Ernährung: Pikantes Thema „Nutri-Score“

, von  Jérôme Flury, Stefania Santillo, übersetzt von Katja Friedewald

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Ernährung: Pikantes Thema „Nutri-Score“
Abbildung des Nutri-Scores auf einer Verpackung Logo: Wikipedia / unbekannter Ursprung / public domain; Foto: Canva Pro / Manueltrinidad / Canva Pro Lizenz

Den Nutri-Score sieht man bereits in Frankreich, Deutschland und fünf weiteren Ländern der Europäischen Union in den Supermarktregalen. Jetzt könnte er bald in den anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden. Einziges Problem: Einige dieser Staaten kritisieren das Bewertungssystem für Lebensmittel und bevorzugen teilweise eigene Lösungen. Hinter der Gesundheitsdebatte verstecken sich dabei bedeutende Wirtschaftsinteressen.

Was ist das größte Verkaufsargument von Nestles Chocapic®-Frühstücksflakes in Frankreich? Ihr unnachahmlicher Schokogeschmack? Der Energieschub, den sie einem am frühen Morgen geben? Nein! Was in der Werbung und auf den Etiketten in den Vordergrund gestellt wird, ist ihre Nutri-Score-Bewertung mit „A“. Tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal, da die meisten anderen Frühstücksflakes sehr viel niedriger eingestuft wurden. Aber was bedeutet er eigentlich, dieser Nutri-Score, der in einigen EU-Ländern Verwendung findet und in anderen auf Ablehnung stößt?

Aktuell nutzen sieben europäische Länder (Belgien, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, die Niederlande, Spanien und die Schweiz) dieses Bewertungssystem für Lebensmittel. Das zugehörige Etikett mit seinen fünf verschiedenen Farben und Buchstaben ist betont einfach für die Verbraucher*innen gestaltet. Die Kategorien reichen vom grünen „A“ bis zum roten „E“, ähnlich wie Schulnoten.

Voller Erfolg in Frankreich

Auf der Internetseite des französischen Landwirtschaftsministeriums heißt es, das 2017 entwickelte Etikettensystem verfolge das Ziel, „die Verbraucher*innen über die Qualität der Nährwerte zu informieren [...] und den Nahrungsmittelunternehmen einen Anreiz zu schaffen, die Nährwerte ihrer Produkte zu verbessern, um einen höheren Score zu erzielen“. Tatsächlich ist eine gute Note ein wertvolles Verkaufsargument. Auf der Seite des französischen Gesundheitsministeriums liest man dementsprechend, im Juni 2020 hätten „sich 415 Unternehmen am Nutri-Score beteiligt. Im Juni 2021 sind es mehr als 700, die zusammen 57% der Marktanteile bezogen auf das Verkaufsvolumen ausmachen“.

Alle wollen mitmachen. Bleiben noch die Kriterien zu klären. Die Berechnung der Note bezieht (auf der Basis von 100 g oder 100 ml des Produkts) den Gehalt positiv bewerteter Nährstoffe (Ballaststoffe, Eiweiß, Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, Schalenfrüchte, Raps-, Nuss- und Olivenöl) sowie negativ bewerteter Nährstoffe (Energie, gesättigte Fettsäuren, Zucker, Salz) ein.

Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament haben ihr Interesse an dem Nutri-Score bekundet und sollen im Herbst 2022 seine Einführung beschließen, jedoch stellen sich einige Länder quer. Ist es überhaupt möglich, den Essgewohnheiten der 27 Mitgliedstaaten mit einem einheitlichen Notensystem gerecht zu werden?

Eindeutige Ablehnung in Italien

Einige wenig verarbeitete Lebensmittel mit kontrollierter Herkunftsbezeichnung (beispielsweise zahlreiche [Käsesorten>https://fabricebrun.fr/wp-content/uploads/2021/07/PPL-nutriscore-1.pdf]) schneiden in diesem Notensystem sehr schlecht ab. Der Präsident des italienischen Landwirtschaftsverbandes, Massimiliano Giasanti, zeigt sich kämpferisch in einem Interview mit der Zeitschrift „Il Foglio“: „Der Nutri-Score steht im Widerspruch zu mediterranen Diät und stützt sich auf die falsche Annahme, die Leute würden ihre Lebensmittel nach starren Kalorien-Berechnungen aussuchen und nicht nach Geschmack, Tradition, Lebensgefühl. Essen ist Kultur, nicht Mathematik.“

Spielt der Nutri-Score somit etwa unterschiedliche europäische Essgewohnheiten gegeneinander aus? Die Vereinigung der italienischen Käsesorten mit geschützter Herkunftsbezeichnung befürchtet das. Momentan gilt in der EU die Verordnung Nr. 1169/2011. Sie stellt Regeln zur Verbraucherinformation auf, etwa zur Angabe von Nährwerten oder der enthaltenen Zutaten.

Diese Angaben sollen demnächst ergänzt werden, bloß wie? „Die große europäische Herausforderung ist, ein für Europa einheitliches Etikettensystem zu finden, das niemanden benachteiligt und das einen gesunden Lebensstil fördert“, meint Alessandra Moretti, EU-Abgeordnete der Sozialdemokratischen Fraktion. Wie viele Italiener*innen ist auch sie Gegnerin des Nutri-Scores.

„In erster Linie sind es die großen multinationalen Unternehmen und die deutschen und französischen Großhandelsunternehmen, die sich lautstark für dieses System einsetzen, das vor allem ihre eigenen Produkte mit positiven Labels versieht.“ In diesem Kampf stehen sich Gesundheit und große wirtschaftliche Interessen gegenüber, und im Hintergrund werden die Lobbys aktiv. Für den Fall der Chocapic®-Flakes, die mit Stolz ihr neues Nutri-Score-Etikett „A“ tragen, merkt die Seite „LaNutrition“ an, die Klassifizierungs-Kriterien seien nicht unbedingt die besten. „Der Nutri-Score ist keine verlässliche Größe, vor allem, weil er nicht den Verarbeitungsgrad des Lebensmittels berücksichtigt.“

Nutri-Score vs. NutrInform

Italien ist nicht untätig geblieben. Von hier kommt ein gänzlich neuer Vorschlag, die „NutrInform Battery“, die nicht das Lebensmittel an sich bewertet, sondern vielmehr seinen Anteil an einer ausgewogenen Ernährung. Im Inneren des Symbols findet man Angaben zu Energie, Fett, gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz in Prozent, bezogen auf den empfohlenen Tagesbedarf. Entwickelt wurde das neue Konzept von einer Vielzahl von Akteuren (Lebensmittelunternehmen, Ernährungswissenschaftler*innen des italienischen Gesundheitsinstituts und des Rats für lebensmittelökonomische Forschung, Agrar-, Gesundheits- und Wirtschaftsministerien) und Unterstützung erhält es bereits vonseiten der Tschechischen Republik, von Zypern, Griechenland, Ungarn, Lettland und Rumänien.

„Wir plädieren nicht für NutrInform, weil uns das Vorteile bringt, sondern weil der Nutri-Score aus wissenschaftlicher Sicht schlicht fehlerhaft ist. Die Tatsache, dass er unseren Export verringert ist eine schwerwiegende Folge, noch wichtiger ist jedoch die Gesundheit der Verbraucher*innen. Außerdem: Mal ehrlich, Italien ist die Wiege der mediterranen Diät, die als die gesündeste Ernährungsweise der Welt angesehen wird“, führt Ivano Vacondio aus, Präsident des Verbandes der italienischen Lebensmittelindustrie.

Die Hauptkritikpunkte am Nutri-Score sind aus dieser Sicht das Ampelfarbensystem sowie die „Berechnungsgrundlage von 100 g, unangemessen für Produkte wie etwa Olivenöl“. Vacondio fügt hinzu, dass „NutrInform kein Produkt als solches verurteilt, sondern den jeweiligen Anteil am Tagesbedarf aufzeigt“. Fest steht, dass unter dem Nutri-Score zahlreiche italienische Produkte (Parmigiano Reggiano, Parmaschinken, Olivenöl) sehr schlechte Noten kassieren werden, was wiederum Auswirkungen auf ihr Exportvolumen haben könnte.

Ein entscheidender Bericht?

Es scheint, als würde eine Entscheidung nahen. „Die Gemeinsame Forschungsstelle (JRC) der Europäischen Kommission hat herausgefunden: Ein Instrument wie der Nutri-Score hat einen tatsächlichen Einfluss auf das Kaufverhalten der Verbraucher*innen“, erklärt Joël Carassio von der Zeitung „Le Bien Public“ und bezieht sich hierbei auf die Erkenntnisse eines vom JRC verfassten Berichts. Die Lobbys werden bis zum Ende versuchen, Einfluss auf die Entscheidungen innerhalb der europäischen Instanzen zu nehmen. Oder auf die Kriterien der Notenvergabe.

Sollte der Nutri-Score als Referenz eingeführt werden, dann wahrscheinlich nicht ohne Modifizierungen. Im Juli 2022 haben bereits die bisher in das System involvierten Länder Veränderungen am Algorithmus vorgenommen, als Reaktion auf die Forschungsergebnisse eines unabhängigen europäischen Forschungskomitees. Anscheinend besteht durchaus noch Verhandlungsspielraum und die Kriterien der Notenvergabe sind alles andere als in Stein gemeißelt. Letztlich ist also noch alles drin für den Parmigiano.

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