Europa und Nationalstaaten: Keine Frage von Entweder-Oder

, von  Marijn Nohlmans, übersetzt von Lydia Haupt

Europa und Nationalstaaten: Keine Frage von Entweder-Oder
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Diejenigen, die glauben, dass wir in Europa zwischen Nationalstaaten und europäischer Integration wählen müssen, liegen falsch. Es gibt einen dritten Weg zwischen einem „Schmelztiegel“ amerikanischer Art und dem Nationalismus, der in Europa in den letzten zweihundert Jahren vorherrschend war und für viele Generationen verheerende Schäden angerichtet hat.

In der gesamten öffentlichen Debatte über die europäische Integration, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, ist mir ein Punkt besonders aufgefallen. Die Tatsache, dass die öffentliche Debatte um den Nationalstaat und Europa fast immer eine falsche Dichotomie darstellt: entweder wählen wir unsere nationale Identität, oder wir wählen Europa. Entweder wir zeigen uns solidarisch mit unserer Nation oder mit Europa. (Professor Nicholas Boyle aus Cambridge schrieb einen sehr guten Artikel über diese Dichotomie in England für The New European.) Wir haben diese Polarisierung im Rahmen der Brexit-Kampagne in vollem Umfang gesehen, und wir sehen es bei Le Pen in Frankreich und Geert Wilders in den Niederlanden.

Befürworter dieser Dichotomie argumentieren, dass Demokratie notwendigerweise auf einem Staat mit einem Volk basiert. Auch wenn ich der Meinung bin, dass eine gemeinsame Identität für eine gut funktionierende Demokratie von entscheidender Bedeutung ist, gibt es keinen Grund, warum diese Identität keine europäische sein kann. Die kulturellen Unterschiede sind in einigen Punkten zwar substantiell, aber sie sind nicht so groß, wenn es um wesentliche Werte wie Freiheit und Solidarität geht. Tatsächlich scheinen die Unterschiede heutzutage innerhalb der Nationen viel größer zu sein. Nehmen Sie als Beispiel einen niederländischen Wilders-Wähler, der sich wahrscheinlich eher mit einem nationalistischen, französischen Front National-Wähler als mit mir, einem linken Progressiven, verbunden fühlen wird. Das weist auf etwas sehr Wichtiges hin: dass die europäische Identität bereits existiert, auch bei den Nationalisten in Europa.

Eine gemeinsame europäische Identität

Ich frage Nationalisten, mit denen ich über die EU diskutiere, gern, ob sie immer noch gegen europäische Integration wären, wenn die EU ihre politischen Ideen in die Tat umsetzen würde. Die Meisten antworten mit nein.

Eine gemeinsame Identität ist wesentlich für eine Demokratie, aber wir sind vielleicht nicht so weit von der europäischen Bevölkerung entfernt, wie oft angenommen wird. Ein weiteres interessantes Argument bezüglich der Vielfalt Europas, das ich ansprechen möchte, könnte jedoch noch wichtiger sein.

Es wird behauptet, dass die Stärke Europas in der Vergangenheit die Vielfalt gewesen sei, die, so wird es argumentiert, von der EU, und damit von jeglicher Form der politischen Integration in Europa, durch Harmonisierung und Zentralisierung untergraben würde. Auch hier kann man eine Dichotomie erkennen: Entweder wir schützen die Vielfalt Europas oder wir werden zu einem Schmelztiegel nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten, durch den die Schönheit der verschiedenen Kulturen Europas verloren geht. Ich stimme zu, dass es gilt, die Vielfalt Europas zu schätzen und zu schützen ist und dass sie Teil der Stärke Europas ist.

Die Schönheit Europas, dieses kleinen Fleckchens Erde auf unserem Planeten, ist seine vielschichtige Diversität. All die verschiedenen Nationen, Städte, Sprachen, Geschichten, Bräuche und Kulturen sind genau der Grund, der Europa für Menschen von anderen Kontinenten interessant macht. Es ist auch der Grund, warum ich, nachdem ich die Schule beendete, jeden Sommer durch Europa reiste und immer wieder Neues entdeckte.

Die Vielfalt, von der Kritiker sagen, dass sie eine dauerhafte europäische Integration verhindere, macht Europa zu dem faszinierenden Kontinent und kulturellen Zentrum, das es ist. Die europäische Kultur in all ihrer großartigen Vielfalt ist etwas, auf das Europäerinnen und Europäer stolz sein können. Als niederländischer Bürger (aber zuerst, und noch wichtiger, als Europäer) bin ich stolz auf das gesamte kulturelle Erbe, das dieser Kontinent hervorgebracht hat. Von Picasso bis Daubigny, van Gogh, Munch, Homer, Goethe, Kafka, Voltaire, Picasso, Woolf: Sie alle sind Teil des großartigen kulturellen Erbes, das unser Kontinent uns geschenkt hat. Hier wurde Kunst, Musik, Literatur, Philosophie und Wissenschaft hervorgebracht, die unser Leben prägen.

Die kulturelle Vielfalt ist nicht nur ein Wert an und für sich, sondern bietet auch ein enormes Potenzial zur Lösung von Problemen und zur kulturellen Verjüngung. Die verschiedenen Arten, auf die wir die Welt und unsere Probleme betrachten, sind unsere Stärke, denn ihre Lösung erfordert immer verschiedene Ansätze.

Gemeinsam stärker

Gleichzeitig können und sollten wir auch viel mehr zusammen machen. Länder, die alleine agieren, haben deutlich weniger Einfluss, wenn es um so wichtige Themen wie Wirtschaftspolitik -der globale Kapitalismus sorgt dafür, dass Nationalstaaten diese nicht allein gestalten können-, Geopolitik, Handel, Sicherheit und die Energiewende geht. Gemeinsam haben wir viel mehr Einfluss auf unser Schicksal. Darüber hinaus ist es auch eine Frage der Effizienz: Ein gemeinsames Militär sowie gemeinsame Außenpolitik sind naheliegende Beispiele.

Ob wir es wollen oder nicht, wir werden weiterhin Nachbarn bleiben. Wir werden weiterhin die jeweils anderen europäischen Länder besuchen, um Ferien zu machen, zu arbeiten oder zu studieren. Teil von Europa zu sein, ist geografisch gesehen unvermeidlich. Schlussendlich müssen wir dafür sorgen, dass es funktioniert. Der Rückzug in unsere eigenen Länder ist keine Option, weil die Probleme, mit denen wir in der Welt aktuell konfrontiert sind, einen so internationalen Charakter haben.

Nehmen wir zum Beispiel meine linken Freunde. Sie sehen in der EU oft eine neoliberale Organisation, die darauf aus ist, die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu zerstören. Ich stimme zu, und ich denke, es herrscht Einigkeit darüber, dass es enorme Probleme mit der EU gibt, so wie sie ist. Aber es wird immer Probleme in der Politik geben, nie werden wir die Utopie erreichen, in der alles gelöst ist. Das Problem wenn man gegen die europäische Integration eintritt besteht darin, dass die Ideale der Linken auch nicht auf Grundlage der europäischen Nationalstaaten verwirklicht werden. Das liegt daran, dass der Kapitalismus ein globales Biest ist. Je mehr ökonomische Macht man besitzt, desto mehr Einfluss hat man. Und das ist auch der Grund dafür, weshalb linke Brexit-Befürworter in Großbritannien schrecklich enttäuscht sein werden.

Nationalität - ein definierender Teil unserer Identität?

Ein weiterer Punkt, der an dieser Stelle angesprochen werden muss, ist der Irrglaube, das Nationalität das einzige definierende Element der eigenen Identität sei. Die Menschen haben eine sehr unterschiedliche Identität, die aus einer ganzen Reihe von Identitäten besteht. Dabei spielen Punkte wie die Stadt oder Region aus der man kommt, aber auch der eigene Beruf oder ein Sport eine große Rolle. Das heißt nicht, dass die Identifikation mit dem Staat nicht wichtig ist, besonders in einer Demokratie, aber es gibt keinen Grund, warum diese Identität nicht auch eine zusätzliche Ebene haben könnte.

Ich persönlich, wenn ich in Berlin bin, bin mir meiner niederländischen Wurzeln bewusst. Wenn ich in Spanien bin, merke ich, dass ich von meinen Einstellungen her und der Art, wie ich lebe, aus Nordeuropa komme. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich nicht auch erkenne, dass ich immer noch in Europa bin und mich nicht europäisch fühlen kann. Es bedeutet auch nicht, dass ich Deutschland und Spanien nicht für ihre Einzigartigkeit und was sie zu meinem europäischen Bewusstsein beitragen, lieben kann. Sich damit zu identifizieren, woher man kommt ist völlig in Ordnung. Es ist auch nichts, was irgendein europäischer Föderalist wie ich, zurückweisen sollte. Wir wollen uns nur für eine andere Ebene als Teil unserer Identität stark machen: eine europäische Nation, die auf unseren gemeinsamen positiven Werten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruht.

Ich möchte eine föderale europäische Republik sehen, die das empfindliche Gleichgewicht zwischen zwei Extremen findet. Ich möchte eine europäische Republik, die die Vorteile von Solidarität und Kooperation nutzt und gleichzeitig die verschiedenen europäischen Kulturen als etwas an sich Wertvolles anerkennt.

Mit anderen Worten, ich möchte eine europäische Integration, die über die falsche Dichotomie hinausgeht und allen europäischen Völkern eine sichere, wohlhabende Republik bietet, in der jeder seine eigene regionale Kultur genießen und mit der Erkenntnis leben kann, dass wir alle am Ende europäische Brüder und Schwestern sind, die eine gemeinsame Identität, Geschichte und Zukunft teilen.

Das kann die Chance sein, unseren alternden Kontinent kulturell und wirtschaftlich zu verjüngen und ihm eine strahlende Zukunft zu geben. Wir müssen uns in Europa wiederfinden. Kulturell und wirtschaftlich bewegen wir uns nirgendwohin. Das Wirtschaftswachstum stagniert, und selbst wenn es Wachstum gibt, sehen wir heute kaum einen Anstieg der Reallöhne. Europa riskiert, für andere nur eine touristische Destination zu werden, und wenn wir nicht die nächsten Schritte in die Zukunft unternehmen, steht dem nichts im Wege. Jetzt ist es an der Zeit, die Dichotomie zu überwinden und Europas Zukunft und seinen Platz in der Welt zu sichern.

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