Die Proteste dauern bereits einige Zeit an. Mittlerweile haben sich den Protestierenden verschiedene gesellschaftliche Gruppen angeschlossen, die auf diese Art nicht nur ihre Unterstützung für die Postulate der Frauen ausdrückten, sondern auch ihrem Ärger über die Regierung Luft machten. Sind die Proteste deshalb nur ein Auflehnen gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts – im Kampf für das Recht auf Abtreibungen? Oder handelt es sich hier um einen grundlegenden gesellschaftlichen Widerstand gegen das Handeln der Regierung?
Das Verfassungsgericht: sein Status und der Kontext des veröffentlichten Urteils
Die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) und ihre Koalitionsparteien erlangten in den Parlamentswahlen vom Oktober 2015 die Mehrheit, die sie zum unabhängigen Regieren benötigte. Seitdem nahmen sie konsequent Änderungen in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens vor, unter anderem in der Rechtsprechung, der Bildung, bei Sozialleistungen und den öffentlichen Medien. Ein Bereich zog dabei besondere Aufmerksamkeit auf sich: das System der Rechtsstaatlichkeit, also das Funktionieren der Rechtsprechung und der Staatsanwaltschaft. Eine der ersten Institutionen, die fundamentalen Veränderungen ausgesetzt war, war das Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny). Zwischen Oktober 2015 und Dezember 2016 brachte die PiS sechs Gesetze durch, die diesen Gerichtshof betrafen.
In der Theorie sollten die Gesetze jene bestehende Situation in Ordnung bringen, die nach der doppelten Wahl des neuen Teils der Zusammensetzung der Richter*innen entstand. Im Dezember 2015 urteilte das Verfassungsgericht, dass ein von der PiS vorbereitetes Gesetz nicht mit der Verfassung vereinbar sei. Dieses Gesetz sollte die Funktionsweise des Gerichts verändern. Im März 2016 weigerte sich die damalige Premierministerin Beata Szydło, dieses sowie weitere Urteile im Dziennik Ustaw – dem polnischen Gesetzesblatt – zu veröffentlichen. Seitdem wurde die Veröffentlichung der Urteile endgültig ausgesetzt. In der Konsequenz besteht in Polen ein juristischer Dualismus.
Zusätzlich hat sich in den letzten fünf Jahren die Zusammensetzung des Gerichts maßgeblich verändert. Von den momentanen 15 Richter*innen wurden 14 durch die aktuelle Regierungsmehrheit ernannt. Man muss anfügen, dass die Vertreter*innen der Regierungspartei ihre wichtigsten Kriterien nicht versteckten: Loyalität und Anpassung der Ernannten gegenüber den Ernenner*innen. Die Zusammensetzung des Entscheidungsgremiums und die von ihm vorgenommenen Änderungen erreichten ihr Ziel: Das Verfassungsgericht – die Institution, die per Definition unparteiisch und unabhängig von Legislative und Exekutive sein sollte – wandelte sich zu einer untergeordneten Maschine zur Genehmigung von Parteientscheidungen.
Gleichzeitig unternahm man seit 2016 mehrere Versuche, die bestehenden Bestimmungen zu verschärfen: Im Sejm – dem polnischen Parlament - wurden mehrere Gesetzesvorlagen zur Einführung eines vollständigen Abtreibungsverbots verabschiedet. Jedes Mal zogen die Machthaber*innen ihre Vorschläge jedoch unter dem Einfluss massiver Streiks zurück. Die Proteste organisierte unter anderem der Allgemeinpolnische Frauenstreik (Ogólnopolski Strajk Kobiet) [1].
Schließlich sollte das kontrollierte Verfassungsgericht die Frage der Abtreibung ein für alle Mal klären. Ende 2019 regte eine Gruppe von 119 Mitgliedern der Parteien PiS, Konfederacja [2] und PSL-Kukiz’15 [3] an, Abtreibungen verfassungsgemäß für illegal zu erklären.
Fast ein Jahr nach Einreichung des Antrags traf der Verfassungsgerichtshof seine Entscheidung – inmitten der Corona-Pandemie. Demnach sei eine Abtreibung nicht mehr legal durchzuführen, wenn "vorgeburtliche Tests oder andere medizinische Indikationen eine hohe Wahrscheinlichkeit schwerer und irreversibler Beeinträchtigungen des Fötus oder eine unheilbare, lebensbedrohliche Krankheit anzeigen“.
Die Folgen der Entscheidung
Die Erlasse des Verfassungsgerichtshofes sind endgültig. Das heißt, es gibt keine Möglichkeit, gegen ihren Inhalt Einspruch einzulegen. Zudem haben sie eine allgemeingültige Wirkung. Demnach sind ab dem Moment der Veröffentlichung der erwähnten Entscheidung Abtreibungen in Polen nur in zwei Fällen legal: Wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet sind oder wenn die Schwangerschaft als Resultat einer Straftat entstand – nach Vergewaltigung, Inzest oder Kindesmissbrauch. An dieser Stelle soll erwähnt sein, dass im Jahr 2019 von 1.110 legal in Polen durchgeführten Abtreibungen 1.074 aufgrund von Defekten des Fötus vorgenommen wurden – das entspricht 98 Prozent aller Fälle. 33 Abtreibungen lag die Bedrohung des Lebens der Mutter zugrunde, lediglich dreien eine Straftat.
Von äußerster Relevanz ist, dass der Erlass des Verfassungsgerichts dem Parlament keine Begrenzungen setzt, künftig neue Regelungen zu beschließen, die Abtreibungen betreffen. Das bedeutet, dass sogar die rechtliche Liberalisierung oder die Rückkehr zu jenen Vorkehrungen möglich ist, die für verfassungswidrig erklärt wurden. Selbstverständlich würden diese Aktionen danach wohl erneut als nicht-verfassungskonform gewertet, wobei das Gericht seine Interpretation in der Zukunft ändern kann. Denn nur die etablierte Interpretation schließt den Weg zur Diskussion über das Thema [4].
Die größten Proteste seit Solidarność
Wenn man frühere Proteste kennt, verwundert es nicht, dass der Erlass vom 22. Oktober in der polnischen Gesellschaft Empörung auslöste. Diese Empörung führte zu einer Welle von Massenprotesten in ganz Polen – die größten seit den Zeiten der Solidarność. Ohne Unterbrechung gehen jeden Tag im ganzen Land Menschen auf die Straße. Dort drücken sie ihren Widerstand gegen den Raub von Grundrechten der Frau aus – nicht nur in Warschau, sondern auch in kleineren Städten und Ortschaften. Einer der größten Proteste ereignete sich am 30. Oktober unter dem Slogan „Alle nach Warschau“. Schätzungen der Polizei zufolge, reisten an diesem Tag über 100.000 Menschen aus dem ganzen Land in die Hauptstadt. Der Schutz des Rechts auf Abtreibung war und ist das Hauptpostulat der Protestierenden. Inzwischen ist das jedoch nicht mehr die einzige Forderung der Straße. Ihre Unterstützung für Frauenrechte – und bei der Gelegenheit auch den Widerstand gegen die Regierungshandlungen – drückten auch andere gesellschaftliche Gruppen aus: Taxifahrer*innen, Landwirt*innen, Künstler*innen, aber auch Schüler*innen und Studierende.
Menschen auf der ganzen Welt zeigten ihre Solidarität mit den polnischen Frauen: Im Laufe der letzten Wochen fanden in fast allen europäischen Hauptstädten Solidaritätskundgebungen statt. Die Stimmen der Anteilnahme kamen sogar aus entfernteren Teilen der Welt, zum Beispiel Bali oder Australien.
Eine koordinierende Rolle im Protest von unten übernahm der Allgemeinpolnische Frauenstreik. Am Sonntagabend des 1. November gründete das Gremium einen Konsultationsrat, der echte Postulate aus den Forderungen entwickeln sollte, die ihm von den tausenden Protestierenden zugetragen wurden. Zu den wichtigsten Postulaten gehören:
- die Zuteilung von 10 Prozent des Staatsbudgets für den Gesundheitssektor
- der Rücktritt des Ministers für Forschung und Bildung, Przemysław Czarnek
- das unverzügliche Ende der Finanzierung der Kirche durch den Staat und die faktische Trennung von Kirche und Staat
- die Abschaffung von Knebelverträgen, der Einsatz gegen Mobbing und Ausbeutung
- der Kampf gegen die Klimakrise
- ein besseres Polen für LGBT+-Bürger*innen
- die Befreiung der öffentlichen Medien und ihre Umformung in eine echte Quelle des Wissens und der Information
- Hilfen für Unternehmer*innen
Die Reaktion der Regierung
Die friedlichen Massenproteste trafen auf eine scharfe Reaktion. Jarosław Kaczyński – Vorsitzender der PiS – sowie die gesamte Regierungskoalition bezeichneten die Demonstrationen als Attacke auf die polnische Identität. Kaczyński veröffentlichte eine Erklärung, in der er feststellte:
In diesen Attacken sieht man klare Elemente von Planung, eventuell sogar von entsprechender Ausbildung. Es ist eine Attacke, die Polen vernichten soll. Sie soll zum Triumph jener Kräfte führen, deren Herrschaft die Geschichte des polnischen Volkes beendet, so wie wir es bislang kannten. Eines Volkes das wir in unseren Gedanken und unseren Herzen tragen.
In der gleichen Erklärung rief Jarosław Kaczyński seine Wähler*innen zum Schutz der Kirche und der christlichen Werte auf. In der Praxis kommt das der Aufwiegelung einer gesellschaftlichen Gruppe gegen eine andere gleich. Dennoch lässt sich beobachten, dass ein Teil des Regierungslagers seit einigen Tagen versucht, das gesellschaftliche Klima zu beruhigen – erfolglos. Premierminister Mateusz Morawiecki rief in seiner Rede vom 4. November zur Beendigung der Demonstrationen auf, mit Verweis auf die epidemiologische Bedrohung und eine mögliche Verlagerung der Proteste ins Internet.
Auch Präsident Andrzej Duda schaltete sich in die Angelegenheit ein und kündigte an, ein Gesetzesprojekt an das Parlament zu überweisen, das den bestehenden Abtreibungskompromiss de facto eskalieren lassen würde. Der Erklärung des Präsidenten zu folge, solle dieser Entwurf „die Möglichkeit bieten, Schwangerschaften in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der polnischen Verfassung nur im Falle der sogenannten tödlichen Defekte zu beenden, wenn pränatale Tests oder andere medizinische Indikationen auf eine hohe Wahrscheinlichkeit hinweisen, dass das Kind totgeboren oder mit einer unheilbaren Krankheit oder einem unheilbaren Defekt belastet wird, der unabhängig von den angewandten therapeutischen Maßnahmen unweigerlich und direkt zum Tod des Kindes führt.“ Der Vorschlag des Präsidenten würde bedeuten, dass eine Frau zur Geburt des Kindes gezwungen wäre, selbst wenn die pränatalen Untersuchungen eine schwere, unheilbare Krankheit oder Beeinträchtigung feststellen würden [Anm. d. Üb.: solange diese nicht zum Tod des Kindes führt].
In derartigen Fällen waren Abtreibungen bisher erlaubt. Der Präsident behauptet, die Bevölkerungsmehrheit stünde hinter seinem Vorschlag. Diese Behauptung deckt sich nicht mit der Realität. Laut einer IBRIS-Umfrage im Auftrag der Zeitung Rzeczpospolita [5] sprachen sich im Dezember 2019 circa 50 Prozent der Befragten dafür aus, die bestehenden Abtreibungsbestimmungen beizubehalten. 29 Prozent befürworteten zudem, den Zugang zu Abtreibungen zu erleichtern. In einer anderen Umfrage, die Ipsos im Dezember 2018 für OKO.press durchführte [6], gaben 78 Prozent der Befragten an, eine Frau solle das Recht haben, eine Schwangerschaft abzubrechen, wenn die Wissenschaft auf schwere und irreversible Schäden am Fötus oder auf eine unheilbare, tödliche Krankheit hinweist.
Eine potenzielle Lösung der Situation
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts hat die polnische Gesellschaft in gewisser Weise aufgeweckt. Auf der Straße wird deutlich: Die Menschen protestieren nicht mehr nur gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, sondern auch gegen Maßnahmen der Regierung in anderen Lebensbereichen, etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen. Durch ihre Reformen hat sich die PiS in den letzten 5 Jahren die absolute Macht gesichert. Dadurch ist sie jedoch blind für die Bedürfnisse der Bürger*innen geworden.
Es ist alarmierend, dass nur wenige Menschen sich einen Eindruck machen konnten, wie der Staat funktioniert und wie er aufgebaut ist: Bisher kam die Regierung mit der Demontage von Institutionen eines demokratischen Rechtsstaates beinahe ungestraft davon. Die meisten Bürger*innen wussten entweder nicht, was passiert, oder sahen nicht das Problem daran. Zwar stießen die im Justizsystem eingeführten Änderungen jedes Mal auf Proteste der Öffentlichkeit; Dennoch wurden unabhängige Gerichte und die Staatsanwaltschaft größtenteils von jenen Mitgliedern des Bildungsbürgertums geführt, die Kenntnis der Rechte und Freiheiten hatten. Erst als das Gesetz direkt in Leben und Gesundheit der Menschen vordrang, kam es zu Massenprotesten.
Auf der anderen Seite protestieren zum ersten Mal seit fünf Jahren massiv junge Menschen, die bisher nur in begrenztem Umfang am bürgerlichen Leben beteiligt waren. Ihr Engagement beschränkte sich bislang hauptsächlich auf Klimaproteste. Auf den Straßen kann man viel positive Energie spüren – sowie den Willen, die Funktionsweise des Systems zu verändern. In der jüngsten Generation gibt es einige vielversprechende Frauen, die das Potenzial haben, Führungspersönlichkeiten zu werden, die über ausgezeichnete Kompetenzen verfügen, frei sprechen können und politische Intuition besitzen. Die Zeit wird zeigen, was mit diesen Frauen passieren wird. Eine große Chance für Verbesserungen wäre ihr Eintritt in die Politik, wo sie ihr volles Potenzial ausschöpfen könnten. Genauso wichtig ist es in der gegenwärtigen Situation, dass die Medien die junge Generation und die Frauen wahrnehmen, damit für sie Platz im öffentlichen Dialog ist.
Werden die Proteste zu tieferen Veränderungen in der polnischen Politik führen? Im Moment ist es schwierig, eine klare Antwort auf diese Frage zu geben. Die Vertreter*innen des Allgemeinpolnischen Frauenstreiks versuchen die positive Energie der Straße in konkrete Forderungen und Vorschläge für legislative Lösungen umzusetzen. Allerdings gibt es keine Anzeichen für eine Bereitschaft des herrschenden Lagers zum Dialog mit der Gesellschaft. Das ist ein großes Problem. Mithilfe des gesamten Staatsapparats, einschließlich der Staatsanwaltschaft, der Polizei und sogar der Armee, verschanzen sich die Machthaber*innen sogar auf ihren Positionen.
Der Monolith des herrschenden Lagers hat Kratzer
Es gibt Stimmen aus den Reihen der Regierenden, die Partei sei diesmal einen Schritt zu weit gegangen. Es wird sich bald zeigen, welche Seite die größere Entschlossenheit an den Tag legt. Wird die Gesellschaft Druck auf die Regierung ausüben und ihre bürgerlichen Forderungen umsetzen? Oder wird die Partei um jeden Preis an den Überresten ihrer Macht festhalten? Wird die Energie der jungen Menschen und der Frauen zu positiven Veränderungen im Land führen? Ich hoffe. Als Frau, als polnische Staatsbürgerin, würde ich das mir und allen Polinnen und Polen wünschen.
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