Europa und die Türkei – Scheidung ohne Heirat?

, von  Bülent Bilgi

Europa und die Türkei – Scheidung ohne Heirat?
Angehörige der UETD in Köln bei einer Kundgebung anlässlich der Proteste in der Türkei 2013. Adaption based on a picture by © Raimond Spekking / Wikimedia / CC BY-SA 3.0 license (via Wikimedia Commons)

Bülent Bilgi meint, dass die Türkei und Europa aneinander vorbeireden. Das von europäischer Seite kritisierte Vorgehen der Regierung Erdogan gegen die Opposition begründet er als Maßnahmen gegen den Terror. Er spricht sich für eine Fortsetzung der EU-Beitrittsgespräche aus. Beide Partner seien aufeinander angewiesen. Eine Trennung würde der Türkei und Europa schaden.

Europa und die Türkei argumentieren windschief

Das Hauptproblem zwischen der EU und der Türkei ist die teilweise fehlerhafte und nicht funktionierende Kommunikation. Derzeit redet man aneinander vorbei und greift die Argumente des jeweils anderen nicht auf. Und wenn sie aufgegriffen werden, dann legt die EU eine starre Perspektive dar, definiert international anerkannte Termini in einem völlig anderen Kontext und die Türkei ist oftmals unzureichend im Bereich der Selbsterklärung.

François-Marie Arouet alias Voltaire sagte einmal: „Wenn du mit mir konversieren möchtest, definiere erst deine Termini“. Genau an diesem Punkt sollte man ansetzen. Was bedeutet Terrorismus? Wann ist jemand ein Aktivist und wann ein Terrorist? Was bedeutet Journalismus? Darf sich jemand - unter dem Deckmantel des Journalismus oder der Immunität – auch außerhalb des gesetzlichen Rahmen bewegen?

Bevor man miteinander spricht, sollte man sicherstellen ob man auch das gleiche unter einer „Begrifflichkeit“ versteht. Nach Definition der Begrifflichkeit sollte auch eine objektive Anwendung folgen, die für jedes Land gleichermaßen gilt. Zunächst sollten sowohl die EU als auch die Türkei die Geschehnisse der Vergangenen Wochen und Monate auf sich wirken lassen, anschließend mit einem kühlen Kopf die Gespräche führen und versuchen sich in die Lage des jeweils anderen zu versetzen. Beide Seiten müssen das aneinander „zuhören“ und „verstehen“ wieder erlernen.

Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise, wie sie es nie zuvor gab!

Die Probleme, die Europa zu bewältigen hat, sind immens: BREXIT, Flüchtlingskrise, Rechtsruck, Finanzkrise/Eurokrise, Abwendung Europas von den zurecht hochgelobten „europäischen/universellen Werten“, demographische Fehlentwicklung, Energieversorgung, Sicherheit, Regierungskrise in Italien, der drittgrößten Volkswirtschaft, um nur einige zu nennen... Europa wird in sich zusammenbrechen, wenn sie nicht diesen Berg von Problemen – selbstbewusst - abbaut. Einen Teil dieser Probleme kann Europa alleine abbauen, ohne die Türkei kann sie jedoch die Probleme wie Flüchtlingskrise, Rechtsruck, demographische Fehlentwicklung, Energieversorgung, Sicherheit, usw. nicht lösen. Die Türkei könnte die EU entlasten und wäre somit eine Bereicherung.

Die Türkei durchläuft eine schwierige Phase und braucht die Unterstützung seiner Partner!

Nach der Regierungsbildung im Jahre 2002 hat die AK Partei um Erdogan einen in der Türkei nie dagewesenen Wirtschaftsboom erlangt. Im Jahr 2002 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der Türkei 3.576,23 Dollar und im vergangenen Jahr lag dieser Wert bei 9.316,76 Dollar (Quelle: Statista). Der wirtschaftliche Erfolg, erlangt durch die AK Partei Regierung, konnte somit nicht verleugnet werden. Das Land gehört nun zu den 20 wichtigsten Wirtschaftsnationen und damit zur G20. Es entstand eine Mittelschicht in der Türkei, die der alten Elite, den sogenannten „Weißen-Türken“ nicht willkommen war, die Ihre Machtposition nun gefährdet sahen. Erdogan und seine Partei waren den „Weißen-Türken“, den alten Eliten nun offenkundig ein „Dorn im Auge“.

Lesen Sie hier den Artikel von Arthur Molt zu diesem Thema.

In der Amtszeit von Erdogan wurden Gespräche mit den Abgeordneten der HDP (Pro-PKK Partei) und den Vertretern der Terrororganisation PKK geführt, um das Land von den Fesseln des Terrors zu befreien. Viele seiner Mitstreiter und auch Oppositionelle bezeichneten diesen Friedensprozess als politischen Selbstmord den Erdogan dennoch führte. Die PKK brach diesen Friedensprozess ab, in dem sie zwei Polizeibeamte im Südosten der Türkei im Schlaf exekutierte. Durch den Frieden würde die PKK ihre Daseinsberechtigung verlieren und Mitstreiter im Drogen-, Menschenhandel und Schutzgelderpressung entbehren. Während dieser Phase konnten sich die Politiker der HDP nicht von der PKK emanzipieren. Den Abgeordneten der HDP wurde vorgeworfen, als Kuriere für die PKK fungiert zu haben, diese Vorwürfe stritten die HDP-Abgeordneten nicht ab. Des Weiteren nahmen einige Abgeordnete an Beerdigungsfeiern der Selbstmordattentäter der PKK teil. Man stelle sich einmal vor, Abgeordnete des Bundestages würden an Beerdigungsfeiern von DAESCH Terroristen teilnehmen und diese verherrlichen...?! Im Mai diesen Jahres beschloss das türkische Parlament - mit Zustimmung der gesamten Opposition die Aufhebung der Immunität von 138 Abgeordneten, darunter 27 Abgeordnete der regierenden AKP, 51 Abgeordnete der CHP (größte Oppositionspartei), 50 Abgeordnete der HDP (Pro-PKK Partei), 9 Abgeordnete der MHP (nationalistische Oppositionspartei) und 1 parteiloser Abgeordneter. Bis auf Abgeordnete der HDP (Pro-PKK Partei) leisteten alle anderen Abgeordneten den Einladungen der Staatsanwaltschaft folge. Nachdem mehrere Einladungen an die HDP Abgeordneten fruchtlos blieben und diese die Termine verstreichen ließen, ließen sich die HDP Abgeordneten medienwirksam abholen und sich als Opfer der türkischen Justiz darstellen.

Als Erdogan merkte, dass Gülenisten (FETÖ) den gesamten Staatsapparat (Polizei, Justiz, Militär, Bildungswesen, usw.) unterwandert hatten, Prüfungen fälschten, Gerichtsverfahren beeinflussten gab es eine weitere Bedrohung, die beseitigt werden musste. Nun sahen Gülenisten ebenfalls ihre Machtposition gefährdet und verübten einen Militärputsch, der misslang. Es ist das gute Recht der Türkei bei diesem Kampf gegen den Terror Unterstützung von seinen langjährigen Partnern zu erwarten, der leider sehr verspätet oder gar nicht erst kam. In allen Bevölkerungsschichten, quer durch alle politischen Couleurs führte diese Haltung der Partner zur großen Enttäuschung. Es ist hinzuzufügen, dass sowohl der Staatsapparat, als auch die türkische Bevölkerung - bedingt durch ihre Geschichte - resistent gegen extreme und außerordentliche Ereignisse sind, da sie krisen- & putscherprobt sind.

Europa steht vor dem Scheideweg; entweder schafft sie sich ab oder Sie emanzipiert sich und wird wieder ein globaler Akteur.

Ein Europa ohne die Türkei, aber auch eine Türkei ohne Europa kann und darf es nicht geben. Die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei sind - auch wenn es „Ultra-Konservative“ Europäer oder zu neudeutsch „besorgte Bürger“ nicht wahrhaben wollen - geschichtlich, wirtschaftlich, sicherheitspolitisch aber auch mittlerweile kulturell dermaßen miteinander verwachsen, dass eine Trennung zwar möglich ist aber für beide Seiten nicht ratsam wäre, denn im Falle einer Trennung gäbe es auf beiden Seiten mittel- bis langfristig große Schäden. Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist eine ähnliche Krisensituation wie sie derzeit in Europa vorzufinden ist vollkommen unbekannt. Die aktuellen Ereignisse machen die europäische Bevölkerung anfällig und radikal in Ihrer Reaktion. Nur so ist die Auferstehung rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen in England, den Niederlanden, in Frankreich, in Österreich, in Deutschland, in Ungarn, usw. zu erklären. Die Europäische Union wird sich nun entscheiden müssen, möchte sie nur sich selbst schützen, eine „Sicherheitszone“ mit hohen Mauern errichten und sich zurückziehen, oder gemeinsam mit der Türkei - in allen Belangen - eine vorbildhafte, starke, selbstbewusste Europäische Union neu aufbauen. Somit hätte die Europäische Union ein Muster geschaffen, den Muslimen in der Welt und vor allem ihren eigenen muslimischen Mitbürgern aufrichtig bewiesen, dass Sie nicht nur eine christliche Union sein möchte.

Ich träume von einer großen und toleranten, föderalen europäischen Familie, die frei von Vorurteilen ist, für freiheitlich demokratische Grundwerte ist, für die sie mal stand. Ich bin zuversichtlich.

Lesen Sie die Beiträge anderer Autoren zu diesem Thema:

Pascal Langer

Arthur Molt

Alp Deniz

Redakteur Rubrik Kontrovers: Arthur Molt

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