden sich mehrere Spuren, die auch auf die lange Präsenz von Schwarzen Menschen in Deutschland hinweisen. Das ist einmal die M*-Straße1, die nach Schwarzen Militärmusikern benannt wurde, die im 18. Jahrhundert nach Berlin verschleppt wurden und als Geschenk an den damaligen König Friedrich Wilhelm den Ersten, den sogenannten „Soldaten-König“, übergeben wurden. Und ich mache auf dem Stadtrundgang immer Halt am Bethlehemkirchplatz, wo Missionsseminare stattgefunden haben und weiße Menschen darauf vorbereitet wurden, in Indien, China oder afrikanischen Ländern christlich zu missionieren. Da weise ich dann auf die christliche Missionsgeschichte als Teil der deutschen Kolonialgeschichte hin. Frauen haben auch da eine ganz zentrale Rolle gespielt.

Die Wilhelmstraße ist ein sehr unsichtbarer, aber trotzdem zentraler Teil. Dort hat im 19. Jahrhundert das Reichskanzlerpalais gestanden, wo die sogenannte „Berlin-Konferenz“ oder „Afrika-Konferenz“ stattgefunden hat. Von 1884 bis 1885 wurde dort unter den europäischen Großmächten beschlossen, wie die noch nicht annektierten Gebiete auf dem afrikanischen Kontinent aufgeteilt werden sollten – ohne Anwesenheit eines*r einzigen Vertreter*in einer afrikanischen Volksgruppe. Das ist ein super zentraler Ort und es fasziniert mich immer wieder, wie Orte, wo historisch und global gesehen so massive Entscheidungen getroffen worden sind, 100 Jahre später völlig unsichtbar gemacht werden, weil nicht entsprechend darauf aufmerksam gemacht wird. Die Nachwirkungen und Machtverhältnisse sind nach wie vor wirkmächtig, gerade auch in Hinsicht auf globale Politik, globale Wirtschaft.

Dann gibt es die Mauerstraße, da war das Kolonialmilitär untergebracht. Es gibt keine Schilder, die in irgendeiner Form darauf hinweisen. Man muss sich die Informationen selber erarbeiten und dann die Straßen ablaufen. Und es gibt den Garnisonsfriedhof, der Soldaten ehrt, die in den Auseinandersetzungen im Rahmen des Widerstandskrieges in Namibia zu Tode gekommen sind. Tatsächlich gibt es auch noch Menschen, die sich einmal im Jahr treffen und diesen weißen gefallenen Soldaten huldigen. Es gibt also allein in Berlin sehr viele Spuren.

Dankbarerweise gibt es auch ein Projekt der TU Berlin in Zusammenarbeit mit Berlin Postkolonial und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, das diese Spuren digitalisiert hat. Ein wichtiges Projekt für Menschen, die schnell Informationen darüber sammeln und erste Eindrücke erhalten wollen, wo in Berlin noch konkrete koloniale Spuren zu finden sind. Das ist eine gute Quelle, um sich zumindest erstmal punktuell zu informieren und vielleicht auch herauszufinden, dass in dem Viertel, in dem man lebt, auch koloniale Vergangenheit präsent ist.


Bei der M*-Straße1 kommt dazu, dass es sich um einen rassistischen Fremdbegriff handelt, den Schwarze Menschen nicht gewählt haben und der auch eine Art von Gewalt im Stadtraum darstellt, die nicht existieren darf, wenn sich Deutschland gleichzeitig als demokratisch, „nicht-rassistisch“ und „tolerant“ beschreibt.

Es ist wichtig, dass die Präsenz Schwarzer Menschen in Deutschland, die schon seit mehreren Jahrhunderten in Deutschland präsent und angesiedelt sind, auch mitbedacht wird, indem Straßen nach Menschen benannt werden wie zum Beispiel nach Anton Wilhelm Amo. Das ist einer der Hauptvorschläge für die Umbenennung der M*-Straße: Amo hat im 18. Jahrhundert in Deutschland gelebt und war der erste dokumentierte Schwarze Akademiker und Dozent. Es ist extrem wichtig aufzuzeigen, dass es zu dieser Zeit Menschen gab, die ein komplett anderes Bild verkörperten als zu der Zeit von Schwarzen Menschen oder afrikanischen Menschen gezeichnet wurde.

Mit den Straßenumbenennungen ist es aber nicht getan. Es ist genauso wichtig, dass Schwarze Menschen oder Menschen afrikanischer Abstammung in diesen Gebieten auch leben können. Das heißt, dass sie Zugang zu Wohnungen, Bildungseinrichtungen und zu Arbeit bekommen, dass sie sicher in diesen Vierteln leben können. Sonst ist kein Kampf gewonnen, wenn die Straßen umbenannt sind, aber Schwarze Menschen in diesen Gebieten nicht sicher leben, Zugänge oder Existenzgrundlagen finden können.

1 Anfang Juli gaben die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) bekannt, dass die gleichnamige U-Bahn-Haltestelle in Glinkastraße umbenannt werden soll.

Was muss sich in Deutschland in Bezug auf die Aufarbeitung von Kolonialgeschichte außerdem noch tun?

Um Kolonialgeschichte wirklich flächendeckend nachhaltig und kritisch aufzuarbeiten, müssen alle Institutionen mitspielen. Das fängt für mich im Kindergarten an und geht von der Schule bis hin zu den Hochschulen. Ich hab nichts über deutsche Kolonialgeschichte gelernt und die meisten Besucher*innen meiner Stadtrundgänge auch nicht. In den Bildungsinstitutionen muss Kolonialgeschichte kritisch reflektiert werden, auch gerne mit einem genderspezifischen und kapitalismuskritischen Blick. Gleichzeitig müssen „Bildungsliteratur“ oder „Bildungsmaterialien“ über Afrika dekolonisiert werden. Egal in welcher Jahrgangsstufe oder in welchem Unterrichtsfach, Afrika wird immer noch aus extrem kolonialen Blickwinkeln behandelt - im Kontext von Entwicklungszusammenarbeit und Krieg, Korruption und Hunger. Es geht darum, was Kinder in Deutschland oder Europa tun können, damit es denen besser geht. Das ist problematisch – gerade wenn der andere Teil von Deutschlands Verstrickung in diesen historischen Abschnitt ausgeblendet wird.

Neben den Bildungssektoren spielen die Kultur- und Alltagslandschaft eine extrem wichtige Rolle. Da geht es u.a. um Sprache. Unsere Sprache ist – abgesehen davon, dass sie noch viele andere Diskriminierungsformen reproduziert – immer noch extrem rassistisch geprägt. Ich sehe auch in der Kunst- und Kulturszene eine sehr einseitige Skizzierung „Afrikas“: Das ist ein subsummierender Begriff, der eigentlich kaum anwendbar ist. Natürlich gibt es auch Ausstellungen zu deutscher Kolonialgeschichte, aber auch die finde ich oft problematisch und lückenhaft in ihrer Konzeption. Es müssen dauerhafte Wege gefunden werden, wie Geschichte aus einem kritischen und gleichzeitig leichter zugänglichen Blickwinkel aufgearbeitet werden kann. Ausstellungen wie jene im Deutschen Historischen Museum vor zwei Jahren sind Anfänge, aber auch die sind noch ausbaufähig. Da müssen mehr Schwarze Perspektiven rein, mehr Perspektiven aus afrikanischen Ländern. Und es muss dauerhaft geschehen. Es geht natürlich auch um Repräsentation: Wo sehen wir Schwarze Menschen heute in den Medien, in den Bildungseinrichtungen, in führenden Positionen. Das hängt ja alles zusammen.

Aber ich würde erstmal sagen: Bildungsinstitutionen und öffentliche Institutionen. Es ist zentral, da deutsche Kolonialgeschichte aufzuarbeiten, einerseits, um unser Rassismus-Verständnis endlich zu erweitern. Nach Hanau und nach jedem NSU-Anschlag ist jeweils für kurze Zeit das Thema in der öffentlichen Debatte zu finden. Dann wird über Rechtsextremismus und physische Gewalt gesprochen, aber letzten Endes besteht ein absolut verkürztes Verständnis von Rassismus. Das schlägt sich in Alltagssprache, in Denk- und Handlungsmustern nieder, die so tief in den Leuten verwurzelt sind, dass sie nur durch jahrzehntelange Aufarbeitung wieder dekonstruiert werden können. Das ist ein Prozess, der muss auf ganzen vielen Ebenen parallel angegangen werden – und das dauerhaft. Dann werden wir auch feststellen, dass Rassismus eben nicht im Nationalsozialismus plötzlich da war, sondern dass sich der Nationalsozialismus und die Shoa ideologisch und strukturell sehr, sehr stark auf den Kolonialismus beziehen und vieles vom Kolonialismus und von kolonialen Strukturen übernommen haben.

Wie kann man sich als Individuum für antikoloniale und antirassistische Arbeit einsetzen?

Zuallererst: Betroffenen zuhören, lernen, sie nicht in Frage stellen, die eigenen weißen Privilegien kritisch reflektieren und diese dann zu Gunsten der Betroffenen abgeben. Sich kontinuierlich und selbstständig informieren, dazulernen, rassismuskritisch dazulernen. Und wirklich faktisches Wissen sammeln und nicht Halbwissen. Man muss sich ja nicht 800-Seiten-Wälzer oder irgendwelche Memoiren von Kolonialverbrecher*innen durchlesen. Mittlerweile gibt es echt gutes Filmmaterial, Hörbücher oder Podcasts. Die befassen sich nicht explizit mit Kolonialgeschichte, sondern tatsächlich auch mit zeitgenössischen rassistischen Strukturen. Zum Beispiel das Hörbuch von Tupoka Ogette, „Exit Racism“, das ja auch auf die Strukturen und wirkmächtigen Machtverhältnisse von Rassismus eingeht und ein dezidiertes Verständnis von Rassismus anbietet. Oder die Arbeiten der Schwarzen, queeren Autorin und Aktivistin Lahya Aukongo.

Darüber hinaus ist es nötig, mehr über Kolonialismus und weiße Positionen lernen, weil dann die Möglichkeit besteht, auch seine eigene Position in der Gegenwart viel besser zu verstehen. Und im gleichen Zuge Literatur von Schwarzen Autor*innen oder von Rassismus Betroffenen rezipieren.

Wenn weiße Menschen Allies oder Verbündete sein wollen: Lernt selbst dazu, hört aber den Betroffenen zu. Zuhören ist ganz, ganz wesentlich. Und dann das, was man weiß, in den eigenen Kreisen streuen. Mit anderen Menschen darüber in den Dialog gehen, auch mal unbequem sein. Und da rede ich nicht nur von deutscher Kolonialgeschichte, das ist für mich immer an heutige rassistische Strukturen geknüpft. Auf Diskriminierung und Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen ist unangenehm, davor drücken sich viele Menschen.

Und man kann mit Geld solidarisch sein. Es gibt super viele Initiativen, die gar keine oder nur sehr geringfügige Förderung bekommen, und Menschen, die seit Jahrzehnten ehrenamtlich arbeiten. Die Arbeit, die sie leisten, muss bezahlt werden. Und mit Geld kann man auch wunderbar Unterstützung leisten.

Seine*Ihre Position ausnutzen, das ist zentral. Wenn Menschen bestimmte Berufspositionen bekleiden, zum Beispiel in einer Kultur- und Bildungsinstitution arbeiten und die Möglichkeit haben, Kolonialgeschichte kritisch einzubringen, dann macht das! Wenn ihr diese Möglichkeiten habt, eure machtvolleren Positionen zu nutzen, um nicht-weiße Perspektiven einzubringen, wäre das ein Schritt in die richtige Richtung. Das sind auch Wege, auf denen andere durch staatliche oder nicht-staatliche Bildungs- und Kultureinrichtungen einen Zugang zu neuen Perspektiven und Inhalten finden können.

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