Ein europäisches Gedächtnis in Zeiten nationaler Erinnerungspolitik

, von  Marie Jelenka Kirchner

Ein europäisches Gedächtnis in Zeiten nationaler Erinnerungspolitik
Konzentrationslager Auschwitz: Hier könnte die Suche nach einem europäischen Gedächtnis beginnen. Foto: Fabrizio Sciami / Flickr/ CC BY-SA 2.0

Mit einem frisch verabschiedeten „Holocaust-Gesetz“ will die polnische Regierung ein einheitliches nationales Gedächtnis schaffen. Dabei wäre jetzt die Gelegenheit gemeinsam zu überlegen, wie ein europäisches Gedächtnis aussehen kann.

Dieser Beitrag ist im Original am 14. Februar 2018 erschienen. Folgend auf den 9. November in seiner Funktion als Jubiläum und Gedenktag bringen wir den Beitrag heute erneut.

Seit einigen Wochen ist der Begriff „polnische Todeslager“ in aller Munde. Wie kommt es dazu? Die polnische Regierung hat unter Führung der rechts-konservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) ein Gesetz zum nationalen Gedächtniserlassen, außerhalb Polens als „Holocaust-Gesetz“ bekannt. Dieses Gesetz, das mit atemberaubernder Geschwindigkeit erst vom Senat verabschiedet wurde und jetzt nach der Unterschrift des Präsidenten Andrzej Duda auf eine Prüfung vor dem Verfassungsgericht wartet, hat laut des PiS-Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski den Zweck, „das polnische Volk als Ganzes“ vor den Lügen zu schützen, die über das Mitwirken Polens an den Naziverbrechen im zweiten Weltkrieg verbreitet würden. Man lasse sich nicht das Recht nehmen, die polnische Würde zu verteidigen, sagt er.

Die Debatte hängt sich daran auf, dass der Begriff „polnische Todeslager“ Polen international in ein falsches Licht stelle. Wie Sigmar Gabriel auf Twitter richtig stellte, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Konzentrationslager in Polen deutsch waren. „Die Bezeichnung ‚polnische Todeslager‘ ist falsch“, twitterte er. Barack Obama nutzte den Begriff einmal fälschlicherweise und entschuldigte sich umgehend. Als die Bundeszentrale für politische Bildung den Begriff vor einiger Zeit in einer Publikation abdruckte, wurde die gesamte Auflage aus dem Handel genommen. Und eine Analyse der Suchtrends auf Google zeigt, dass die Suchen nach dem Begriff „Polnische Todeslager“ beziehungsweise „Polnische Konzentrationslager“ verschwindend gering waren – bis das Gespräch von der polnischen Regierung im Januar darauf gebracht wurde und jetzt durch die nationale und internationale Presse geistert.

Interessanterweise findet jedoch der Begriff im Gesetz selbst gar keine Erwähnung. Ebenso geht es nicht wirklich um die internationale Holocaust-Debatte. Stattdessen enthält das Gesetz, ganz allgemein gehalten, eine klare Definition, wie Geschichte verstanden werden soll: Wer in Polen „öffentlich und falsch Verantwortung oder Mitverantwortung an Naziverbrechen während des Dritten Deutschen Reiches dem Polnischen Volk oder dem Polnischen Staat zuweist […] oder wer für andere Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen, [...] Verantwortung der wahren Verbrecher mindert“, kann nun mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren geahndet werden. Das Gesetz und die damit verbundene Debatte haben in Polen einen Nerv getroffen – mit 49% sind die Zustimmungsraten zu PiS so hoch wie nie zuvor.

Nationale statt europäische Erinnerungspolitik

Von Stimmen auf nationaler und internationaler Seite kommt Kritik, dass dieses Gesetz nur ein weiteres Mittel sei, die Macht der PiS von der Gegenwart auf die Zukunft und die Vergangenheit auszuweiten und dafür das kollektive Trauma, das Polen aus dem 20. Jahrhundert mit sich trägt, instrumentalisiert. Zwar sind vom Gesetz künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeiten explizit ausgeschlossen – doch wer trägt letztendlich die Verantwortung zu entscheiden, was Kunst ist und wer sich bereits Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler schimpfen kann? Keinen Schutz bietet das Gesetz außerdem für den Journalismus. Journalisten können so leicht kriminalisiert werden, wenn sie ein multidimensionales Bild von Polen während des zweiten Weltkrieges zeichnen wollen. Das Gesetz manifestiert, was den öffentlichen Diskurs der vergangenen Jahre prägt: Polen als Opfer der Geschichte.

In der Kritik darf es jetzt nicht darum gehen, eine Schuld der Polen festzustellen. Im Gegenteil. Es ist wichtig sich damit auseinanderzusetzen, welche wichtige Rolle die Exilregierung Polens im Widerstand gegen und in der Befreiung vor den Nazis hatte. Es kann nicht unterschätzt werden, welchen Repressalien Polen als Land ausgesetzt war. Doch Geschichte schwarz-weiß zu betrachten und andere Meinungen zu unterdrücken und juristisch zu verfolgen, das passt nicht zu den demokratischen Grundwerten der Europäischen Union.

Indem sich jetzt Polen mit allen seinen Nachbarn und Partnern überwirft, lässt es sich die Chance entgehen, konstruktiv an der schmerzlichen Erinnerung an das 20. Jahrhundert zu arbeiten. Die Europäische Gemeinschaft basiert auf den traumatischen Erfahrungen des 2. Weltkrieges. Das „nie wieder“ der Gründungsstaaten sollte kein leeres Versprechen sein, sondern eine Verpflichtung für die Zukunft Europas. Erst die Osterweiterung der EU bot jedoch eine realistische Chance, die Erfahrungen aus dem 20. Jahrhundert gemeinsam aufzuarbeiten. Das 21. Jahrhundert hätte einen Eintritt in eine wirklich gemeinschaftliche Union bedeuten können. Aber wo wirtschaftliche Zusammenarbeit über politischer und kultureller Annäherung steht, da kommt das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft zu kurz. Die gemeinsam erlebte Geschichte im 20. Jahrhundert und davor müsste im Zentrum europäischer Politik stehen. Sie tut es aber nur in Form eines mahnenden Fingers.

Europäisches Erbe als gemeinsames Erbe

In dem Roman „die Hauptstadt“ von Robert Menasse, steht zunächst Brüssel im Zentrum des Geschehens, doch mehr und mehr webt sich die Geschichte um das gemeinsame, schwere Erbe Europas und um den Ort auf den – sinnbildlich – die europäische Gemeinschaft zurück geht: das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, das unweit der südpolnischen Stadt Krakau heute als Gedächtnisstätte mahnt. Es ist ein Konzentrationslager, das von den deutschen Nationalsozialisten im besetzten Polen errichtet wurde. Europaweit wird das so im Geschichtsunterricht vermittelt.

Die Geschichte des Holocausts zeigt, wie verwoben und untrennbar die Geschichten europäischer Länder und Völker sind. Der Versuch, eine nationale Lösung zu finden und eine rein nationale Erinnerung an den 2. Weltkrieg zu beschwören, kann nur nach hinten los gehen und zu einer schwarz-weißen, verzerrten Zeichnung der Realität führen.

„Es kann nicht sein, dass Menschen in der Schule lernen, dass es polnische Todeslager gab.“ „Die anti-polnische Propaganda muss aufhören.“ „Die polnische Würde muss erhalten bleiben.“ Viele solcher Aussagen finden sich in den Kommentarspalten auf polnischen Nachrichtenportalen und Facebook. PiS verspricht, dafür zu sorgen. „Es ist nicht wichtig, ob Du aus dem Regierungslager bist oder von der Opposition. Wichtig ist, ob du Polen schützt. Polen – unsere gemeinsame Pflicht. Unsere gemeinsame Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Wir kämpfen um die Wahrheit“, twitterte Beata Szydlo kürzlich. Bis Dezember war sie Premierministerin Polens.

Mit dem eindeutigen Signal gegen die europäische Gemeinschaft und gegen konstruktive Nachbarschaftsbeziehungen erreicht Polen aber genau das Gegenteil. Abschottung führt nicht langfristig zum Schutz eines Landes oder einer Kultur. Es macht nur kurzfristig den Anschein. Eine zukunftsgerichtete Erinnerungspolitik muss eine gesamteuropäische Auseinandersetzung mit dem zweiten Weltkrieg beinhalten. Indem Polen ein Gesetz verabschiedet, in dem es vorrangig darum geht, Kontroversen zu verbieten und die Meinungsfreiheit einzuschränken, kommt es der Aufarbeitung der Geschichte nicht näher. Im Gegenteil verfestigen sich so wieder die langsam bröckelnden Mauern zwischen West und Ost.

Ein europäisches Gedächtnis?

Das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft ist ein sehr fragiles Konzept, bei dem es im Zweifelsfall nicht darum geht, wie Geschichte geschehen ist, sondern wie Geschichte erinnert werden soll – und welche Schlüsse sich daraus für die Gegenwart und die Vergangenheit ableiten lassen. Ein kollektives Gedächtnis beruht nicht unbedingt auf Fakten. Weil es eine sehr subjektive Angelegenheit ist, oder sein kann, ist es leicht, das kollektive Gedächtnis zu instrumentalisieren. Genau wie Identitäten in Europa hat sich das Gedächtnis der europäischen Staaten gemeinsam mit der Entstehung der Nationen entwickelt. Es ist, wie es scheint, untrennbar mit Nationen verbunden und daher besonders anfällig für Nationalismus.

Die Europäische Kommission und zunehmend mehr Akademikerinnen und Akademiker setzen sich mit der Frage auseinander, ob es ein Europäisches Gedächtnis geben kann. Die Antwort ist – ja, aber.

In Polen herrscht Missgunst darüber, dass vermeintlich falsche Informationen über europäische Länder im Unterricht verbreitet wird. Es sollte jedoch Missgunst darüber herrschen, dass in jedem Land Europas Geschichte von einem rein nationalen Standpunkt vermittelt wird, der die Verwobenheit europäischer Geschichte vernachlässigt. Es sollte bekämpft werden, dass „europäische Geschichte“ frühestens bei den Römischen Verträgen einsetzt. In Europa teilt ein Kontinent die gleiche, vielschichtige, heterogene Geschichte von Kriegen, Verbrechen, Annäherung und Versöhnung. Das heißt nicht, dass alle Perspektiven und Erfahrungen geteilt werden. Es gibt Täter und Opfer und sehr viele Kategorien, die irgendwo dazwischen fallen. Die Schicksale von Europäerinnen und Europäern können nur in einem ständigen, nie verstummenden, kritischen ganzeuropäischen Diskurs aufgearbeitet werden. In diesem Austausch muss es in der Tat um Würde gehen – die Würde der Menschen in Europa.

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