Über die richtigen Probleme reden
Bei diesem Stichwort drängt sich vielen wohl direkt der Gedanke an den demographischen Wandel auf, vor dem unsere alternde Gesellschaft schon seit geraumer Zeit zittert. Und tatsächlich wird sich wohl der Druck auf die Rentenkassen erhöhen, wenn die geburtenreichen Babyboomer-Jahrgänge in ein paar Jahren in Rente gehen. Schon jetzt wird die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) mit einem jährlich steigenden Zuschuss aus dem Bundeshaushalt unterstützt, um ihre Funktionen noch angemessen ausführen zu können. So wird die Forderung nach einer weiteren Erhöhung des, im internationalen Vergleich bereits recht hohen, Renteneintrittsalters laut und manch einer denkt schon über Rentenkürzungen oder Beitragserhöhungen nach.Doch all diese Maßnahmen gingen wohl zu Lasten der Arbeitnehmenden und der aktuellen Rentner*innen, die sich bereits jetzt in einer angespannten Finanzlage befinden. Denn Altersarmut ist ein weit verbreitetes Problem in Deutschland. Stand 2020, bezogen 1,1 Millionen Rentner*innen Grundsicherungsleistungen und man geht davon aus, dass zwei Drittel der Berechtigten die Grundsicherung aus Angst vor Stigmatisierung oder schlicht aus Unwissenheit nicht einmal beantragen. Wenn man also diejenigen Personen, welche durchs Raster fallen, miteinbezieht, sind ca. 20% der Rentner*innen in Deutschland arm.
Der „konservative Wohlfahrtstaat“: Es wird strukturell
Auch allgemein wäre es zu kurz gegriffen, unser unzulängliches Rentensystem auf ein Finanzierungsproblem herunterzubrechen, denn man kann die Thematik auch von einer anderen, strukturelleren Seite aus betrachten. Deutschland ist ein sogenannter „konservativen Wohlfahrtsstaat“. Das bedeutet, dass Berufsverbände eine zentrale Rolle in der Organisation und Verteilung der Sozialleistungen spielen und der Staat versucht, Klassenunterschiede zu erhalten. Ganz konkret bemisst sich also die Höhe des Arbeitslosengeldes oder der Rente am Einkommen, das die Person vor ihrem Berufsausstieg verdient hat. Gutverdienende werden also auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Job weiterhin gut vom Staat versorgt. Darüber hinaus organisieren sich viele besonders gut bezahlte Berufsgruppen, wie zum Beispiel Beamte, Selbstständige oder Steuerberater, in eigenen Rentenkassen und zahlen deswegen nicht in die chronisch unterfinanzierte GRV ein.
In Österreich, wo Beamte, Selbstständige und andere Berufsgruppen ebenfalls ihre eigenen Rentenkassen hatten, hat man diese in den letzten Jahren Schritt für Schritt in die GRV überführt. Das Ergebnis: Das durchschnittliche Rentenniveau ist um fast 90% höher als in Deutschland und die Europäische Kommission prognostiziert, dass die Renten auch in Zukunft gut finanzierbar bleiben.
Auch die Rentenpolitik feministisch denken
Ein weiteres Merkmal des „konservativen Wohlfahrtsstaates“ ist sein Vertrauen darauf, dass Frauen wohlfahrtsstaatliche Arbeit leisten, die nicht am Markt, sondern in den Familien erbracht wird. Das schlägt sich auch direkt in den Renten nieder, denn nicht am Gender Pay Gap, sondern am Gender Pension Gap lässt sich das wahre Maß geschlechtlicher Ungleichbehandlung erkennen. Frauen bekommen nämlich durchschnittlich substanziell weniger Rente als Männer, da sie erst einmal weniger verdienen und darüber hinaus oft sehr brüchige Erwerbsbiografien haben. Das bedeutet, dass sie oft für Erziehungs- und Hausarbeit, die traditionell von ihnen verlangt wird, Arbeitspausen nehmen müssen und so weniger Rentenpunkte sammeln können als ihre männlichen Partner. Wichtig, wenn wir uns um gerechte Alterssicherung kümmern wollen, ist also auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Außerdem sollte Care-Arbeit bei der Bemessung der Rentenhöhe miteinbezogen und das Ehegattensplitting abgeschafft werden. Letzteres führt momentan noch dazu, dass verheiratete Frauen oft nur in Minijobs beschäftigt sind und deswegen überhaupt nicht in die Rentenkasse einzahlen. Ein sozialversicherungspflichtiger Job lohnt sich für viele wegen der ungleich verteilten Steuerbelastung in der Ehe nicht.
Bild: treffpunkteuropa.de
Wohneigentum und Arbeitsmarkt wirken sich direkt auf die Rente aus
Aber auch strukturelle Faktoren außerhalb des Rentensystems können als Stellschrauben dienen. Nennenswert ist hierbei die Arbeitsmarktpolitik, denn letztendlich ist der demographische Wandel für die Alterssicherung nur insofern gefährlich, da er die Erwerbstätigenquote zulasten der Rentenkasse drückt. Allerdings kann die Erwerbsbeteiligung auch durch andere Faktoren erhöht und das System so entlastet werden. Denn mehr Erwerbstätige bedeuten auch mehr Beiträge. Hier bieten sich vor allem drei Aspekte an: Zunächst ist eine proaktive Arbeitsmarktpolitik gefragt, welche sich dem Ziel der Vollbeschäftigung verschreibt und bereit ist, die Konjunktur im Zweifel selbst anzukurbeln. Weiterhin sollte, wie bereits erwähnt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorangetrieben werden, um Menschen, die sich um Angehörige oder Kinder kümmern, Teilhabe am Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Zuletzt kann eine moderne Einwanderungspolitik dem Fachkräftemangel in Deutschland entgegenwirken und so langfristig auch das Rentensystem stabilisieren.
Gesellschaftliche und technische Innovation sind ebenfalls wichtige Punkte. Denn eine sinkende Erwerbstätigenquote kann durch eine steigende Produktivität ausgeglichen werden. So ist die relative Stabilität des deutschen Rentensystems, trotz enormer demografischer Belastung, in den 60er Jahren damit zu erklären, dass die Wirtschaft ungemein wuchs und jede*r Erwerbstätige dank des technischen Fortschritts schlicht mehr produzieren konnte. Erwähnenswert ist auch die Rolle der Lohnpolitik für die Rentenversicherung, denn höhere Löhne bedeuten auch höhere Renten im Alter. Da Deutschland allerdings einen großen Niedriglohnsektor besitzt, steht ein erheblicher Teil der Arbeitnehmenden vor der Altersarmut. Man könnte die Grundsicherung erhöhen, deutlich nachhaltiger wäre es hingegen für das Rentensystem, wenn dieser Teil der Arbeitnehmerschaft einfach einen angemessenen Lohn bekäme.
Die beste Rentenversicherung ist auch heute noch ein Eigenheim, das die Inhabenden vor hohen Mieten schützt, Planungssicherheit bietet und als Sachwert einen Inflationsausgleich darstellen kann. Doch auch hier gibt es in Deutschland ordentlich Nachbesserungsbedarf: Im OECD-Vergleich liegen die Deutschen auf dem vorletzten Platz, was die Wohneigentumsquote angeht. Grund dafür ist wohl die enorme Vermögensungleichheit im Land, aber auch die deutsche Wohnungspolitik, welche einen Hauskauf oft unattraktiv macht. So könnte man beispielsweise die Grunderwerbssteuer senken und Abzugsmöglichkeiten von Hypothekenzinsen für Eigennutzer einführen.
Ein grün-gelb-roter Ausblick?
Doch was hat eigentlich die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP vor? Im Koalitionsvertrag heißt es, man wolle die Leistungen digitalisieren und entbürokratisieren, das Eintrittsalter und den Beitragssatz unangetastet lassen und die private Altersvorsorge „prüfen“. Das klingt nicht gerade nach der Reform, die angesichts der gravierenden Probleme nötig ist. Die Koalitionär*innen in Berlin wollen sich wohl auch nicht die Finger an einem so heiklen Thema verbrennen – mit wütenden Wähler*innen haben sie wohl schon genug zu kämpfen.
Fassen wir noch einmal zusammen. Das Rentensystem erhält und verstärkt die Klassenunterschiede in der Gesellschaft, da Gutverdienende nicht in die GRV einzahlen müssen. Währenddessen sind über ein Fünftel der Rentner*innen in Deutschland arm und die Tendenz steigt, da die Rente langfristig in dieser Form nicht tragbar ist und durch einen exorbitanten Bundeszuschuss finanziert werden muss. Allgemein spiegelt sich in der Rente die Ungleichheit in der Vermögensverteilung und die Schieflage auf dem Arbeitsmarkt wider. Um die Rente also langfristig zu sichern, müssen also strukturelle Reformen her. Frauen müssen besser in den Arbeitsmarkt integriert werden, die Vermögensungleichheit verringert und die Unterschiede in den Rentenregimen aufgelöst werden. Keine leichte Aufgabe für eine Regierung, die schon bei Heizungsdebatten kurz vor dem Bruch steht.
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