Vorneweg: Trotz des Kriegs Russlands gegen die Ukraine und weiterer, neuer Bedrohungen für die europäische Demokratie, haben die Hälfte aller wahlberechtigen Menschen in der EU nicht von diesem Recht Gebrauch gemacht. Nur etwa die Hälfte, nämlich 51,1% stimmten ab, was kaum einen Zuwachs zu 2019 bedeutet, als die Wahlbeteiligung bei 50,66% lag.
Gewählt wurde die Zusammensetzung des neuen Europäischen Parlaments und insgesamt erreichten die klar pro-Europäisch eingestellten Parteien weiterhin eine klare Mehrheit: Zwar mussten Liberale und Grüne große Verluste einstecken, aber die beiden großen Fraktionen - die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten - haben dazu gewonnen oder nur minimale Verluste erzielt.
In Deutschland und Frankreich konnten rechts-extreme und nationalistische Parteien große Gewinne erzielen, doch in anderen Ländern, etwa in Skandinavien, war das Gegenteil der Fall:
Frankreich: die Rechte im Mainstream?
Marine le Pen, die für den Rassemblement National die nächste französische Präsidentin werden möchte, hat mit ihrem Spitzenkandidaten Jordan Bardella ein so gutes Ergebnis eingefahren, dass der liberale Präsident Emmanuel Macron Neuwahlen für das französische Parlament ausgerufen hat: Mit 32% haben rund ein Drittel der Französ*innen für eine Partei gestimmt, die noch bis vor kurzem den „Frexit“ gefordert hatte. Die Nichte le Pens, Marion Maréchal, trat für die Partei Reconquete an und holte mit einer migrations- und LGBTQ-feindlichen Kampagne 7%. Insgesamt stehen die französischer Rechten so also bei fast 40% - die liberale Parteiengruppierung um Macron kommt auf gerade einmal 15 Prozent.
Damit geht einher, dass die liberale Fraktion „Renew Europe“ im Europäischen Parlament nun nicht mehr von den französischen Abgeordneten dominiert sein wird. Das ist spannend, da sich diese in inhaltlichen Fragen oft sehr uneins waren, vor allem mit ihren deutschen Kolleg*innen aus der FDP. Etwa forderten die liberalen Abgeordneten von Macrons „Renaissance“-Partei mehr gemeinsame EU-Schulden, was Liberale aus Deutschland etwa stark ablehnten. In Frankreich selbst ist das nun aber nicht der Fokus der politischen Debatte: Alle Augen richten sich nun auf die Wahlen der Nationalversammlung, die bereits am 30. Juni und 7. Juli stattfinden werden. Eine rechte Mehrheit, auch zusammen mit den Republikanern, scheint möglich zu sein.
Deutschland: eine schwache Ampel
Auch in Deutschland konnten rechte Parteien Gewinne einfahren, allen voran die AfD, die mit knapp 16% zweitstärkste Kraft und in vielen Wahlkreisen im Osten Deutschlands die stärkste Partei geworden ist - und das trotz zweier Spitzenkandidaten, die in Spionageskandale für Russland und China verwickelt waren. Klarer Gewinner der Wahl ist die CDU/CSU, die mit 29 Abgeordneten ins Parlament einziehen wird: Das zeigt auch, dass sich viele Deutsche eine weitere Amtszeit von Ursula von der Leyen als Chefin der EU-Kommission wünschen.
Die SPD kommt in Deutschland nur auf 13,9% der Stimmen und schneidet somit historisch schlecht ab. Das bedeutet, dass sowohl Emmanuel Macron und Olaf Scholz von den Wähler*innen abgestraft wurden. Auch die Grünen mussten Federn lassen, waren sie bei den vergangenen Wahlen noch zweitstärkste Kraft, erhalten sie jetzt nur knapp die Hälfte (11,9%).
Auf einen Schlag schaffte es das neue Bündnis von Sahra Wagenknecht ins Europäische Parlament: Das BSW wird zukünftig mit 6 Abgeordneten in Brüssel und Straßburg vertreten sein, ein Sitz mehr als die FDP. Für die Linke werden nur noch 3 Abgeordnete im Parlament sitzen. Generell zeigt das Ergebnis, dass kleinere Parteien bei Europawahlen erfolgreich sein können: So schafft die Europapartei Volt ein bemerkenswertes Ergebnis und wird in Zukunft ebenfalls mit 3 deutschen Abgeordneten vertreten sein.
Italien: Bestätigung Melonis
In Italien werden die regierenden Parteien weniger abgestraft als in Frankreich und Deutschland. Die „Fratelli d‘Italia“ von Premierministerin Giorgia Meloni werden mit mehr als 28% stärkste Kraft, allerdings gibt es einen Rückschlag für die rechte „Lega“ von Matteo Salvini, die nur auf knapp 9% kommt. Bei den Wahlen 2019 hatte die Partei noch 34 Prozentpunkte geholt. Zusammen mit der dritten rechten Regierungspartei „Forza Italia“, die bei knapp 10% liegt, ergibt das aber immer noch ein starkes Ergebnis für die rechten in Italien.
Mit 24,11% landet die Demokratische Partei, die der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament angehört, auf Platz zwei im Land. In der S&D Fraktion ist sie somit die größte Partei und wird wohl die*den Fraktionsvorsitzende*n stellen. Auch die Grünen konnten dazu gewinnen und verdoppelten ihre Anteile auf etwa 6%. Insgesamt unterstützen die Wähler*innen in Italien allerdings den rechten Kurs der Regierung.
Polen: ein Kopf-an-Kopf Rennen
Das Ergebnis der Europawahl in Polen war mit Spannung erwartet worden, nachdem die EU-kritische PiS-Partei im letzten Jahr auf nationaler Ebene abgewählt wurde. Die Partei von Premierminister Donald Tusks „Bürgerplattform“ kam mit 37% auf den ersten Platz bei den Wähler*innen und konnte somit das Ergebnis verteidigen - das war nicht unbedingt erwartet worden. Die PiS liegt allerdings mit weniger als einem Prozentpunkt dahinter. Außerdem konnte die rechtsextreme Partei “Konfederacja” mit etwa 13% einen Erfolg feiern, während die Koalitionsparteien von Tusk, der christdemokratische „Dritte Weg“ und die Linke Stimmen verloren, und jeweils 7% und 6% erreichten. Also ein gemischtes Bild in Polen, in dem der EU-Wahlkampf von nationalen Themen geprägt war.
Ungarn und die Slowakei: Gewinne für die Opposition
Bis vor kurzem schienen Fico und Orbán, die Regierungschefs der Slowakei und Ungarn unantastbar. Beide haben in ihren jeweiligen Ländern eine breite Wähler*innenbasis und traten in der Vergangenheit oft sehr autoritär auf, unter anderem mit Repressionen für die Zivilgesellschaft oder die Opposition. Andere Parteien waren in der Slowakei und in Ungarn bisher unpopulär. In den letzten Monaten hat sich jedoch einiges geändert: In Ungarn sorgt Péter Márki-Zay, ein ehemaliger Fidesz-Insider, mit seiner neuen Partei TISZA für Aufsehen. Nur drei Monate nach Gründung ist Márki-Zay bereits der führende Oppositionspolitiker und kämpft etwa gegen die Korruption in der regierenden Fidesz-Partei. In Ungarn gewann diese zwar mit 44,6 % der Stimmen, blieb aber hinter den Umfragen zurück. Es war das erste Mal seit 2004, dass sie bei einer nationalen Wahl unter 50% lag und die Partei verlor in einigen ihrer Hochburgen bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen. Die TISZA-Partei erreichte fast 30 % der Stimmen und ist nun die Hauptoppositionspartei.
In der Slowakei hat sich die pro-europäische Partei Progressive Slowakei (PS) als wichtige Oppositionspartei etabliert. Sie gewann die Wahl und errang zwei zusätzliche Sitze mit 27,8 % der Stimmen. Trotz Erwartungen, dass der Attentatsversuch auf Fico seiner Partei, der SMER helfen würde, erzielte PS das beste Ergebnis in der Geschichte der slowakischen EU-Wahlen. Ihr Stimmenanteil übertraf die Umfragen um vier Punkte und war doppelt so hoch wie 2019, ein gegenteiliger Trend zum Narrativ des „Rechtsrucks“.
27 nationale Perspektiven und ein Amt: Wer wird neue Kommissionspräsident*in?
Nach der Wahl des Europäischen Parlaments ist immer auch vor der Wahl der neuen Kommissionspräsident*in. Der Vertrag von Lissabon regelt klar, dass der Europäische Rat und somit die Regierungschef*innen der 27 Mitgliedsstaaten mit qualifizierter Mehrheit eine Kandidat*in für den Kommissionspräsidentschaftsposten benennen. Leichter gesagt als getan, da hier 27 nationale, sich teils widersprechende Präferenzen aufeinander stoßen. In Deutschland beispielsweise wurde bereits im Koalitionsvertrag festgelegt, dass, sollte die EU-Kommissionspräsident*in nicht aus Deutschland kommen, die Grünen das Vorschlagsrecht für die deutsche EU-Kommissar*in bekommen.
Vor fünf Jahren nach der letzten Europawahl war dieser Prozess besonders pikant, da sich der Europäische Rat hinter Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin stellte, die im Wahlkampf gar nicht angetreten war und nicht etwa für den Spitzenkandidaten der stärksten politischen Gruppe, den CSU-Politiker Manfred Weber.
Das Spitzenkandidat*innenprinzip
Vor den Europawahlen 2014 begannen die europäischen Parteien, sogenannte Spitzenkandidat*innen aufzustellen, was zu der Kommissionspräsidentschaft von Jean-Claude Juncker (2014-2019) führte. Bei der Wahl 2019 wäre dies eigentlich Manfred Weber gewesen, doch der Rat entschied sich, das Prinzip zu umgehen und ernannte Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin. Ziel des Spitzenkandidat*innenprinzip war ursprünglich auch auf europäischer Ebene für mehr Bürger*innennähe zu sorgen. Gemäß dem Prinzip sollte das Amt der Kommissionspräsident*in automatisch an die Person vergeben werden, die Spitzenkandidatin der Partei mit den meisten Stimmen war.
Für die diesjährigen Wahlen haben insgesamt sechs Parteien Spitzenkandidat*innen aufgestellt, darunter unter anderem die aktuelle deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (EVP), der luxemburgische EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte Nicolas Schmit (Sozialdemokraten), die deutsche Außen- und Sicherheitspolitikerin Strack-Zimmermann (Liberale) und das grüne Spitzenkandidat*innenteam Terry Reintke und Bas Eickhout. Nach den Wahlergebnisse müsste somit eigentlich Ursula von der Leyen die Chance auf eine zweite Amtszeit haben, aber bereits vor den Wahlen wurde spekuliert, dass Macron, der bei der letzten Wahl von der Leyens maßgeblicher Fürsprecher war, den ehemaligen italienischen Premier Mario Draghi als neuen Kommissionspräsidenten präferiere.
Die erste Plenartagung
Vor der ersten Plenartagung der neuen Legislaturperiode werden die Abgeordneten Fraktionen auf der Grundlage gemeinsamer politischer Vorstellungen bilden. Während der letzten Legislaturperiode waren dies sieben Fraktionen, der Ausschluss der AfD aus der Fraktion ID zwei Wochen vor der Wahl, wird aber sehr wahrscheinlich zu der Bildung einer neuen ultrakonservativen Fraktion führen- vielleicht auch wieder unter dem Dach der ID. Auf der ersten Plenartagung vom 16.-19.Juli wird das Parlament seine neue Präsident*in, Vizepräsident*innen und die Quästor*innen wählen. Es wird auch über die Anzahl der Abgeordneten pro Ausschuss des Parlaments entscheiden werden.
Auch die Bestätigung der Präsident*in der Europäischen Kommission gehört zu einer der ersten Aufgaben des neuen Parlaments. Die vom Europäischen Rat vorgeschlagene Kandidat*in für die Kommissionspräsidentschaft wird aufgefordert, vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments eine Erklärung abzugeben und an einer Plenardebatte mit ihnen teilzunehmen. Anschließen führen die Abgeordneten eine geheime Abstimmung durch, in der die Kandidat*in die Unterstützung von mindestens der Hälfte aller Abgeordneten plus eine Person erhalten muss. In einem weiteren Schritt muss das Parlament dann zu einem späteren Zeitpunkt die von der designierten Kommissionspräsidentin vorgeschlagene Kommission als Ganze bestätigen.
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