Gewisse Themen tauchen immer wieder in Diskussionen mit Menschen auf, die gegen die Europäische Union sind: Demokratiedefizit, fehlendes Vertrauen in die Institutionen, Hinterzimmerdeals und vor allem gebrochene Versprechen. Die Europäische Kommission war seit langem ein einfaches Ziel für Euroskeptiker und demokratie-fordernde Euroföderalisten gleichermaßen. Obwohl die Kontrollrechte des Parlaments stetig vergrößert wurden, wird die Kommission nach wie vor zu wenig kontrolliert. Ihre Mitglieder werden nicht direkt gewählt und ihr Präsident in einem zwielichtigen Konklave aus Insidern geweiht, statt von den europäischen Wählern bestimmt zu werden.
Die Europawahl 2014 sollte einen großen Schritt machen, diese Probleme anzugehen. So hatten die meisten Fraktionen im Europäischen Parlament Spitzenkandidaten als Speerspitzen ihrer Kampagnen nominiert. Eine ganze Reihe von Debatten wurde organisiert, bei denen diese gegeneinander antraten. Ihre Namen und Bilder erschienen auf Parteiplakaten und in politischen Sendungen. Sie sprachen auf Kundgebungen der nationalen Parteien. Die Botschaft war klar: Es ist deine Stimme, es ist deine Entscheidung.
Als die Stimmen ausgezählt waren, stand fest: der Kandidat der Europäischen Volkspartei, Jean-Claude Juncker, hat die Nase vorn. Noch bevor sein Sieg verkündet war und die Wahllokale geschlossen hatten, schmiedeten David Cameron und Viktor Orbán bereits Pläne, seine Kandidatur zu unterminieren. Ihre Motive hüllen sie in ein Gerede von nationalen Interessen und rechtlichen Fragen. Doch die Botschaft ist klar: Es ist deine Stimme, aber es ist unsere Entscheidung.
Dass zwei Politiker mit einer derart kontroversen Vergangenheit hinter dieser Verschwörung stecken, streut nur Salz in offene Wunden. Im Jahr 2011 zogen Cameron und seine Partei alle Register, um eine Monstrosität zu verteidigen, die man unter dem Namen Repräsentantenwahl (engl. first-past-the-post) kennt, einem alten aber entsetzlich undemokratischen Wahlsystem. Beim Repräsentantenwahlsystem ist es nicht ungewöhnlich, wenn 50 bis 70 Prozent der Stimmen unter den Tisch fallen. Es macht kleinen Parteien das Leben schwer und öffnet das Tor für „gerrymandering“, bei dem Wahlkreise so eingeteilt werden, dass eine bestimmte Partei mit Sicherheit gewinnt. Oftmals stellen sich große Unterschiede zwischen dem Stimmenanteil einer Partei und der Zahl der von ihr gewonnenen Sitze ein. Schlimmer noch: über 80 Prozent aller Wahlkreise werden zu sicheren Hochburgen von bestimmten Parteien, deren Stimmen von den Politikern als selbstverständlich verstanden werden.
Als den konservativen Tories ein Jahr später die Möglichkeit gegeben wurde, es mit der Reform des ungewählten House of Lords wieder gut zu machen, scheiterten sie an ihren Hinterbänklern.
Derweil scheint Orbán direkt aus Orwells „Farm der Tiere“ entlehnt. Der junge antikommunistische Aktivist, der die Massen auf dem Heldenplatz mit der Forderung nach Demokratie und dem Ende sowjetischen Einflusses in Ungarn mobilisierte, war 1998, als er zum ersten Mal Premierminister wurde, schon lange verblichen. Eine seiner ersten Initiativen war ein dreister Versuch, die parlamentarische Kontrolle über die Regierung zu verringern und die führenden Köpfe der Verfassungsinstitutionen durch Parteifreunde zu ersetzen. Seine Pläne wurden schließlich vom ungarischen Verfassungsgericht vereitelt und seine Regierung nach den Wahlen von 2002 aus dem Amt gejagt. Doch dies nährte nur seine Lust auf Rache, als Orbáns Partei Fidesz 2010 wieder an die Macht kam. Die Verfassung war also das Problem? Dann muss sie geändert werden. Richter und Verfassungswächter sind gegen seine Pläne? Dann werden sie einfach ausgetauscht. Die Presse blieb der Regierung auf den Fersen? Dann muss die Presse eingeschränkt werden. Ein Vierteljahrhundert nach dem Heldenplatz ist Orbán zum Sinnbild dessen geworden, das er zerstören wollte. Die Ungarn stellen fest, dass sie von Mensch zu Schwein und vom Schwein zum Menschen schauen – unterscheiden kann man sie nicht mehr.
Verschiedene Alternativen zu Juncker für den Top-Job in der Kommission geisterten durch Brüssel: von der dänischen Premierministerin Helle Thorning-Schmidt und IWF-Chefin Christine Lagarde bis hin zum Polen Donald Tusk und früherem WHO-Generaldirektor Pascal Lamy. Sicher, einige von ihnen wären kompetente Manager gewesen. Doch sie standen nicht zur Wahl, daher bekam keine dieser Personen die nötige Unterstützung des europäischen demos.
Es ist jetzt nicht die Zeit, darüber zu streiten, warum man für Juncker, Schulz, Verhofstadt, für Keller oder Tsipras gestimmt hat. Es ist Zeit, zusammen zu stehen. Die europäischen Parteien müssen feierlich schwören, dass sie unter keinen Umständen einen Kandidaten unterstützen werden, der nicht Spitzenkandidat war. Nur vereinigt kann das Europäische Parlament bestehen, geteilt wird es untergehen.
Es ist nicht an der Zeit, böse Tweets und verbitterte Facebook-Posts zu senden. Es ist Zeit, eine halbe Stunde zu investieren, um deine Stimme zu verteidigen; deine Stimme und deine Demokratie, indem du deinem Europa-Abgeordneten schreibst und deutlich deine Erwartung klar machst, dass er gegen jeden Kandidaten stimmen soll, der nicht die Unterstützung der Wählerinnnen und Wähler bekommen hat. Trödele nicht, denn je länger man wartet, umso einfacher wird es für das Konklave, sich hinter den eigenen Kandidaten zu vereinigen und Fakten zu schaffen. Du musst die Initiative übernehmen. Du musst sicherstellen, dass der Europäische Rat die Botschaft laut und deutlich zu hören bekommt: Es ist vorbei mit Hinterzimmern und verdeckten Feilschen. Vorbei damit, den Kandidaten zu nehmen, der am ehesten nach der Pfeife des Rates tanzt. Und es geht schon gar nicht um die Partikularinteressen von Tories und Fidesz. Zum Teufel, nein! Es geht nicht um die. Es geht um DICH.
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