Das “demokratische Defizit”, diese verschleppte Kinderkrankheit der Europäischen Union, steht immer wieder in der Kritik – zu Recht. Von Verhandlungen auf Regierungsebene, durch die nationale Parlamente oft ausgehebelt werden bis zur bürokratisch-intransparenten Arbeitsweise der Kommission: Die fehlende demokratische Legitimierung zieht sich wie ein roter Faden durch das Wirken der EU. Das Europäische Parlament (EP) als einzig direkt gewählte Institution auf europäischer Ebene ist Hoffnungsträger für all jene, die sich ein tiefer integriertes Europa wünschen. Doch vollkommen demokratisch geht es bislang auch hier nicht zu: Die Europawahl erfüllt nur vier von fünf Faktoren, die für die korrekte Bestellung einer Volksvertretung notwendig sind.
Ein maltesischer Wahlschein wiegt mehr als ein französischer
Wahlen müssen geheim, frei, unmittelbar, allgemein und gleich sein, um die Bezeichnung “demokratisch” zu verdienen. Wird eines der Kriterien nicht erfüllt, kann dieses Wertesiegel nur bedingt vergeben werden. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist sicherlich frei, geheim und allgemein, sowie unmittelbar – gleich ist sie allerdings nicht. Das würde nämlich bedeuten, dass jede abgegebene Stimme gleich viel zählt, dass also immer die gleiche Anzahl an Stimmen in einen Abgeordnetensitz umgewandelt wird.
Im EP steigt die Anzahl der Abgeordneten pro Mitgliedsstaat zwar mit der jeweiligen Einwohnerzahl, das passiert aber nicht proportional: Während in Malta etwa 66.000 Bürger von je einem Abgeordneten vertreten werden, sind es in Frankreich fast 870.000. Dadurch zählt die Stimme eines maltesischen Bürgers mehr als die eines Franzosen, obwohl der Inselstaat mit sechs Vertretern deutlich weniger EU-Abgeordnete hat als Frankreich mit 74.
Kompromiss zwischen Repräsentation und Arbeitsfähigkeit
Dass ein Land egal welcher Größe mindestens sechs Abgeordnete hat, ist dem Gedanken geschuldet, dass jede nationale Parteienlandschaft einigermaßen im EP vertreten sein soll. Wenn kleine Länder wie Malta oder Zypern nur einen Abgeordneten entsenden könnten, wäre immer nur ihre jeweils stärkste Partei im Europäischen Parlament vertreten. Jede Stimme an eine andere Partei wäre eine verschenkte. Das entspricht kaum dem demokratischen Gedanken von politischer Pluralität.
Wenn nun das Verhältnis von Einwohnerzahl und Abgeordneten der kleinsten Mitgliedsstaaten eins zu eins auf andere EU-Staaten übertragen werden würde, hätte allein Deutschland mehr als 1.000 Vertreter im EP. Dessen Arbeitsfähigkeit wäre damit ruiniert. Entsprechend legt der Vertrag von Lissabon fest, dass das Parlament höchstens 751 Sitze haben darf.
Paneuropäische Listen als Lösung des demokratischen Dilemmas in Europa?
Was also tun? Eine Möglichkeit wären übernationale, paneuropäische Wahllisten: Wenn bei der Verteilung der Sitze anstellte der 28 nationalen Parteienlandschaften nur eine gesamteuropäische berücksichtigt werden müsste, könnte die Stimme eines jeden Europäers gleich gewichtet werden.
Ein Problem hierbei ist, dass es nicht für alle Parteien Entsprechungen in anderen Ländern gibt. Und selbst Gruppierungen aus der gleichen politischen Familie unterscheiden sich von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat. Es haben sich jedoch bereits Parteien auf europäischer Ebene etabliert und viele von ihnen arbeiten seit Jahren in den Fraktionen des EPs zusammen. Ein gemeinsamer europäischer Wahlkampf ist also keineswegs unvorstellbar.
Ein anderes, größeres Problem betrifft die Frage nach einer europäischen Identität: Gemeinsame Listen können nur funktionieren, wenn die Nationalität der Abgeordneten in den Hintergrund tritt. Wenn jeder nur die Liste wählt, auf der die eigenen Landsleute am einflussreichsten vertreten sind, bewirken gemeinsame Wahllisten genau das Gegenteil: eine Rückbesinnung auf Nationalität als ausschlaggebendes Identitätsmerkmal. Dadurch werden die Kandidaten mehr mit ihrer Herkunft als mit ihrem Wahlprogramm in Verbindung gebracht.
Experiment Spitzenkandidat – wegweisend für ein demokratischeres Europa?
Die diesjährige Europawahl war in diesem Sinne ein zukunftsweisendes Experiment. So zeichnete die Spitzenkandidaten der Fraktionen vor allem eines aus: ihre Übernationalität. Damit könnten sie Vorboten einer möglichen europäischen Zukunft sein. Wenn europäische Bürger ihre Wahlentscheidung an Juncker, Schulz und Co. binden, obwohl sie selbst einer anderen Nationalität angehören, dann kann es auch Hoffnung auf zukünftige, gesamteuropäische Listen geben. Auf diesen wären dann nicht nur Spitzenkandidaten, sondern alle potentiellen Parlamentarier unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit aufgestellt und wählbar.
Mangelndes Verständnis für die europäische Idee
Doch bereits im Vorfeld der Europawahl gab es Anzeichen dafür, dass einige politische Akteure und europäische Bürger nicht bereit sind, eine solch tiefgreifende und demokratisierende Integration zu akzeptieren. Die Wellen, die Martin Schulz’ Kandidatur schlugen, sind bezeichnend. Von Vertretern der CSU musste er sich vorwerfen lassen, nur der “Fassade” nach Deutscher zu sein, aber kaum deutsche Interessen zu vertreten. Ein geradezu irrwitziger Vorwurf, wo die Spitzenkandidaten doch die Europäer und eben nicht einzelne Nationen vertreten sollen. In Italien nutzte Berlusconi die Kandidatur von Schulz, um die Deutschen zu verunglimpfen, indem er sie indirekt als Holocaustleugner darstellte. Einen anti-deutschen Kurs griff auch Berlusconis Forza Italia in ihrem Wahlkampf auf.
Beide Seiten zeigen mangelndes Verständnis für die Idee eines übernationalen, solidarischen Europas. Selbst die SPD, die bis dahin einen europäischen Wahlkampf geführt hatte, fühlte sich genötigt, diese Tendenz mit entsprechender Wahlwerbung zu bedienen. Wer einen Deutschen an der Spitze der Kommission sehen möchte, müsse Schulz wählen, so die Botschaft einer Zeitungsanzeige kurz vor der Wahl. Zweifel daran, ob ein europäischer Wahlkampf fern jeglicher nationaler Interessen überhaupt möglich ist, sind also berechtigt.
Lehren aus der Europawahl
Kurz nach der Europawahl scheinen die Aussichten ernüchternd: Weder die schlechten Einschaltquoten zu den TV Debatten noch die gleichbleibend niedrige Wahlbeteiligung deuten darauf hin, dass die Personalisierung der Wahl die Europäer mobilisieren konnte. Schuld daran mag auch die Tatsache haben, dass nie ganz klar war, ob einer der Kandidaten tatsächlich Kommissionspräsident wird. Das muss sich ändern. Das Ergebnis der laufenden Verhandlungen in Brüssel wird daher auch eine Art Vorentscheidung für die Chancen der europäischen Demokratie sein.
In Deutschland hatten die Spitzenkandidaten der zwei größten Fraktionen eine sehr unterschiedliche Zugkraft: Laut Umfragen wollen fast drei Viertel aller SPD Wähler Martin Schulz als Kommissionspräsidenten. Jean-Claude Juncker kommt bei den Unionswählern nur auf 41 Prozent Zustimmung. Ob dieser Unterschied dem Bekanntheitsgrad, der Popularität oder eben doch der Nationalität der jeweiligen Kandidaten geschuldet ist, bleibt offen.
Die bedeutendere Frage ist, ob Bürger aus Ländern wie Spanien, Bulgarien oder Estland, aus deren Reihen keiner der Spitzenkandidaten stammt, ihre Wahlentscheidungen von den Personalien haben beeinflussen lassen. Das wird noch durch entsprechende Erhebungen zu klären sein. Selbst wenn nicht alle in Europa akzeptieren können, dass das EP europäische und nicht nationale Interessen vertritt– die Spitzenkandidaturen samt dazugehörigen TV Debatten und Medienrummel haben Fakten geschaffen. Sie tragen die Möglichkeit in sich, Europa als einen vereinten politischen Raum zur Normalität zu machen.
Kommentare verfolgen: |