Le Taurillon: Was hat Sie dazu bewegt, der Piratenpartei beizutreten?
Julia Reda: Ich war schon immer politisch aktiv. Zu Beginn war ich Mitglied der SPD, aber schnell enttäuscht davon, wie mit den jüngeren Mitgliedern umgegangen wurde. Man stellte uns ins Rampenlicht, aber wirklich mitbestimmen durften wir nicht. Ein von der SPD verabschiedetes Gesetz zu Netzsperren hat mich dann definitiv dazu bewegt, die Seiten zu wechseln und der Piratenpartei beizutreten. Die Piratenparteien stehen für eine neue Art, Politik zu machen, was mir sofort gefallen hat. Das sind Parteien, die den Wandel, den die neuen Technologien und das Internet bewirken, sofort verstanden haben. Der Einfluss des Internets auf alle Bereich der Gesellschaft ist mit dem der industriellen Revolution vergleichbar.
Le Taurillon: Der Gründer der schwedischen Piratenpartei Rickard Falkvinge stellte sich zu Beginn als „Ultrakapitalist“ vor. Was halten Sie davon?
Julia Reda: Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Die Piratenparteien sind gegründet worden, um das Copyright und die Netzüberwachung zu bekämpfen. Aber in ihnen stark kapitalistische Parteien zu sehen, ist sehr vereinfachend. Wir sehen das Internet vielmehr als Katalysator für neue Möglichkeiten und agieren für soziale Gerechtigkeit. Wir grenzen uns aber von der traditionellen Linken dadurch ab, dass wir die Globalisierung nicht ablehnen. Wir sehen das Internet als ein Produkt der Globalisierung. Diese Globalisierung soll demokratischer werden.
Le Taurillon: Ist für Ihre Forderungen die europäische Ebene geeignet?
Julia Reda: Per Definition ist das Internet global. Das Netz auf nationaler Ebene regulieren zu wollen hat keinen Sinn. Um wirklich etwas zu bewirken muss man auf europäischer Ebene handeln. Die Ablehnung des ACTA Abkommens (Handelsabkommen zur Bekämpfung von Produktfälschung und Urheberrechtsverletzung, Anm. d. Red.) im Juli 2012 hat gezeigt, dass das Europäische Parlament manchmal spektakuläre Ergebnisse erzielen kann. Das liegt daran, dass europäische Abgeordnete unabhängiger von ihrer Fraktion als ihre Kollegen in nationalen Parlamenten sind und somit freier entscheiden und handeln können. Der Nachteil ist, dass das Europäische Parlament oftmals nicht ernst genommen wird. Das ist zumindest mein Eindruck in Deutschland. Es fehlt manchmal die Expertise der etablierten Parteien. Ein anderes Problem ist, dass die europäischen Fraktionen immer noch eine Zusammenstellung nationaler Parteien sind und somit keine wirkliche europäische Demokratie entsteht. Dass bei der Wahl des Kommissionspräsidenten 2014 die Ergebnisse der Europawahl berücksichtigt wurden, ist ein erster Erfolg in diese Richtung, reicht aber für eine europäische Demokratie nicht aus.
Le Taurillon: Besitzt das EP überhaupt genug Fachwissen, um über sehr technische Themen wie das Urheberrechr oder E-governance zu entscheiden?
Julia Reda: Alle PolitikerInnen sollten in gewisser Hinsicht Generalisten sein, das ist nun mal so. Ich befinde mich da im Vorteil, da meine Wählerschaft es mir nicht so übel nehmen würde, wenn ich mich nicht mit allen anderen Themen genauso beschäftige wie mit den netzbezogenen. Es stimmt, dass es uns an Mitarbeitern und Informationen fehlt und dass wir deswegen viel zu abhängig von den Studien der Lobbyisten sind. Und das ist gefährlich.
Le Taurillon: Die Attentate in Paris haben gezeigt, dass Europa auch eine Zielscheibe des internationalen Terrorismus ist. Wie kann man da die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit im Netz finden?
Julia Reda: Zunächst muss ich feststellen, dass Internet heute weitaus weniger frei ist als vor zehn Jahren. Das Netz wird mehr überwacht und hat sich um große Unternehmen wie Facebook oder Google zentralisiert, die die Architektur des Netzes bestimmen. Früher hat Internet mehr durch die Universitäten funktioniert. Was den Terrorismus betrifft, ist die Regulierung des Netzes keine wirkliche Antwort. Was wir stattdessen brauchen, ist eine Sozialpolitik, die gegen Radikalisierung vorgeht. Aber die Sparpolitik in Europa stellt keine Mittel dafür zur Verfügung.
Le Taurillon: Sie haben eben die Zentralisierung des Netzes um große Unternehmen angeprangert. Was ist Ihre Meinung zur Netzneutralität?
Julia Reda: Man muss die Netzneutralität erhalten, da der Inhalt des Netzes von der Infrastruktur unabhängig sein muss. Das ist ein Thema, bei dem man nicht nachgeben darf. Vor einiger Zeit wollte das Europäische Parlament das Konzept der Netzneutralität präzise definieren, um das Netz besser zu schützen. Aber unter dem Druck des Rates der Europäischen Union (der Rat ist ein nach Ressort verschieden zusammenkommendes Gremium der Minister. Er ist zusammen mit dem Parlament für die Rechtssetzung verantwortlich Anm. d. Red.) enthält der neue Kompromiss letztlich viele Ausnahmen, die teilweise auf absurde Weise gerechtfertigt werden. Günther Oettinger, Kommissar für Digitalwirtschaft, hat zum Beispiel erklärt, dass die Netzneutralität ein Problem für selbstfahrende Autos sein könnte, die im Netz Priorität haben müssten. Dieses Argument trägt aber nicht: es ist klar, dass die Google Cars nicht im Internet, sondern über ein eigenes Netzwerk funktionieren würden. Das Ergebnis ist, dass wir in Europa einen geringeren Schutz der Netzneutralität als in den USA haben.
Le Taurillon: Was sagen Sie zum Vorwurf des Machtmissbrauchs gegen Google?
Julia Reda: Die Ermittlungen in Wettbewerbsfragen sollten unabhängig von den politischen Parteien verlaufen.
Le Taurillon: Aber hier gibt es doch bestimmt politischen Druck...
Julia Reda: Google wird manchmal aus gutem Grund kritisiert: der Datenschutz der Nutzer oder das Steuersystem sind Gründe. Aber es gibt auch falsche Motivationen. Mein Eindruck ist, dass einige europäische Netz-Unternehmen merken, dass sie Google hinterherhinken und daher nach gesetzlichen Mitteln suchen, um das US-amerikanische Unternehmen zu schwächen. Die Idee der Google-Steuer ist ein gutes Beispiel dafür. Eigentlich sollen damit nur die Urheber mehr Geld bekommen, auf Kosten Googles.
Le Taurillon: Leidet die Europäische Union tatsächlich an einem Demokratiedefizit?
Julia Reda: Das denke ich schon. Das erste Defizit betrifft das Initiativrecht. Das Parlament hat heute nicht die Macht, ein Gesetz vorzuschlagen. Nur die Kommission darf das. Das schafft ein Aufmerksamkeitsdefizit der Öffentlichkeit und Medien. Die Menschen brauchen Debatten und die Konfrontation von Ideen. Die Kommission soll jedoch ein technisches Organ sein. Na klar ist das eintönig anzuschauen. Ein weiterer Punkt ist, dass durch das Monopol der Kommission, was Gesetzesentwürfe betrifft, ein europäischer Abgeordneter nicht bei der Wahl antreten kann und sagen „ich werde dieses oder jenes verändern“. Sie sind stattdessen vom guten Willen der Kommission abhängig, was wiederum ihre eigene Legitimität in Frage stellt. Eine weitere notwendige Maßnahme ist die Demokratisierung der Eurogruppe.
Le Taurillon: Welches Verhältnis haben Sie zu Ihren Wählern in Deutschland?
Julia Reda: Dank des Internets bin ich mit ihnen in Kontakt. Als ich zum Beispiel an meinem Bericht zum Urheberrecht geschrieben habe, wurden mir Änderungsvorschläge zugeschickt. Einer von diesen ist in der finalen Version des Berichts zu lesen. Das Netzwerk der Piratenparteien in Europa ist eine gute Möglichkeit, die Wähler an der Basis zu erreichen. Ich gebe auch viele Informationen auf meiner Internetseite, die in verschiedene europäische Sprachen übersetzt werden. Letztendlich bin ich auch mit vielen NGOs und Think Tanks in Kontakt, wie „la Quadrature du Net“ in Frankreich.
Le Taurillon: Die Piratenparteien sprechen von „liquid democracy“ wenn sie von ihrer Organisationsstruktur sprechen...
Julia Reda : Das Problem der repräsentativen Demokratie ist, dass die Entscheidung sich den Bürgern entzieht. In einer direkten Demokratie werden die Bürger, die mehr Zeit haben, sich einzubringen, besser repräsentiert als andere. „liquid democracy“ ist eine Mischform beider Modelle. Man wählt einen Repräsentanten, aber mit einem bindenden Mandat: er wird gewählt, um ein präzises Programm durchzuführen, von dem er nicht abweichen kann. Einige Länder probieren das Modell der „liquid democracy“ mit Hilfe einer Software aus, liquidfeedback. Aber das auf europäischer Eben zu etablieren, ist schwierig: es gibt keine europäischen Parteien und die Kommunikation in 28 verschiedenen Sprachen ist auch nicht immer einfach.
Reformen des Urheberrechts?
Der Rechtsausschuss des EU-Parlaments hat am 19. Juli für Redas Bericht gestimmt, der die Forderungen des EU-Parlaments gegenüber der Kommission definieren soll, von der demnächst Reformen erwartet werden. Ein europäisches Presse-Leistungsschutzrecht schaffte es nicht in den Bericht, das heißt, die Länder können weiterhin individuell über Zitatrechte und Veruntreuung bestimmen. Weiterhin sollen Kulturgüter weiterhin 70 und nicht wie gefordert 50 Jahre lang nach dem Tod des Autors geschützt sein. Die komplette Abschaffung des Geoblockings, territorialer Ländersperren für Inhalte oder Dienste, konnte sich nicht durchsetzen. Die Panoramafreiheit konnte ebenfalls nicht europaweit geregelt werden. In den meisten europäischen Ländern ist es erlaubt, z.B. Gebäude an öffentlichen Plätzen zu fotografieren, ohne dabei eine Nutzungsgebühr an die Urheber (z.B Architekten) zu zahlen. Im Bericht beschränkt sich dies nun auf die kommerzielle Nutzung der Bilder.
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