Zur Person: Roger Hessel war mehrere Jahre Lehrbeauftragter an einer Privatuniversität in Ankara. Beim Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) war der Jurist für die deutsch-türkische Berufsbildungskooperation zuständig. Zuvor war er Berater für die Europäische Kommission sowie die Internationale Organisation für Arbeit (ILO).
Ansgar Skoda für treffpunkteuropa.de: Sie haben drei Jahre an einer privaten Universität in Ankara gelehrt und die Regierung beraten. Wie ist die politische Lage in der Türkei?
Roger Hessel: Wir Deutschen haben oft ein eingeschränktes Türkeibild, geprägt von unseren Millionen türkisch-stämmigen Mitbewohnern und unseren Antalya-Urlauben. Dabei ist das post-ottomanische Land ein Sammelbecken voller reicher, historischer und ethnischer Einflüsse. Man muss länger vor Ort sein, um z. B. die Unterschiede zwischen Westtürkei und Ostanatolien zu verstehen. Da herrschen größere Zentrifugalkräfte als zwischen Sizilien und Südtirol. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan genießt immer noch großes Vertrauen, insbesondere in Mittel- und Ostanatolien. Dort ist die "neue religiöse Generation“.
Wie ist das Verhältnis der Türkei zur EU?
Die Beziehungen der EU zu der Türkei haben eine komplexe Geschichte. Als im Jahr 2002 die islamistische AKP die Regierungsmacht übernahm, galt die Aussicht auf einen Beitritt in den EU-Binnenmarkt den AKP-Anhängern der wachsenden industriellen Mittelschicht noch als attraktiv. Inzwischen ist die Weltsicht der Türken deutlich weniger europa- und mehr asienorientiert. Ich hatte in Gesprächen mit türkischen Ministerialbeamten auf die Win-Win-Effekte einer „europäischen Perspektive“ hingewiesen, erlebte aber – etwa beim staatlichen Bildungssystem – wie langwierig die Reformbemühungen sind. Hier zeigen die EU-Reformprogramme bislang nur langsam Wirkung.
Wie ist der Stand der Beitrittsverhandlungen?
Die Verhandlungen sind fast zum Stillstand gekommen ist. Das Thema der EU-Mitgliedschaft ist für die Türken wenig präsent. Die türkische Regierung ist an der Umsetzung der rechtsstaatlichen Anforderungen an die Mitgliedschaft in Bereichen wie Demokratie und Menschenrechte kaum interessiert. Durch die Wirtschaftskrise hat die EU an Attraktivität verloren. Andererseits betonen die EU-Staats- und -Regierungschefs zu Recht, dass ein EU-Beitritt von umfangreichen Reformen abhängt. Seit 1998 beklagt die EU-Kommission in ihren Fortschrittsberichten und erhebliche Probleme in der Minderheitenpolitik. Laut den sogenannten Kopenhagener Kriterien von 1993 muss die Türkei aber alle gemeinsamen EU-Vorschriften und -Maßnahmen übernehmen – und zwar ohne Verhandlungsspielraum.
Vor allem Frankreich und Deutschland sind der Türkei-Mitgliedschaft gegenüber sehr reserviert eingestellt. Nur Großbritannien verkündet immer noch Willkommensgrüße, ausgerechnet das Land, das über einen EU-Austritt nachdenkt, den „BREXIT“ . Zwar dringt Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu weiterhin auf eine EU-Mitgliedschaft seines Landes, aber es gibt ernste Hindernisse:
Wegen des seit langem schwelenden Zypern-Konflikts blockieren der EU-Staat Zypern und die Türkei eine engere Zusammenarbeit von EU und NATO. Die EU will vor allem in der aktuellen Flüchtlingskrise die Türkei künftig mehr in die Verantwortung nehmen. Kein leichtes Unterfangen! Die Türkei gehört zu den wichtigsten Transitländern für Flüchtlinge nach Europa. Migranten aus Afghanistan, Irak, Iran, Syrien, Somalia und Eritrea bleibt kaum ein anderer Fluchtweg als über die Türkei nach Griechenland oder Bulgarien. Die Türkei hat daher Verhandlungsmasse für die Verteidigung ihrer Interessen.
Hat die Flüchtlingskrise etwas ins Rollen gebracht?
In der Tat geschah am 14. Dezember letzten Jahres Folgendes: EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und der türkische Innenminister Muammer Güler unterzeichneten in Ankara ein Abkommen, wonach sich die Türkei zur Rücknahme von irregulären Migranten verpflichtet. Die Regierung in Ankara hatte sich bei den Gesprächen verpflichtet, die türkischen Grenzen besser zu schützen. Rechtswidrig eingereiste Migranten können wieder abgeschoben werden. Im Gegenzug beginnen ab heute Verhandlungen über eine visafreie Einreise türkischer Staatsbürger nach Europa.
Am selben Tag hatten sich die 28 EU-Staaten bei einem Brüsseler Sondergipfel auf die Eröffnung eines neuen Verhandlungskapitels verständigt. Konkret wurde von den 35 Verhandlungskapiteln das Verhandlungskapitel „Wirtschafts- und Währungspolitik“ eröffnet. Auch hier war der Hintergrund ein Aktionsplan, der eine bessere Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise garantieren sollte. Als Gegenleistung sicherte die EU dem Land drei Milliarden Euro für Flüchtlingshilfe zu. Ein europäischer Diplomat, der ungenannt bleiben möchte, fasste die Grundstimmung in Brüssel pragmatisch zusammen: "Wir müssen jetzt den Migrantenfluss senken. Das ist Realpolitik. Unseren Sorgen für die türkische Innenpolitik müssen wir beiseitelassen.“
Kann so die Aussicht auf einen EU-Beitritt als Fernziel verbessert werden?
Ich bezweifele, ob der Abstand zwischen Brüssel und Ankara kleiner geworden ist. Die Verhandlungen müssen aber weitergeführt werden. Wenn bei den verschiedenen Themen EU-Beitritt, Flüchtlingspolitik und Visa-Freiheit nicht parallel vorangeschritten würde, wären die Folgen für beide Seiten gravierend. Es darf jedoch wegen der Flüchtlingskrise bei Menschenrechtsverletzungen nicht weggesehen werden. Noch gibt es in der Türkei kein funktionierendes Asylsystem; viele Flüchtlingslager sind völlig überlastet. Wenn die Gefahr besteht, dass zurückkehrende Flüchtlinge schutzlos unhaltbaren Zuständen ausgeliefert sind, sollte die Türkei nicht auf die vollständige Abschaffung der Visapflicht hoffen.
Die Regierungen Ungarns und Polens haben in jüngster Zeit den Europagedanken abgewertet. Ich befürchte daher, dass es auch in der Türkei Widerstände geben wird. Der funktionale Konsens der EU lautet ja, dass der EU Kompetenz nur übertragen werden, wenn ersichtlich ist, dass das Problem auf europäischer Ebene besser zu lösen ist als auf nationaler. Die Kompetenzen werden also in Brüssel gebündelt, wodurch die Staaten wiederum Souveränität zurückgewinnen, insbesondere gegenüber globalen Wirtschaftsmächten. Während meiner Tätigkeit in der Türkei habe ich kaum Debatten gehört, bei denen diskutiert wurde, ausgewählte Kompetenzen nach Brüssel abzugeben.
Sollte mit der Türkei trotzdem weiterverhandelt werden?
Die Beitrittsverhandlungen sollten trotz allem nicht eingefroren werden. Mit seinen ca. 78 Millionen – in 2050 ca. 95 Millionen – Menschen ist das Land strategisch zu wichtig. Solange jedoch weder die europäische, noch die türkische Seite derzeit daran glaubt, dass die Türkei eines Tages Teil der EU sein wird, bleibt die Zusammenarbeit zwischen Ankara und Brüssel anfällig für politische Zyklen – und für Deals, bei denen unterschiedliche Interessen verknüpft werden. Kein behagliches Gefühl für diejenigen, die die EU als eine Rechts- und Wertegemeinschaft sehen. Die im Vertrag von Lissabon niedergelegten Werte laufen Gefahr, aufgeweicht zu werden. Ohne Verhandlungen gibt es aber keine effizient koordinierten Grenzkontrollen. Das würde zu einem Anstieg der Flüchtlinge im EU-Gebiet führen, und in der Türkei zu einer zunehmenden Polarisierung der politischen und ethnischen Lager, mit Sicherheitsfolgen auch für uns. Die EU und die Türkei brauchen einander auch für Öl- und Gas-Pipelines, die durch den anatolischen Korridor gehen. In einer hochvernetzten Welt können die Grenzen nicht mehr völlig geschlossen werden.
Kann die EU zerbrechen?
Nein. Was wäre denn die Alternative? 28 Mini- Staaten im Alleingang? So bekämen wir China oder die USA beim nächsten Klimagipfel nicht auf unsere Seite. Allenfalls würde es eine EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten geben. Die EU ist eine einzigartige Staatengemeinschaft. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist die Fähigkeit, Unterschiede zwischen den Mitgliedern zu überwinden. Ihre konkurrenzlose „Soft Power“ ist es, Dinge gemeinsam zu tun. Jetzt muss sich zeigen, ob wir die EU-Institutionen mit der damit erforderlichen Robustheit ausstatten wollen. Haben wir nicht bereits von der Vielfalt der Kulturen auf engem Raum enorm gelernt? Mehr etwa als China und Japan, die sich bis aufs Messer um Zwerginseln streiten? Europa ist unsere Heimat. Nicht nur Berlin oder Paris oder Mailand. Europa ist eine Art Schweiz in der Welt. Und diese hohe Lebensqualität hat mit den europäischen Werten zu tun.
Das klingt abstrakt…
Ja, von „europäischen Werte“ sprechen klingt sogar pathetisch. Aber schauen Sie: Ohne die Achtung der Menschenwürde, ohne Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit gäbe es keinen europäischen Binnenmarkt. Und der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom erinnert uns daran, dass Europa vor allem ein kultureller Raum ist. Dieses geistige Europa gab es schon, als Voltaire seine Bücher in Holland drucken ließ. Ein Raum mit der höchsten Museums-, Theater- und Universitätsdichte der Welt! Wir erleben jetzt den Lernprozess, für diesen Raum überstaatliche Regeln anzuwenden. Das braucht Zeit.
Ganz konkret: Ich habe drei Jahre lang mit Muslimen in Ankara zusammengelebt. Jetzt in der Flüchtlingskrise scheint es mir, dass wir normale Muslime nicht mehr von gewaltbereiten Fanatikern unterscheiden können. Wir müssen lernen, auf die Migrationsströme europäisch zu antworten. Und den Anderen besser kennenlernen. Wenn wir unsere Tradition verschweigen, dann wird es mit unserer kulturell-historischen Heimat schwierig. Dafür sollten wir uns auch unserer christlichen Tradition bewusst sein, zumindest der kulturstiftenden Rolle des Christentums. Wir müssen unsere Werte vertreten, unsere Freiheits- und Gleichheitsrechte, ehrlich und handfest. Das erleichtert den Dialog. Frei von „ Pegida-Ängsten“ kann das die Begegnungen mit all denen fördern, die zu uns kommen wollen.
Brauchen wir eine europäische Vision?
Die Geschichte der EU ist eine des politischen Friedens und der Krisen. Die Integration ist nach wie vor ein hehres Ziel. Der Mehrwert einer Gemeinschaft von einer halben Milliarden Menschen erschließt sich nicht unmittelbar und wird an unseren Schulen nicht gelehrt. Brüssel ist weit weg vom Alltag. Die Flüchtlingskrise ist eine weitere Herausforderung, der wir mit einem „Open Mindset“ begegnen sollten. Es braucht auch eine langfristige Vision. Die Erasmus-Studenten haben grenzüberschreitende, oft beglückende Erfahrungen gemacht. Diese mehrsprachige, polyglotte Generation ist die „Creative Class“ Europas und deren Ideen stimmen hoffnungsvoll.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hessel.
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