Die Garerdrobe ist menschenleer. In den schlicht eingerichteten Sälen ist es ruhig, als ich die Ausstellung über die „Belle Époque“ (schöne Epoche) im Berliner Bröhan-Museum besichtige. Die ehemalige Kaserne im spätklassizistischen Stil steht zwar direkt vor dem Schloss Charlottenburg, zählt allerdings nicht unbedingt zu den touristischen Hotspots der Stadt. Die Stille lädt ein zum Nachdenken über die zukünftige Entwicklung Europas.
Die erste „schöne Epoche“
Hochwertige Handwerkskunst, Werbeplakate, Zeitschriften und Fotografien aus der Jahrhundertwende gitb es im Museum zu sehen. Die Ausstellung ist nicht besonders groß, dennoch verschafft sie mir einen guten Überblick jener „schönen Epoche“, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs abrupt endete. Aber warum erhielt diese Zeitspanne von gut dreißig Jahren diese nostalgiegeladene Bezeichnung? Es lohnt sich, einen Blick zurück in die Vergangenheit zu werfen.
Bis zum Deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 erlebte Europa äußerst unruhige Zeiten. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen: Im Krieg zwischen Preußen und dem Deutschen Bund unter österreichischer Führung oder während der bürgerlich-revolutionären Erhebungen im ganzen Kontinent. Nach besagtem Krieg zwischen Frankreich und dem Norddeutschen Bund begann jedoch eine Zeit des Friedens, die ungewohnt lange anhielt. Sie bereitete den Weg für den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung im europäischen Kern, etwa in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn.
Treibende Kraft war die zweite industrielle Revolution. Die damit verbundenen Herausforderungen brachten gigantische Fortschritte – von der technischen Innovation über die Medizin bis hin zur Neugestaltung der städtischen Räume. Die Verbreitung der Elektrizität, das Radio, das Auto, das Kino, die verbesserte medizinische Vorsorge sind nur einige Beispiele der Annehmlichkeiten, die das Leben radikal veränderten. Auch in der Haltung zur Arbeit gab es erhebliche Änderungen: Die Rationalisierung der Herstellungsprozesse und die Arbeitsaufteilung sorgten für immer mehr Freizeit im Alltag. Die Entwicklung der Verkehrsnetze und höhere Löhne machte es mehr Menschen möglich zu reisen. All dies führte zu einer optimistischen Stimmung, die in einer immer vielfältigeren künstlerischen Produktion und – nicht zuletzt – in einer andauernden politischen Stabilität ihren Ausdruck fand.
Eine neue europäische Belle Époque?
Diese Prosperität kam vor genau hundert Jahren mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs zu einem tragischen Ende. Doch was hat das alles mit der Europäischen Union zu tun? Ich schlenderte weiter durch die fast menschenleeren Räume des Museums und ertappte mich beim Gedanken, dass man – so gewagt es möglicherweise auch klingt – zwischen der „schönen Epoche“ und Europa, wie wir es kennen, durchaus eine Parallele ziehen kann. So wie die Belle Époque den turbulenten Zeiten des 19. Jahrhunderts folgte, leben wir nach dem Grauen zweier Weltkriege seit über sechzig Jahren im Frieden.
Europa hat in diesem Zeitraum ein beachtliches Wirtschaftswachstum und eine allgemeine Wohlstandssteigerung erlebt. Das Schengener Abkommen, die Verkehrsinfrastruktur, die unzähligen Flug- und Zugverbindungen machen das Reisen durch Europa zum Kinderspiel, ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, in anderen Ländern zu studieren und zu arbeiten, und, und, und…
Täglich wird über den wachsenden Euroskeptizismus diskutiert, der Nationalstaat soll wieder an Einfluss gewinnen und vermehrt Kompetenzen von der EU zurückholen. Immer öfter heißt es, das europäische Projekt drohe zu scheitern. Ungeachtet der gegenwärtigen Krise sollten wir uns aber dazu bekennen, was die europäische Integration uns in den vergangenen Jahrzehnten beschert hat. Es gibt in der EU genug Positives, um von einer neuen europäischen Belle Époque zu reden. Es ist erstrebenswert, den Weg der Integration fortzusetzen, denn die Geschichte zeigt uns, dass die Vorteile die Kosten um ein Vielfaches überwiegen.
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