Beitrag zum EUD-Bürgerdialog „Zwischen Blockade, Grundwerten und Solidarität: Der neue EU-Migrationspakt als Lösung“ vom 19.11.2020

EU-Migrationspakt: Mit viel Pragmatismus zum Kompromiss

, von  Fabian Waiblinger

EU-Migrationspakt: Mit viel Pragmatismus zum Kompromiss
Der EU-Migrationspakt wurde von der Kommission vorgeschlagen Bild: Graphic Recording / Julie Ricard / Lizenz

In keinem anderen Politikfeld gehen die Positionen der Mitgliedstaaten so auseinander wie bei der Migration. Während die einen die verpflichtende Verteilung von Geflüchteten innerhalb der Europäischen Union fordern, verweigern die anderen grundsätzlich die Aufnahme. Mit dem EU-Migrationspakt legt die Europäische Kommission einen pragmatischen Vorschlag für einen Kompromiss vor – auf Kosten der Humanität?

Um sich näher mit dem Inhalt des EU-Migrationspakts auseinanderzusetzen, hat die überparteiliche Europa-Union Deutschland (EUD) den Online-Bürgerdialog „Zwischen Blockade, Grundwerten und Solidarität: Der neue EU-Migrationspakt als Lösung?" organisiert. Stephan Mayer, Parlamentarischer Staatssekretär des Bundesministeriums des Inneren, und Prof. Dr. Daniel Thym, stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, stellten sich den oftmals kritischen Fragen der über 100 Teilnehmenden. Durch den Abend leitete Vera Wolfskämpfer, Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio.

Die deutsche Ratspräsidentschaft im Pech

Die Bundesregierung hat sich ein ehrgeiziges Ziel für die deutsche Ratspräsidentschaft gesetzt: Nach 5 Jahren Debatte soll endlich ein neues Abkommen abgeschlossen werden, das den Umgang Europas mit Geflüchteten regelt. Die beiden Diskutanten sind sich jedoch einig, dass dieses Ziel wohl verfehlt werde. In den nächsten vier Wochen scheine ein Kompromiss unrealistisch. Dies liege aber nicht an der Bundesregierung. Einige unglückliche Zufälle haben den Prozess erschwert: Der Vorschlag der Kommission habe sich immer weiter verzögert, die Corona-Pandemie und die anhaltenden Brexit-Verhandlungen haben politische Ressourcen verbraucht. Außerdem sei der Entwurf der Kommission hochkomplex. Selbst Expert*innen benötigen Wochen, um den Inhalt zu durchdringen. Warum eigentlich?

Die Konfliktlinien – Zwischen Abschottung und Solidarität

Grob lassen sich die Positionen der Mitgliedsstaaten in drei Gruppen unterteilen. Die Mittelmeeranrainer Spanien, Zypern, Malta, Griechenland und Italien wollen in erster Linie den Dublin-Mechanismus auflösen, der die Geflüchteten dazu verpflichtet, im Ankunftsland den Asylantrag zu stellen. Stattdessen fordern diese Länder eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten. In der zweiten Gruppe befinden sich die Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn), die sich vor allem gegen eine verpflichtende Verteilung von Geflüchteten auf alle Mitgliedsstaaten aussprechen. Eine ähnliche Position wird zum Teil von den baltischen Staaten, Österreich und den Niederlanden vertreten. Zur dritten Gruppe gehören Länder wie Deutschland, Schweden oder Irland, die eine vermittelnde Position einnehmen.

Diese verzwickte Aussichtslage erklärt, warum Stephan Mayer bereits die Tatsache, dass sich bisher kein Mitgliedsstaat kategorisch gegen den Vorschlag ausgesprochen hat, als Erfolg bezeichnet. Die Kommission habe, meint Professor Thym, einen Entwurf vorgelegt, der von jeder der drei Gruppen etwas abverlange, aber von allen akzeptiert werden kann. Auf die Kritik, dass die Kommission dabei zu sehr auf Abschottung setze, entgegnet Thym, dass Migration in vielen Mitgliedsstaaten kein Gewinnerthema sei. Wenn trotzdem die Zustimmung aller Regierungen notwendig sei, bedeute dies automatisch, dass die EU-Politik restriktiver werde.

Was steckt im Paket?

Ankommende sollen direkt an den EU-Außengrenzen einem Screening unterzogen werden, bei dem Sicherheits- und Gesundheitsfragen getestet werden. Menschen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von unter 20 Prozent werden in ein Schnellverfahren geschickt. Innerhalb von 12 Wochen soll dann über den Asylantrag entschieden werden. Professor Thym sichert jedoch zu, dass trotz des beschleunigten Verfahrens die Einzelfallbehandlung im Vorschlag der Kommission gesichert sei. Minderjährige und vulnerable Personen seien von diesem Schnellverfahren ausgenommen.

Eine verpflichtende Verteilung der Geflüchteten auf alle Mitgliedsstaaten findet nicht statt. Hier hat sich die Gruppe um die Visegrád-Staaten durchgesetzt. Allerdings muss jeder Mitgliedsstaat „Solidarität“ zeigen und sich an der gemeinsamen Aufgabe beteiligen. Zukünftig steht ihnen jedoch frei auf welche Weise: Sie können wählen, ob sie Geflüchtete aufnehmen oder die Rückführung von abgelehntem Asylbewerber*innen unterstützen. Der Parlamentarische Staatssekretär Mayer begrüßt den neuen Fokus der Kommission auf Rückführungen. Schließlich hätten ca. zwei Drittel der Ankommenden keine Chance auf einen positiven Asylbescheid.

Die Europäische Kommission setzt dabei auf das Modell der Rückführpatenschaften. Das bedeutet, dass Mitgliedsstaaten sich darauf spezialisieren, Abschiebungen in ein bestimmtes Herkunftsland zu organisieren. Konkret könnte dies z.B. bedeuten, dass Deutschland Menschen aus Marokko, die kein Asyl erhalten, aus ganz Europa in ihr Herkunftsland rückführt. Wenn dies nach acht Monaten nicht umgesetzt wird, müsste Deutschland die Menschen aus Marokko aufnehmen.

Pragmatismus auf Kosten der Humanität?

Auch wenn Mayer betont, dass er eine verpflichtende Verteilung von Geflüchteten begrüßt hätte, sieht er den Vorschlag der Kommission grundsätzlich positiv. Für die ausgedrückte Enttäuschung einer Zuschauerin, die EU verrate mit diesem Vorschlag ihre Menschlichkeit, hat Mayer wenig Verständnis. Es bestehe zwar ein Recht auf einen Asylantrag, jedoch müsste ein negativer Bescheid eine Rückführung nach sich ziehen. Dies sei nicht inhuman, sondern die Umsetzung von Recht. Ein Verzicht auf Rückführungen würde langfristig die Akzeptanz der Bevölkerung gefährden.

Professor Daniel Thym, stellv. Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, betont, dass es auf die Umsetzung des EU-Vorschlags in der Praxis ankomme. Es sei entscheidend, wie die Regeln realisiert werden. In der Vergangenheit hatten vor allem griechische Behörden Probleme, die Regeln umzusetzen. Thym fordert daher, die EU-Agenturen vor Ort stärker zu unterstützen.

Seenotrettung als humanitäre Verpflichtung


Umfrage unter den Teilnehmenden des EUD-Bürgerdialog am 19.11.2020. Foto: zur Verfügung gestellt von der Europa-Union Deutschland


Die Meinung unter den Teilnehmer*innen des Bürgerdialogs ist eindeutig: 85 Prozent sehen in einem Seenotrettungsprogramm eine humanitäre Verpflichtung der EU. Professor Thym weist darauf hin, dass die EU nie ein wirkliches Seenotrettungsprogramm gehabt hätte. Es gäbe lediglich ein Frontex-Programm, das auf bekannten Fluchtrouten durchgeführt wurde. Er relativierte das Argument der politischen Gegner*innen, wonach ein Seenotrettungsprogramm Anreize für Schlepper*innen kreieren könnte. Dafür gäbe es bisher keine empirischen Belege.

Staatssekretär Mayer betont, dass die EU keine offizielle Zuständigkeit für die Seenotrettung habe. Jedoch sei es der Wille des Bundesinnenministeriums, dass sich die EU stärker um die Verteilung von Menschen kümmere, die aus der Seenot gerettet werden. Bisher hätten sich zu wenige Länder daran beteiligt. Ob es jedoch zu einem neuen Frontexeinsatz komme, hält Mayer für fraglich. Dieses Thema stehe politisch derzeit nicht auf der Agenda.

Prioriäten in der Migrationspolitik


Umfrage unter den Teilnehmenden des EUD-Bürgerdialog am 19.11.2020. Foto: zur Verfügung gestellt von der Europa-Union Deutschland


Für eine Mehrheit der Teilnehmer*innen soll der Fokus der EU auf der Schaffung von humanitären Bedingungen für Schutzsuchende liegen. Das Ziel der effektiven Grenzkontrolle bekommt die geringste Unterstützung. Staatssekretär Stephan Mayer hält insbesondere die Bekämpfung von Fluchtursachen für wichtig. Langfristig müsse die EU erreichen, dass niemand mehr zur Flucht gezwungen wird. Professor Thym will sich nicht entscheiden, da sich die vier Punkte ergänzen würden. Ein EU-Migrationspakt müsste sie daher alle umfassen. Migration sei eine Herausforderung, die nur supranational gelöst werden könne. Daher wäre ein Scheitern des Abkommens die schlechteste Möglichkeit.

Wie ein solches Abkommen aussehen wird, ist noch fraglich. Die Verhandlungen dazu werden in der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft weiter fortgeführt werden. Der sachlich geführte Bürgerdialog hat allen Teilnehmer*innen gezeigt, wie komplex der Weg zu einem Kompromiss sein wird.


Graphic Recording / Christine Oymann / Lizenz


Dieser Beitrag ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Europa-Union Deutschland und treffpunkteuropa.de entstanden, in der wir über die bundesweite Bürgerdialogreihe „Europa? Wir müssen reden!“ berichten. Die Bürgerdialoge schaffen durch interaktive Formate den Rahmen, um auch abseits von Wahlen politische Beteiligung zu ermöglichen. Mehr Infos gibt es hier. treffpunkteuropa.de ist Medienpartner der Reihe und erhält im Rahmen dieser Partnerschaft eine Aufwandsentschädigung. Die Inhalte der Berichterstattung sind davon nicht betroffen. treffpunkteuropa.de ist frei und allein verantwortlich für die inhaltliche und redaktionelle Gestaltung seiner Artikel.

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