Föderalismus: Europäische Herausforderungen und Australische Ideen

, von  Danny Hayes, übersetzt von Daniel Michel

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Föderalismus: Europäische Herausforderungen und Australische Ideen

Europäischer Föderalismus ist ein ehrgeiziges Projekt, welches nicht ohne politische Anstrengung und Einheit über den Kontinent realisiert werden kann. Es ist eine Herausforderung, eine noch weiter integrierte Union und eine noch engere Verbindung zwischen über 500 Millionen Menschen aus 28 Nationen zu schaffen. Aber es ist kein Projekt ohne verlässliche Vorbilder.

Meine Heimat, Australien, ist eine der handvoll beispielhafter föderaler Staaten und eine einzigartige Mischung aus dem britischen und dem amerikanischen System. Es ist genau diese Mischung der Einflüsse, die es zu einem System macht, das in weiten Zügen auch auf die Bedürfnisse einer Europäischen Föderation angewendet werden könnte.

Hintergrund der Australischen Föderation

Das föderale System Australiens ist ein einzigartiger Hybrid des britischen und US-Systems. Es teilt mit dem Britischen System, dass es Exekutive und Legislative miteinander verschmilzt, indem der*die Premierminister*in und sein*ihr Kabinett auch Teil der Legislativen sind. Das US System hingegen verfolgt eine strikte Trennung der beiden Gewalten. Aus dem US-System übernimmt das Australische den Aufbau des Senats. Während die Unterhäuser Kanadas und Großbritanniens die ganze Nation repräsentieren, werden in Australien hier die Interessen der Staaten und Territorien vertreten.

Der Senat setzt sich aus Senator*innen mit relativ langer Amtszeit zusammen, die die Gesamtheit ihres Staates repräsentieren. Die Verfassung sieht vor, dass alle ursprünglichen Staaten (das sind die sechs Kolonien, aus denen sich Australien zu Beginn der Föderation zusammensetzte) eine gleiche Zahl an Senator*innen hat, nicht weniger als sechs pro Staat. Aktuell hat jeder dieser Staaten sogar zwölf Senator*innen. Die zwei Australischen Festlandterritorien erhielten später ihre Selbstverwaltung und Vertretung in der Form von zwei Senator*innen pro Territorium und es wird prognostiziert, dass jegliche zukünftige Staaten entsprechend ihres Bevölkerungsanteils im Senat repräsentiert sein werden. Mit dieser Regelung privilegiert Australien die ursprünglichen Mitglieder der Föderation, was einen Unterschied zum US-System darstellt, wo allen Staaten strikt zwei Senator*innen entsenden dürfen, unabhängig vom Zeitpunkt des Beitritts.

Der Zweikammer-Ansatz wird in der Administration eines föderalen Australiens kritisch betrachtet. Der Senat wurde nicht als gleiche Vertretung des australischen Volkes geschaffen, sondern als Methode zur Sicherung der Interessen der kleineren Staaten angesichts der Mehrheitsbeschlüsse im Parlament– eine Rolle, die der des Europäischen Rates sehr ähnlich ist. Auf die Wichtigkeit dieser Funktion werde ich noch zurück kommen.

Strukturelle Unterschiede

Die Schaffung der Australischen Föderation wurde von Dr. Carolyn Holbrook der Deakin Universität untersucht. Sie beschreibt die Föderation als durchdrungen von demokratischem und gesellschaftlichem Optimismus. Es war experimentell, die bevorzugten Teile zweier Systeme schamlos zu kopieren und australische Besonderheiten hinzuzufügen. Ein Beispiel für diese Besonderheiten sind die Verfassungsanlagen, die eine doppelte Mehrheit benötigen: eine Mehrheit von zwei Dritteln der Staaten und eine Mehrheit der Bürger*innen.

Die australische Erfahrung ist außerdem einzigartig, wenn man die Hintergründe ihrer Autoren betrachtet. Sie waren teilweise weit entfernt von der britischen Aristokratie, sie waren Metallarbeiter, Journalisten, Lehrer und Minenarbeiter. Einer war sogar Vegetarier. Sie hatten jedoch gemeinsam, dass sie weiße Männer und Bürger des Britischen Empires waren. Sie sprachen die gleiche Sprache und bewohnten ähnlich aufgebaute Kolonien. Und, wie der Zensus von 1901 zeigt, bewohnten ca. 3,7 Millionen Menschen den Kontinent. Zu Beginn waren es lediglich 6 Kolonien, die in einer Föderation aufgehen sollten – zuvor gab es Pläne für 7 Kolonien, Neuseeland bevorzugte es jedoch, als eine unabhängige Nation seinen eigenen Weg zu gehen (wobei sie theoretisch auch noch heute jederzeit der Australischen Föderation beitreten könnten).

Die Europäische Union ist im Vergleich hierzu eine viel komplexere und diversere Organisation. 28 Mitgliedsstaaten (die Neuseeland-ähnliche Situation des Brexits mit eingeschlossen), 24 offizielle Sprachen und fast 500 Millionen Bürger*innen erfordern ein besonders robustes föderales System.

Europäische Herausforderungen und die Australische Erfahrung

Dies eröffnet eine kulturelle und organisatorische Herausforderung. Das Motto der EU ist „in varietate Concordia“ – in Vielfalt geeint. Diese Vielfalt ist wertvoll und sollte aus vielen Gründen beschützt werden. Eine Europäische Föderation kann jedoch ihre Struktur auf der Erfahrung der australischen Verfassung aufbauen, und dadurch die für die Erhaltung der reichen und historisch verwurzelten Kulturen notwendige Unabhängigkeit schützen.

Um dies weiter auszuführen, muss die zweite Herausforderung betrachtet werden, die sich aus den ungleichen Bevölkerungszahlen der EU Mitgliedsstaaten ergibt. In Australien ist der größte Bevölkerungsunterschied der zwischen New South Wales und Tasmanien. In ersterem leben 7 704 300 Menschen, in letzterem 518 500 Menschen. New South Wales hat hiermit eine fast 15 Mal so große Bevölkerung wie Tasmanien und trotzdem haben beide Staaten die gleiche Kraft in der Regierung. In Europa existiert dieses Problem in einem noch größeren Ausmaß: In Deutschland leben mehr als 179 Mal so viele Menschen wie in Malta.

Um dieses Problem zu lösen, schlage ich ein einzigartiges Vier-Ebenen-System vor, bestehend aus einer föderalen Regierung, 27 „Nationen Europas“ (im Falle der Vollendung des Brexits), darunter insgesamt 86 Staaten und lokale Regierungen. Die Rolle der föderalen europäischen Regierung und der föderierten Regierungen wäre ähnlich der in anderen Föderationen, Australien eingeschlossen. Auf die Dezentralisierung der Macht werde ich später im Artikel näher eingehen.

Australische Ideen

Die Staaten sind sehr schnell erklärt. Um die oben genannte Bevölkerungsungleichheit zu reduzieren, sollte ein föderales Europa die bereits von der EU verwendete NUTS-Systematik (Abkürzung für die französische Bezeichnung „Nomenclature des unités territoriales statistiques“ Nomenklatur der territorialen statistischen Einheiten) anwenden. Der Standard wird bereits für das öffentliche Beschaffungswesen und die Verwaltung des Europäischen Strukturfonds verwendet, und unterteilt die Europäische Union in Regionen mit überschaubaren Bevölkerungszahlen. Das Staatenlevel könnte auf Level 1 (NUTS 1 genannt) sein und würde, von einigen Ausnahmen abgesehen, aus Staaten mit Bevölkerungszahlen zwischen 3 000 000 und 7 000 000 bestehen. NUTS 1 sind die größten Gebiete und werden – die sozioökonomischen Regionen berücksichtigend – mit möglichst ähnlich großen Bevölkerungszahlen gebildet. Dies wird Verwaltung und Bereitstellung staatlicher Leistungen in manchen Mitgliedsstaaten auf kleinere Staaten aufteilen, beispielsweise in Deutschland. Hierbei gäbe es keine multinationalen NUTS 1, entsprechend würde jeder Staat sein eigenes kulturelles Erbe bewahren können. Es handelt sich hierbei um ein System, das bereits geschaffen und untersucht wurde und das klar umsetzbar ist. Es würde des Weiteren eine Dezentralisierung der Macht mit sich bringen und damit wichtige und nützliche Outputs für die Bewohner*innen der Gebiete generieren.

Das „Nationen Europas“-Konzept ist eine Möglichkeit, die aktuellen kulturellen Grenzen der Europäischen Union zu bewahren. Sie würden eine einzigartige Ebene der Regierung erhalten, die sich auf das Bewahren des kulturellen Erbes fokussieren könnte, während andere Angelegenheiten auf den niedrigeren Ebenen angesiedelt wäre. Dies könnte beispielsweise darin bestehen, Programme und Behörden zu schaffen, die die offizielle Sprache, Symbole, kulturell wertvolle Plätze und Artefakte, Essen, Trinken, nationale Sportligen, Zeremonien und Royale Familien unterstützen. Es könnte weiterhin Subventionen für Rundfunkorganisationen, Museen, Galerien und Filmgesellschaften umfassen.

Würde sich eine Europäische Föderation für ein Zweikammernsystem entscheiden, sähe die australische Erfahrung eine weitere Rolle für die Nationen Europas vor: das Entsenden von Repräsentant*innen in einen Europäischen Senat. Die Australische Verfassung sieht vor, dass die Zahl Abgeordneten in der zweiten Kammer – so weit möglich – doppelt so groß sein soll wie die Zahl der Senator*innen. Zurzeit sind dies 151 Mitglieder im House of Representatives und 76 Senator*innen. Auf Europa übertragen würde dies bedeuten, dass die aktuellen 750 Mitglieder des Europäischen Parlaments Raum für 375 Senator*innen ließe. Geht man von 27 Nationen aus und einer gleichen Zahl an Senator*innen für jede davon, kommt man auf eine möglichst nah daran liegende praktikable Zahl von 378 Senator*innen – 14 pro Nation. Dies würde jeder*m Senator*in aus Deutschland ein Wahlvolk von 5,9 Millionen Menschen zuordnen, während ihre maltesischen Äquivalente nur 32,878 Menschen repräsentieren würden. Ihre direkte Wahl wäre wahrscheinlich eine willkommene Veränderung für alle, die der aktuellen EU ein Demokratiedefizit nachsagen.

Am Rande bemerkt würde dies ein Wiederaufleben des Regionalismus in Europa unterstützen, welches oft in einem separatistischen oder nationalistischen Kontext betrachtet wird. Dies schließt die nach wie vor fortbestehenden separatistischen Bewegungen in Belgien, Katalonien und Korsika mit ein. Das Abspalten unabhängiger Nationalstaaten wird in der Regel als problematischer und zerstörerischer Prozess im Hinblick auf ökonomische und politische Konsequenzen betrachtet. Das Risiko negativer Konsequenzen wird dadurch erhöht, dass noch kein System existiert, was einen sofortigen Wiedereintritt in die EU als Mitgliedsstaat ermöglicht.

Die Australische Verfassung hingegen erlaubt es unter gewissen Umständen, dass neue Staaten sich gründen, die Abspaltung von einem bereits existierenden Staat mit eingeschlossen. Sie wären dann ein vollwertiger Staat Australiens und bekämen sofort eine entsprechende Repräsentation im Senat zugesprochen, es gäbe jedoch keine Garantie der gleichen Zahl an Senator*innen. Die föderale Regierung müsste dem nicht zustimmen (wobei eine Sezession von der Föderation selbst ausgeschlossen ist), lediglich das Einverständnis der/des Parlamente/s der/des betroffenen Staaten/Staates wäre erforderlich. Im Europäischen Kontext würde dies zum Beispiel für Katalonien bedeuten, dass Katalonien sich von Spanien mit der Zustimmung der spanischen Nation Europas abspalten könnte. Katalonien würde dann in die Europäische Föderation eingegliedert werden als eigene Nation Europas und NUTS 1 würden innerhalb Kataloniens gebildet, um die Regierung vor Ort zu regeln. Diese Nation Europas bekäme jedoch nicht die kompletten 14 Senator*innen, sondern Senator*innen entsprechend ihrer Bevölkerungsgröße. Auf diese Weise würde Katalonien die Möglichkeit eröffnet, ihr kulturelles Erbe und ihre kulturelle Identität zu fördern und gleichzeitig Teil einer Europäischen Föderation zu sein.

Was würde dies für die dort wohnenden Bürger*innen bedeuten? Sie würden es vielleicht gar nicht merken. Sie könnten immer noch mit ihrem Pass der Europäischen Föderation reisen, würden immer noch ihre Post in einen EuroPost Briefkasten werfen (bzw. DHL, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind), würden ihr Essen immer noch mit Euro bezahlen, könnten weiterhin frei reisen, arbeiten und innerhalb der Europäischen Föderation leben, wo sie möchten.

Von einer weniger legalistischen Perspektive aus glaube ich, dass die größte Herausforderung für ein föderales Europa in seinen sozialen Wurzeln liegt. Die Mehrheit der föderalen Staaten der Welt wurden durch Druck von außen oder als Konsequenz daraus, dass es sich um kulturell homogene Kolonien handelte, als Nation vereinigt. Letzteres ist die kurze Geschichte Australiens. Europa ist kein Kontinent, wo föderale Staaten historisch gewachsen sind. Eine Europäische Föderation wird auch nicht aus einem Krieg hervorgehen. Es wird auch nicht die Lösung für eine existenzielle Bedrohung von außen sein. Es wird eine Hinwendung zueinander sein, nicht als Nationen, sondern als Europäer*innen, für demokratische Ideale und einer immerwährenden Hingabe zum Frieden. Ich hoffe, dies werden die zentralen Werte einer europäischen Verfassung werden.

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