Europas Gerichte im Kampf gegen den Klimawandel
Tick. Tock. Unaufhaltsam läuft die Klimauhr weiter. Und zunehmend wird die Zeit knapp, wirksame Maßnahmen zur Eingrenzung der Klimakatastrophe in die Wege zu leiten. Der Anfang August veröffentlichte Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) machte dies nochmal in eindrücklicher Sprache deutlich.
Dass Klimaschutz die größte gesellschaftliche Herausforderung unserer Zeit ist, ist mittlerweile selbst in den Gerichtssälen Europas angekommen: Mehr und mehr befassen sich Richter*innen nun mit umweltrechtlichen Klagen, die unzureichende Maßnahmen für den Klimaschutz und die Nichteinhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens rügen.
Und seit etwa 2 Jahren kommt es wiederholt zu weitreichenden Entscheidungen, die Staaten und Unternehmen zu schärferen Klimaschutzmaßnahmen verurteilen. Vom Hoge Raad in den Niederlanden über das Irische Supreme Court bis zum Conseil d’Etat in Frankreich verschrieb sich ein europäisches Gericht nach dem Anderen dem Kampf gegen die Klimakatastrophe. Innerhalb von nur zwei Monaten wurden im Frühjahr 2021 gleichermaßen Royal Dutch Shell plc, wie auch die Bundesregierung zu weitreichenderen Klimaschutzmaßnahmen verdonnert.
Von den Fällen Urgenda bis Friends of the Irish Environment
Der erste Zug im Kampf gegen den Klimaschutz kam vom Hoge Raad, dem obersten niederländischen Gericht, im Dezember 2019. Im Verfahren De Staat der Nederlanden v. Stichting Urgenda entschied das oberste Gericht, dass die Niederlande dazu verpflichtet seien, ihre Treibhausgasemissionen bis 2020 um 25 % im Vergleich zum Niveau von 1990 reduzieren zu müssen. Damit handelt es sich um das erste erfolgreiche Klimaschutzverfahren vor staatlichen Gerichten, das in einer CO2-Reduktionsverpflichtung eines Staates mündete.
Aufgrund von Art. 2 und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die das Recht auf Leben und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens schützen, bestünden direkte staatliche Verpflichtungen der Niederlande zum Ergreifen von Klimaschutzmaßnahmen. Jeder Staat sei für seinen Anteil an den Weltemissionen verantwortlich und damit – egal wie klein dieser Anteil global auch sein mag – auch für dessen Reduktion. Zur Konkretisierung der Reichweite dieser Verpflichtungen greift der Hoge Raad dann auf das Pariser Klimaabkommen von 2015 und die, vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) entwickelten, Reduktionsraten zurück. Aus diesen ergebe sich dann eine Verpflichtung der Niederlande zur Reduzierung ihrer CO-2-Emissionen um 25 % bis 2020.
Nur ein halbes Jahr später folgte mit der Entscheidung des Supreme Court of Ireland in der Sache Friends of the Irish Environment v. Government of Ireland der nächste Paukenschlag. Die Umweltschutzorganisation Friends of the Irish Environment hatte eine Klage gegen den irischen Klimaschutzplan vor irischen Gerichten eingereicht, welche von 20.000 Petitionsunterschriften gestärkt wurde.
Das Supreme Court entschied in diesem Verfahren, dass die Regierung mit ihrem Klimaschutzplan ultra vires gehandelt habe, also außerhalb ihrer Kompetenz, und dass der Plan daher illegal sei. Die Maßnahmen des Klimaschutzplans entsprächen nicht den Vorgaben des Klimaschutzgesetzes von 2015, insbesondere weil der Plan zu vage und unklar formuliert sei und zu viele Aspekte für zukünftige Planung und Forschung offenließ. Hierbei bezog sich das Supreme Court auch insbesondere auf den Bericht des Climate Change Advisory Council von 2018, der die bisher ergriffenen Maßnahmen der irischen Regierung als völlig unzureichend kritisierte. Daher müsse die irische Regierung nun einen neuen, angepassten Klimaschutzplan vorlegen.
Das Bundesverfassungsgericht mischt die Politik auf
Ähnlich wie das irische Supreme Court entschied im März 2021 auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als es das neue deutsche Klimaschutzgesetz (KSG) für teilweise verfassungswidrig erklärte (Beschluss hier abrufbar). Das KSG verletze das Recht auf Leben (Art. 2 Absatz. 2 Satz 1 Grundgesetz) und das Eigentumsgrundrecht in Art 14 des Grundgesetzes, da es hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschiebe, was zu schwerwiegenden Freiheitseinbußen zukünftiger Generationen führen würde.
Zur Wahrung der grundrechtlich gesicherten Freiheit auch in der Zukunft (treffend als intertemporaler Freiheitsschutz bezeichnet) hätte der Gesetzgeber im KSG Vorschriften zu einem freiheitsschonenden Übergang in die Klimaneutralität einbauen müssen, an denen es bislang fehlte. So verletzt das KSG nach Ansicht des Verfassungsgerichts die Grundrechte der Bürger*innen.
Christian Calliess, anerkannter Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität Berlin, konstatierte zu den Folgen des Urteils:
„Nunmehr kann gerichtlich überprüft werden, ob der Gesetzgeber seiner Pflicht zum Klimaschutz effektiv nachkommt und bis 2050 wirksam von einer Überschreitung der im Pariser Klimaabkommen völkerrechtlich verbindlich anerkannten planetaren Grenze des 1,5-2 Grad-Ziels wegsteuert.“
Das Verfassungsgericht stellt aber auch gleichzeitig klar, dass es weder ein Grundrecht auf Klimaschutz anerkenne, noch dass der Gesetzgeber seine Schutzpflichten bezüglich jetzigen Grundrechtsbeeinträchtigungen wegen der Gefahren des Klimawandels verletzt habe. Dennoch stellte das Urteil einen Meilenstein in der deutschen Debatte um die richtige Klimapolitik da. Als Antwort darauf forderten Politiker*innen von Regierung und Opposition eine ehrgeizigere Klimapolitik. Sowohl Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), die das bisherige Klimaschutzgesetz zu verantworten hatten, sprachen sich für schärfere Klimaziele aus. Im Juni 2021 verabschiedete der Bundestag dann unter scharfer Kritik der Oppositionsparteien, eine Novelle des Klimaschutzgesetzes, das auf das BVerfG-Urteil Bezug nahm und am 18. August 2021 in Kraft trat.
Das Urteil des Verfassungsgerichts in der größten Volkswirtschaft Europas wirkte wie ein Dammbruch, dem eine wahre Flut von weiteren Klimaurteilen folgte.
Weitere Urteile folgten aus Belgien und Frankreich
Auf Begehren der NGO Klimaatzaak verurteilte ein Brüsseler Gericht die belgische Föderalregierung und die drei regionalen Regierungen von Flandern, der Wallonie und Brüssel-Hauptstadt im Juni 2021 wegen einer Verletzung ihrer Klimaziele. Indem der belgische Staat und die Regionalregierungen gegen ihre CO2-Emissionsstandards bis 2030 verstoßen haben, würden gleichzeitig belgisches Zivilrecht, sowie die Art. 2 und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Das Urteil hat auch gerade deswegen historische Bedeutung, weil das Gericht die 58.000 beteiligten Sammelkläger als berechtigte Kläger*innen anerkannte, deren (Menschen)-rechte durch fehlende Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung des Klimawandels bedroht sind. Allerdings wies das Gericht mit Verweis auf den Grundsatz der Gewaltenteilung die Forderung der Kläger*innen zurück, der Regierung spezifische neue Emissionsreduktionsziele aufzuerlegen.
Zu einem ähnlichen Urteil kam auch wenige Wochen später der Conseil d’Etat in der Entscheidung Grande Synthe II. Die Richter*innen der höchsten französischen Verwaltungsgerichtsinstanz rügten, dass die französische Regierung unzureichende Maßnahmen im Kampf gegen den Klimaschutz unternommen habe und verpflichtete die Regierung dazu, Maßnahmen zur Korrektur dieses Versagen einzuleiten.
Bereits in der historischen Vorentscheidung im November 2020, Grande Synthe I, hatte der Conseil d’Etat auf Klage der französischen Gemeinde Grande Synthe festgestellt, dass Frankreichs Emissionsreduktionsziele rechtliche Verpflichtungen enthalten, die gerichtlich gegen den Staat durchsetzbar sind.
In der Entscheidung vom 1. Juli 2021 forderte der Conseil d’Etat dann erstmals den französischen Staat bis Ende März 2022 dazu auf, die erforderlichen Korrekturen an seinen Klimaschutzplänen vorzunehmen, ohne aber der Regierung hierbei konkrete Vorgaben bezüglich einzelner Schritte zu machen.
Klagen gegen Unternehmen als weitere Komponente
Gleichzeitig gibt es schon erste Gerichtsurteile, die auch große Unternehmen zur Verantwortung für ihre Beiträge zum Klimawandel ziehen. Seit mehr als 5 Jahren läuft ein Verfahren vor deutschen Zivilgerichten (momentan in der Berufungsinstanz am OLG Hamm) wegen der Verantwortung des Energiekonzerns RWE für eine klimawandelbedingte Gletscherschmelze in Peru. Im November 2017 stellte das OLG Hamm in einem Beweisbeschluss überraschend fest, dass es grundsätzlich einen zivilrechtlichen Entschädigungsanspruch für Folgen von Klimaschäden geben kann.)]
Im Mai 2021 verpflichtete das Bezirksgericht Den Haag das Ölunternehmen Royal Dutch Shell plc in Milieudefensie v. Shell dazu, seine CO2-Emissionen bis 2030 um 45 % zu senken. Bedeutsam an diesem gigantischen Sieg für Klimaaktivist*innen war gerade auch die Feststellung des Gerichts, dass auch Unternehmen neben Staaten in der Pflicht sind die Emissionsreduzierung voranzutreiben. Staaten, so das Gericht, „könnten die Klimafrage nicht alleine lösen“. Auch wenn Shell gegen das Urteil in Berufung gegangen ist und somit eine endgültige Entscheidung noch aussteht, geht von diesem Urteil eine ungeheure Strahlkraft für die zahllosen weiteren Klimaklagen gegen Unternehmen aus, die momentan bei Gerichten weltweit anhängig sind.
Allerdings ist dieser Trend momentan nicht universal: Insbesondere das Europäische Gericht (EuG) und der Europäische Gerichtshof (EuGH) lehnten 2019 und 2021 den sogenannten People’s Climate Case, getragen von Kläger*innen aus Europa, Kenia, den Fiji-Inseln und einer schwedischen NGO, aufgrund fehlender individueller Betroffenheit ab (siehe hierzu Artikel von Carolin Hilkes und Arnisa Halili). Mit ähnlicher Begründung wurde auch eine Klage vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof im September 2020 für unzulässig erklärt (das Verfahren ist mittlerweile, wie auch weitere Klagen, zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangt). Diese Entscheidungen zeigen, dass die juristischen Auseinandersetzungen über die rechtlichen Verpflichtungen von Staaten und Unternehmen zum Klimaschutz, den bedrohten Menschenrechten einzelner Bürger*innen und die Rolle der Gerichte im Kampf gegen den Klimawandel noch in ihren Anfängen steckt.
Klare Botschaft der Gerichte an ihre Regierungen
An diesem Punkt ist es wichtig festzustellen, dass sich die einzelnen Entscheidungen in ihrer Reichweite, der zugrundeliegenden Rechtsquellen und Begründungen erheblich unterscheiden. So sind die angesprochenen Entscheidungen der niederländischen Gerichte um einiges weitreichender und kontroverser als die Entscheidung des BVerfG. Dennoch lassen sich bereits einige Trendlinien ausmachen, denen diese verschiedenen Entscheidungen folgen.
- Seit dem Abschluss des Pariser Klimaabkommens 2015 lässt sich eine größere Bereitschaft der Gerichte erkennen, sich ausführlich mit Klimaschutzklagen und der staatlichen Verpflichtung gegenüber den Bürger*innen in Bezug auf Klimaschutz zu befassen.
- Zweitens kommt es, unter wiederholten Bekenntnissen zur Gewaltenteilung und zur Unzuständigkeit der Gerichte zur Betreibung einer eigenständigen Klimapolitik, zu einer schärferen Kontrolle der nationalen Klimaschutzpläne. Die Gerichte fordern selbstbewusst Klarheit und Präzision, wie die Staaten freiheitsschonend ihre selbstgesetzten Klimaschutzverpflichtungen umsetzen wollen und prangern ansonsten unzureichendes Handeln ihrer Regierungen an.
- Drittens werden die Bedrohungen des Klimaschutzes zunehmend in Zusammenhang mit den Grund- und Menschenrechten betrachtet und eingeklagt, aus denen eine weitreichende staatliche Schutz- und Abwehrpflicht gegen den Klimawandel und seine Folgen erwächst. Zu einem eigenständigen (Menschen)-Recht auf Klimaschutz, wie es zum Teil von Aktivist*innen gefordert wird halten sich die Gerichte aber bis jetzt eher bedeckt.
Letztlich fällt auf, dass die Gerichte in Europa nahezu alle direkt auf die IPCC-Berichte und andere wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimaschutz zurückgreifen, um ihre Rüge des Versagens der Regierungen zu rechtfertigen. Die Botschaft der Gerichte an die Regierungen und die Politik scheint klar: Nehmt den Klimaschutz und eure eigenen Klimaziele endlich ernst!
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