Die Großmächte im Blick

Beziehungen der Türkei zur EU, den USA und Russland

, von  Aleksandar Abramovic

Die Großmächte im Blick
Nach dem Putschversuch bei nächtliche Demonstration von Anhängern des Präsidenten Erdogan in Istanbul, Türkei. CC BY-SA 4.0, Picture of protestors in Istanbul by Mstyslav Chernov on 22 July 2016, via Wikimedia Commons

Mit dem Zerfall der Sowjetunion öffneten sich der Türkei die Tore zum Balkan, nach Südkaukasien und Zentralasien sowie in den Nahen Osten. Spätestens das nachhaltige Wirtschaftswachstum infolge von Erdogans Amtsantritt als Regierungschef im Jahr 2002 machte aus der Türkei ein neues regionales Machtzentrum. Doch wie gestalten sich die türkischen Beziehungen zu den an ihren Grenzen aktiven Großmächten?

Beziehungen zur EU



Quelle: CC BY-NC-ND 2.0, © European Union 2015 - European Parliament. (Attribution-NonCommercial-NoDerivs Creative Commons license), Martin Schulz, 5. Oktober 2015


Nach dem Ende des Kalten Krieges zeigten sowohl die EU-Mitgliedstaaten als auch die Türkei ein großes Interesse daran, Einfluss nach Südosteuropa, in den Nahen Osten, nach Südkaukasien sowie nach Zentralasien zu projizieren. Eine mögliche Kooperation in diesen Regionen zwischen Brüssel und Ankara kam jedoch nicht zustande, da die Europäische Union das türkische Beitrittsgesuch zur EU ablehnte. Damit blieb die Türkei bei der Bildung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die auch die Schaffung gemeinsamer europäischer Streitkräfte vorsieht, außen vor. Beide Seiten begannen einen geopolitischen Konkurrenzkampf um die umstrittenen Gebiete.

Die EU suchte nun, den wachsenden türkischen Einfluss vom Balkan zu verdrängen, und wollte unter Umgehung der Türkei an die Erdöl- und Erdgasgebiete am Persischen Golf und am Kaspischen Meer gelangen. So konnte der Persische Golf von der EU über das östliche Mittelmeer und die Levante (Libanon, Syrien, Israel, palästinensische Autonomiegebiete, Jordanien und Ägypten) erreicht werden. Zugang zum Kaspischen Meer war größtenteils über Rumänien/Bulgarien, das Schwarze Meer und den Südkaukasus gegeben. Der Persische Golf und das Kaspische Meer beherbergen rund 70 % der weltweit bekannten Vorräte an Erdöl und Erdgas. Von diesen sind die westlichen Industriestaaten in hohem Maße abhängig.

Die Türkei erlebte seit 2001 zunächst ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum und wurde – anders als die USA, die EU und China – von der Finanzkrise 2007/08 nicht sonderlich stark getroffen. So ging das Bruttoinlandsprodukt 2009 zwar um 5 % zurück. Die wirtschaftliche Lage erholte sich aber schon 2010 wieder und wuchs um 9 %. Damit stellte die Türkei zu dieser Zeit eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt dar, was sie Anfang der 2010er-Jahre zum wirtschaftlichen Schwergewicht im östlichen Mittelmeer machte. In der türkischen Öffentlichkeit setzte sich zunehmend die Meinung durch, man sei auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht mehr angewiesen. Dies wurde durch Zerfallserscheinungen der EU infolge der Finanzkrise und des „Arabischen Frühlings“ erhärtet. Die „Arabellion“ schien der Türkei eine Führungsrolle in der arabischen Welt zu ermöglichen, war sie doch als islamische Demokratie das Modellland für die Aufstände. Nach langjährigen Konflikten, die Ankara bewusst in einem kontrollierbaren Rahmen halten wollte, kündigte der türkische Präsident Erdogan schließlich 2023 an, die Beziehungen zum Westen wieder ausbauen zu wollen.

Beziehungen zu den USA



Präsident Trump und die First Lady besuchen den türkischen Präsidenten und Frau Emine Erdogan


Für die USA bildet die Türkei den westlichen Zugang zum Persischen Golf und zum Kaspischen Meer. Deshalb wurde das Ziel, die Türkei durch einen EU-Beitritt fester im Westen zu verankern, ein wichtiger Teil der US-Außenpolitik. Infolge der außenpolitischen Linie der „Hinwendung nach Asien“ muss Washington, um eine Überdehnung seiner Kräfte zu verhindern, seinen militärischen, diplomatischen und finanziellen Einsatz in anderen Regionen der Welt reduzieren. Um dabei keinen Einflussverlust hinnehmen zu müssen, soll der Rückzug durch Kooperationen mit Regionalmächten wie der Türkei ausgeglichen werden. Deshalb begrüßten die USA die energischere Außenpolitik der Regierung Erdogans.

Allerdings scheute sich die Türkei dabei nicht, eigene geopolitische Ordnungsvorstellungen zu artikulieren. Dies führte insbesondere in der Kurdenfrage zum Konflikt: Die pro-kurdische US-Politik in Syrien und im Irak bedroht aus Sicht der türkischen Regierung in Ankara die eigene Herrschaft über das kurdisch besiedelte Südostanatolien.

Das selbstsichere Auftreten gegenüber Washington kommt in der türkischen Bevölkerung gut an. Man empfindet hier den „War on Terror“ auch als gegen die Türkei gerichtet. Allerdings hält die türkische Regierung trotz aller verbalen Reibereien an der sicherheitspolitischen Partnerschaft mit der immer noch größten Militärmacht der Welt fest. Sie bietet der Türkei Vorteile, etwa indem sie ihr diplomatisches und militärisches Gewicht gegenüber Russland und dem Iran erhöht. Dennoch gilt die NATO-Mitgliedschaft der Regierung Erdogan nur noch als eines von mehreren Mitteln, um die politische und wirtschaftliche Stabilität ihres Landes zu erhalten. Damit verbunden ist die mentale Abkehr der türkischen Regierungspartei AKP von der einst ausschließlich am Westen orientierten Außenpolitik. Diese hatten die Nachfolger Mustafa Kemal Atatürks, die Kemalisten, nach 1945 verfolgt.

Beziehungen zu Russland



Quelle: CC BY 4.0, www.kremlin.ru


Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es auch zum Rückzug Moskaus von der Nordgrenze der Türkei. Damit konnten sich die russisch-türkischen Beziehungen entspannen. Die Türkei importiert mittlerweile einen großen Teil ihres Energiebedarfs aus Russland. Umgekehrt stellt sie für das Nachbarland den einzigen ganzjährig eisfreien Zugang zu den Weltmeeren dar.

Das Verhältnis zwischen Ankara und Moskau verbesserte sich weiter durch die Ablehnung des türkischen EU-Beitritts durch die EU. Dies ging so weit, dass die Türkei 2013 und dann wieder 2022 ihren Wunsch kundtat, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) beizutreten, einem sicherheitspolitischen Zusammenschluss mehrerer eurasischer Staaten, darunter Russland, China und Indien. Dieser Wunsch nach Anschluss an diese Regionalorganisation ist aber seitens der Türkei nicht mit einer vollständigen Abkehr vom Westen verbunden. Erdogan geht es vielmehr darum, sich zwischen den Lagern der Großmächte zu positionieren, um seinem Land ein möglichst großes Maß an Unabhängigkeit zu verschaffen.

So hat auch die Kooperation mit Russland ihre Grenzen: Moskau und Ankara ringen miteinander im Südkaukasus und in Zentralasien um Einfluss. Dies mindert die Aussichten für ein langfristiges strategisches Bündnis beider Staaten erheblich.

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