EU-Türkei: Auf einen gemeinsamen Nenner kommen

, von  Arthur Molt

EU-Türkei: Auf einen gemeinsamen Nenner kommen
Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Nur hohle Begriffe? Außenminister Cavusoglu sollten sie aus den Gesprächen mit EU-Vertretern bekannt sein. © Estonian Foreign Ministry / Flickr/ CC

Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei leiden an gegenseitigen Vorwürfen. Statt diplomatisch Konflikten aus dem Weg zu gehen, hilft eine klare Aussprache. Die Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit liegen weit auseinander. Langfristig gibt es dennoch vieles, was verbindet.

In seinem Beitrag von letzter Woche stellt Herr Bülent Bilgi, Generalsekretär der UETD, fest, dass die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei daran litten, dass man aneinander vorbeirede und die Argumente des jeweils anderen nicht aufnehme.

Ein Missverständnis liegt vor. Das ist der diplomatische Ausdruck, wenn eigentlich ein Konflikt vorliegt. Weil ich mich als Autor nicht an diplomatische Gepflogenheiten halten muss, möchte ich genau diesen Konflikt ansprechen. Eine ehrliche, respektvolle Auseinandersetzung finde ich hier angebrachter als diplomatische Zurückhaltung.

Die Begriffe klarstellen, Konflikte ansprechen

Herr Bilgi fordert in seinem Beitrag, dass Termini genau definiert werden. Ich halte dies ebenfalls für notwendig. Viele Begriffe die wir selbstverständlich gebrauchen sind reine Leerformeln, wenn sie nicht klar definiert werden und in der Praxis mit Leben erfüllt werden.

Der eigentliche Wertekonflikt zwischen der Türkei unter Erdogan und der EU zeigt sich gerade daran, welch unterschiedliches Verständnis wir von zentralen Begriffen haben. Wenn die AKP die Einführung der Todesstrafe als demokratisch begründet ansieht, weil sich die Mehrheit der Bevölkerung dies angeblich wünscht, dann ist das ein anderer Begriff von Demokratie als er von einem überwiegenden Teil der europäischen Parteien vertreten wird.

Demokratie lässt sich für mich nicht ohne Gewaltenteilung, ohne die Kontrollfunktionen der Opposition, einer freien Presse und Justiz definieren.

Mit der HDP wurde ein wesentlicher Teil der Opposition in der Türkei ausgeschaltet, indem ihnen die Immunität aberkannt wurde. Immunität ist kein „Deckmantel“ sondern eine rechtliche Institution, die Abgeordneten des Parlaments bei der Ausübung ihres Mandats Schutz vor Strafverfolgung bietet. Sie muss allen Abgeordneten unabhängig von ihrer Fraktionszugehörigkeit gewährt werden.

Was den Begriff des Terrorismus anbelangt, so hat der Europäische Rat 2002 in einem Beschluss eine gemeinsame Definition vorgelegt. Unter den objektiven Elementen muss demnach zuerst nachgewiesen werden, dass eine Straftat wie Mord, Körperverletzung, Geiselnahme, Erpressung, Begehung von Anschlägen, Drohung begangen wurde. Das Wort Nachweis muss hier betont werden und führt zu einem anderen wichtigen, wenn nicht sogar dem wichtigsten Rechtsprinzip überhaupt. Der Unschuldsvermutung.

Hilfe bei der Terrorismusbekämpfung, nicht bei politischen Säuberungen

Bülent Bilgi fordert, dass „nach Definition der Begrifflichkeit auch eine objektive Anwendung folgen sollte, die für jedes Land gleichermaßen gilt“. Diesem Wunsch nach universellen Rechtsprinzipien – sofern er ernst gemeint ist – kann ich mich nur anschließen. „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“, heißt es nicht umsonst in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

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Unschuldig bis zum Beweis der Schuld. An diesem Prinzip orientieren sich die Partner der Türkei in EU und NATO. Die Forderungen der Türkei, Menschen wegen angeblicher Beteiligung am Terrorismus auszuweisen werden genau aus diesem Grund abgelehnt: deren Schuld ist nicht bewiesen. Die EU hat Hilfe bei der Terrorismusbekämpfung zugesagt. Hilfe zur politischen Säuberung wird sie hoffentlich nicht leisten.

Auf die Forderung Erdogans beispielsweise, den Prediger Gülen auszuweisen antwortete US-Außenminister Kerry, dass das Justizministerium, die Sache prüfe.

Behauptungen und Vorwürfe belasten die EU-Türkei-Beziehungen

Unbewiesene Behauptungen haben im Verhältnis zwischen der Türkei und der EU große Konjunktur. Der Westen unterstütze den Terrorismus, das Drehbuch des Putsches sei im Ausland geschrieben worden, behauptete Präsident Erdogan im August.

Auch die Argumentation von Herrn Bilgi ist auf zwei Behauptungen aufgebaut. Die Bewegung um Fethullah Gülen sei für den Putsch verantwortlich. Die HDP sei schuld an den terroristischen Anschlägen der jüngsten Vergangenheit. Diese Lesart der Ereignisse ist in der Türkei weit verbreitet. Schon allein, weil Journalisten, die diese Behauptungen kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, eingesperrt wurden. Erhärtete Beweise gibt es jedoch nicht.

Eine Erzählung wird nicht wahr, weil sie oft genug wiederholt wird. Deswegen erstaunt mich, dass auch der türkische Botschafter Selim Yenel in seinem gestrigen Beitrag ohne jeden Zweifel wiederholte, dass Fethullah Gülen für den Putsch verantwortlich ist. Als wäre dies bewiesen. Ganz zu schweigen von der Mitschuld all derer, die in Windeseile aus dem Staatsdienst entlassen oder verhaftet wurden.

Meinungsfreiheit. Darauf beruft sich, wer Kritik an nicht nachprüfbaren Behauptungen zurückweisen möchte. Auch die Meinungsfreiheit droht zur Leerformel zu verkommen, wenn wir ihr nicht die Pflicht zur Seite stellen, seine Meinung zu begründen.

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EU-Türkei-Abkommen: Hilfsgelder kommen. In Raten. Projektbezogen.

Pascal Langer signalisiert Verständnis für die „verbalen Attacken und Drohungen“ vonseiten der Türkei. Auch hier müssen die Fakten zuerst geprüft werden.

Die Vorwürfe Präsident Erdogans, die EU habe bisher „nur symbolische Beträge von ein bis zwei Millionen“ bezahlt, wurden von der Europäischen Kommission zurückgewiesen. Von den bis 2017 versprochenen 3 Milliarden wurden bis Ende Juli 2,15 Milliarden Euro an Hilfsorganisationen gezahlt. Mit 300 Millionen Euro wird das türkische Bildungsministerium bei der Beschulung von geflüchteten Kindern unterstützt.

Im Rahmen des Abkommens im März hatten sich die EU und die Türkei darauf geeinigt zwei weitere Beitrittskapitel zu öffnen. Außenminister Davutoğlu zeigte sich mit diesem Ergebnis damals zufrieden. Dass die EU hier ihren Verpflichtungen nur teilweise oder überhaupt nicht nachgekommen sei – wie Pascal Lange schreibt – kann also bezogen auf die damaligen Verhandlungen nur für die Visafreiheit gelten.

Inzwischen hat sich die Situation verändert. „Unter den derzeit vorherrschenden Umständen werden keine neuen (Verhandlungs-)Kapitel zur Eröffnung in Betracht gezogen“, so die Position der EU-Mitgliedsländer unter slowakischer Ratspräsidentschaft. Österreich will sogar noch weiter gehen und fordert ein „Einfrieren“ der Beitrittsverhandlungen.

Langfristig denken: Es gibt mehr Verbindendes als Trennendes

Gibt es also überhaupt gemeinsame Werte und Begriffe, auf die sich die EU und die Türkei einigen können? Wer sich die Vorwürfe der AKP und die Reaktionen der Europäer anhört, sieht nicht nur unterschiedliche Wertvorstellungen sondern unterschiedliche Wahrnehmungen der Wirklichkeit aufeinanderprallen.

Der eben beschriebene Wertekonflikt verläuft nicht zwischen der EU und der Türkei. Er verläuft zwischen autoritären und liberalen Vorstellungen von Politik. Und Anhänger liberaler Vorstellungen von Demokratie finden sich auch in der Türkei. Menschen, die unter Demokratie nicht eine starke Führung verstehen, die sich auf den Willen des Volkes beruft, sondern vor allem gesetzlich verbriefte Freiheiten.

Der Autor Alp Deniz weist uns zurecht auf Umfragen hin, nach denen es in der Türkei immer noch eine Mehrheit gibt, die sich gegen einen Abbruch der Beitrittsgespräche aussprechen. Das politische Modell der EU scheint – entgegen dem düsteren Bild, das Herr Bilgi zeichnet – immer noch attraktiv zu sein.

Die EU und die Türkei verbindet mehr als die Frage nach dem EU-Beitritt. Hier kann ich Pascal Langer nur zustimmen. Die kulturellen, wirtschaftlichen und geopolitischen Verbindungen sollte keine der beiden Seiten vergessen.

Fatih Zingal, ebenfalls Mitglied des Vorstands der UETD sprach zuletzt in einer Talkshow davon, dass sich die Türkei statt Europa und den USA auch der Shanghaier Kooperationsgemeinschaft zuwenden könnte. In Europa sind viele darüber überrascht mit welcher Geschwindigkeit die Türkei und Russland nach dem Abschuss eines türkischen Kampfjets diplomatische Beziehungen abbrachen und dann wieder aufnahmen. Langfristig gedacht ist eine Westbindung der Türkei - seit 1952 NATO-Mitglied - da nachhaltiger.

Die kulturellen und gesellschaftlichen Verbindungen werden nicht zuletzt deutlich an der großen Zahl von engagierten Europäern mit türkischen Wurzeln. Im deutschen Bundestag sitzen elf Abgeordnete mit türkischen Wurzeln. Im belgischen Parlament sind es zehn Abgeordnete. Der Mediendienst Migration ermittelte, dass inzwischen 5,9 Prozent der Bundestagsabgeordneten einen Migrationshintergrund haben. Ein gutes Zeichen. Langfristig sollte sich diese Zahl jedoch erhöhen, um die steigende Zahl an Menschen mit Migrationshintergrund zu repräsentieren.

Die UETD präsentiert sich als Vertreterin der Türken in der EU und ist vor allem in Deutschland aktiv. Dass sie sich nicht von den Forderungen der AKP distanziert hatte, deutsche Abgeordnete türkischer Herkunft sollten durch einen „Bluttest“ beweisen, dass sie echte Türken sind, erstaunt.

Brauchen die Europäer türkischer Herkunft eine Vertretung durch die AKP-nahe UETD? Viele sehen ihre Interessen in den Parteien anscheinend gut repräsentiert. Türkischstämmige Wähler in der Bundesrepublik bevorzugen laut einer kürzlich veröffentlichten Studie mit 69 Prozent die SPD, danach folgen die Grünen und die Linke. Sonstige Parteien spielen mit 1,1 Prozent kaum eine Rolle.

Nach den jüngsten Anschlägen in Europa und in der Türkei wird deutlich, dass die Herausforderungen auf beiden Seiten ähnlich sind. Terroristische Anschläge verbreiten Angst. Populisten schlagen daraus Gewinn und drohen die Gesellschaft zu spalten.

Gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen nach dem Prinzip „teile und herrsche“ sichert kurzfristig Erfolge. Wir sehen das bei den Wahlerfolgen der Populisten in den USA und in Europa, aber auch an der Rhetorik eines Erdogan, der den Türken vermittelt sie seien überall von Feinden umgeben.

Langfristig gedacht ist dieser Kurs nicht zu empfehlen. Es bleibt zu hoffen, dass die Gräben innerhalb der Türkei und zwischen der Türkei und ihren europäischen Partnern zugeschüttet werden. Mit einem ehrlichen Dialog ist das möglich. Es gibt immer Grund zur Hoffnung.

Lesen Sie die Beiträge anderer Autoren zu diesem Thema:

Pascal Langer

Bülent Bilgi

Alp Deniz

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