EU-Beitritt der Türkei: Ein Schritt vor, zwei zurück

, von  Anne Balzer

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EU-Beitritt der Türkei: Ein Schritt vor, zwei zurück
Der türkische Ministerpräsident, Recep Tayyip Erdoğan, wurde jüngst in Brüssel von EU-Kommissionspräsident Barroso empfangen. Foto © European Commission 2014

Kommendes Jahr begehen die EU und die Türkei gemeinsam ein seltenes Jubiläum - 2015 dauern die Beitrittsverhandlungen ein ganzes Jahrzehnt. Die missglückte Sperrung von Twitter, der Korruptionsskandal und das harte Vorgehen gegen die Gezi-Demonstranten lassen berechtigte Zweifel zu, dass die Verhandlungen jemals abgeschlossen werden. Zumindest mit der derzeitigen Regierung Erdogans ist der geplante Beitritt nur noch eine Farce.

Enttäuschte Hoffnungen

In ihrem Streben nach Modernisierung hat sich die Türkei immer am Westen orientiert, der EU-Beitritt war deshalb erklärtes Ziel verschiedener türkischer Regierungen. Als 2002 die Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) die Macht übernahm, schien eine vollwertige Mitgliedschaft in der Staatengemeinschaft nur noch eine Frage der Zeit. Durch ehrgeizige Reformpakete wurde unter anderem die Todesstraffe abgeschafft, Fortschritte in der Kurdenfrage gemacht und das Justizsystem neustrukturiert. Doch viele Hoffnungen wurden durch mangelndes Engagement einiger EU-Staaten enttäuscht: Frankreich knüpft einen Beitritt an ein Referendum, Merkel favorisiert eine privilegierte Mitgliedschaft. Kein Wunder, dass auf türkischer Seite seit Jahren die Hoffnung schwindet, dass ein Beitritt tatsächlich möglich ist. Zweifel sind angebracht, immerhin sind die Verhandlungen mit der Türkei die bisher am längsten währenden in der Geschichte der EU und ein Ende ist aktuell nicht in Sicht. Die Economic Development Foundation (IKV), eine Stiftung in Istanbul, begleitet die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU seit den 1960er Jahren. Der wissenschaftliche Leiter Melih Özsöz sieht die fehlenden Zeitvorgaben, bis ein Beitrittskapitel abgeschlossen sein soll, als größtes Problem: “Das stellt uns vor eine große Herausforderung und kann langfristig in einem Teufelskreis enden”, sagt er gegenüber treffpunkteuropa.de.

Das Vorbild einer muslimischen Demokratie zerbricht

Eine Regierung, die hart gegen Demonstranten vorgeht, die in einen Korruptionsskandal verwickelt ist, die Druck auf die Presse ausübt, Internetzensur betreibt und die das EU-Mitglied Zypern nicht anerkennt: Wie soll dieses Land in ein Bündnis passen, dass sich durch Demokratie und rechtsstaatliche Prinzipien vereint sieht?

Ödül Celep, Dozent an der Işık Universität in Istanbul, forscht zum Thema der türkischen Parteipolitik. Er bedauert die zunehmende Autokratisierung und Zentralisierung der Türkei, “die mit jedem Tag mehr voranschreitet und uns in eine Kategorie mit China und Russland stellt”. Europa verschwinde dabei immer mehr von der Agenda. “In den aktuellen Kommunalwahlen ist die EU kein Thema. Wir sind viel mehr mit der innenpolitischen Krise, vor allem dem Korruptionsskandal beschäftigt„, sagt Celep gegenüber treffpunkteuropa.de.“Ich erwarte auch nicht, dass die EU in den nächsten Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen eine große Bedeutung hat.”

Widersprüchliche Signale aus Brüssel

Auf der anderen Seite gibt es Themen, bei denen EU und Türkei aktuell näher zusammenrücken. Das im Februar durch das EU-Parlament bestätigte Rückübernahmeabkommen wird als Meilenstein in den Beitrittsverhandlungen gesehen. Dieses sieht vor, dass die Türkei Migranten, die illegal über die türkische Grenze in die EU einreisen, wieder aufnehmen muss. Doch auch hier wird das gegenseitige Misstrauen offensichtlich. Die Verhandlungen dauerten fast neun Jahre. Letztlich hat Ankara den lang erwarteten Dialog über Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger zur Bedingung für das Abkommens gemacht. Beide Seite knüpfen die Umsetzung der Abkommen an die Fortschritte des jeweiligen Partners.

Auch der aktuelle Fortschrittsbericht des Europäischen Parlaments sendet widersprüchliche Signale aus. Auf der einen Seite wird die Bedeutung der strategischen Partnerschaft sowie die Fortschritte der Reformen unterstrichen, gleichzeitig schaue man “besorgt” auf die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien. Die Abgeordneten sehen die darin festgeschriebenen Prinzipien einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung sowie die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei in Gefahr oder vakant. Insbesondere wird in dem Bericht auf Schwächen in der Funktionsweise des Justizsystems hingewiesen.

Noch ist nichts verloren

Trotz der aktuellen innenpolitischen Entwicklungen und der Kritik aus der EU glaubt Özsöz, dass der Beitritt langfristiges Ziel bleiben sollte. “Die bereits bestehenden engen wirtschaftlichen Verbindungen und das hohe Level der İntegration türkischer Bürger in der Union sollte auch de jure, durch die Mitgliedschaft der Türkei, anerkannt werden”, fordert er. Weder die westeuropäischen Staaten noch die türkische Gesellschaft sollten den EU-Beitritt verloren geben. Allerdings müsse sich dafür auf beiden Seiten etwas bewegen. Zunächst ist das Ergebnis der Kommunalwahlen am 30. März abzuwarten. Hier wird sich zeigen, wie viel Unterstützung die Regierung Erdoğan noch hat. “Wir brauchen einen Neuanfang„, sagt Celep.“ Der ist aber nur mit einer Koalitionsregierung ohne die AKP oder einer sozialdemokratischen Alternative möglich.”

Die Geziproteste vergangenes Jahr waren ein politisches Erwachen für viele Türken. Seitdem wird über die Politik diskutiert, gegen die neusten Gesetze protestiert und werden grundsätzliche Fragen gestellt. Wenn die demokratische Bewegung es schafft, sich langfristig zu organisieren, sollte das von den westeuropäischen Staaten honoriert werden. Eine aufgeschlossenere Verhandlungshaltung von Frankreich und Deutschland ist dann entscheidend. Das Beispiel der Türkei verdeutlicht außerdem, dass sich die Europäische Union über ihre eigene Identität klar werden und entsprechende Signale senden muss. Ist sie ein “christlicher Club” oder eine dynamische, offene Gemeinschaft? Wenn diese Frage geklärt ist, kann wieder Vertrauen entstehen und auf Augenhöhe verhandelt werden.

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