Demokratie ohne Wahlen?

Buchkritik „Gegen Wahlen“ von David Van Reybrouck

, von  Jagoda Pokryszka

Demokratie ohne Wahlen?

Wer in letzter Zeit in Wien war, hat sie bestimmt bemerkt: die „Scheiss-Wahlen“-Pickerl auf den Litfaßsäulen. Normalerweise werden ähnliche Plakate von Anarchisten angebracht, aber nun hat sich mit diesem umstrittenen Thema jemand beschäftigt, der weit entfernt vom anarchistischen Gedankengut steht: David Van Reybrouck mit seinem Buch „Gegen Wahlen“.

Symptome

In den Medien wird das Thema „Populismus“ detailreich beschrieben. Jeden Tag erscheint ein neues Interview mit einem Soziologen oder einer Politikwissenschaftlerin. Das ist sehr interessant, reines Gerede führt jedoch nicht zur Lösung dringender Probleme. Man muss Meinungen mit Fakten belegen. Das machen und mögen die Populisten nicht. Mutmaßlich ist Angela Merkel die Meisterin in der Sache. Mit einem Stapel von Diagrammen und Tabellen ist sie imstande, die eigensinnigsten Gegner zu überreden. David van Reybrouck hat sich wohl von ihr inspirieren lassen. Er beruft sich auf Studien, die zeigen, wodurch sich der Populismus eigentlich äußert. Vor allem im Misstrauen den politischen Institutionen gegenüber: nur ca. 30% Europäer vertrauen der EU und nationalen Parlamenten und Regierungen. Die Bürger gehen auch seltener wählen. „In den sechziger Jahren nahmen in Europa mehr als 85% der Wahlberechtigten an Wahlen teil. (…) Im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts sank die Zahl sogar unter 77%, der niedrigste Wert seit dem Zweiten Weltkrieg“. Darüber hinaus verzichten sie immer häufiger auf die Mitgliedschaft in einer Partei. Wer möchte noch regieren, wenn bei einer Regierungsbeteiligung ein Verlust von 8% der Stimmen und mehr droht? Wer oder was ist Schuld an diesem Verdruss? Kommen wir zur...

Diagnose

Der belgische Historiker stellt vier Gründe für die Krise der Demokratie vor. Sie liege an: den Populisten, der Demokratie selber, der repräsentativen Demokratie und der elektoral-repräsentativen Demokratie. Viele mögen der These 1 zustimmen. Das Demokratiemüdigkeitssyndrom wird von den sogenannten Volksführern ausgenutzt, um an die Macht zu gelangen. Die Populisten wollen ohne Rücksicht auf die Vielfalt der Gesellschaft, das bewährte System verändern. Die anderen drei Analysen sehe ich problematischer. Ich bin dagegen, Wahlen als den bedeutenden Faktor der demokratischen Krise zu bezeichnen. Nichtsdestotrotz habe ich Reybroucks Diagnose mit Spannung und Interesse gelesen. Daran liegt der größte Vorteil dieses Buches: die Ansichten des Autors mögen zu revolutionär scheinen, um vollkommen akzeptiert zu werden, aber sie verschaffen gleichzeitig einen neuen Blick auf das angeblich gut gekannte System. „Durch die kollektive Hysterie von kommerziellen Medien, sozialen Medien und politischen Parteien ist das Wahlfieber permanent geworden“, schreibt Reybrouck. Andererseits haben die gleichen verpönten social media zur Erhöhung des politischen Bewusstseins der Bürger beigetragen. Die Online-Nutzer wurden plötzlich mündig, wie im antiken Athen, wo alles begann.

Pathogenese

In Athen hat sich die wahre Demokratie entwickelt. Demokratie bedeutet „das Regieren des Volks“ und wurde damals genauso verstanden. Die wichtigsten Verwaltungsorgane wurden per Losentscheid besetzt. „Das Losverfahren galt sowohl für die Legislative als auch für Exekutive und Judikative“. Die Mandate wechselten schnell. Jeder Bürger war gleichzeitig ein aktiver Politiker und Mitgestalter des Gesetzes. In der Renaissance haben sich viele florierende Städte wie Venedig, Florenz, Parma auch auf das Losverfahren verlassen. Zwar konnte, wie in der Antike, nur ein geringer Teil der Gesamtbevölkerung daran teilnehmen, aber die Prozeduren sorgten für Ruhe, Stabilität und Zusammenarbeit zwischen den rivalisierenden und entzweiten Adelsfamilien. Das auf Schicksal und Wahrscheinlichkeit basierende System wurde dennoch mit wahren Wahlen verbunden, damit kompetente Menschen Gesetze verabschieden oder Urteile fällen konnten. Den Beginn der Demokratiekrise hat man laut Reybrouck im achtzehnten Jahrhundert zu verorten. James Madison schrieb 1788: „Das Ziel jeder politischen Verfassung ist – oder sollte es zumindest sein – erstens, als Regenten Männer zu finden, die genügend Weisheit besitzen, um das gemeinsame Wohl für die Gesellschaft zu erkennen, und genügend Tugend, um es zu verfolgen. […] Dass die führenden Männer durch Wahl bestellt werden, ist die charakteristische Verfahrensweise der republikanischen Regierungsform“. Ein Staatsmann also, der sich um den Wohlstand aller Bürger sorgt? Ganz im Gegenteil, sagt Van Reybrouck. Demokratie beruhe nicht darauf, dass eine gewisse Sozialschicht die Macht übernehme. Am demokratischen Regieren soll jeder Bürger – unabhängig von Geschlecht, Ausbildung, sozialem Hintergrund oder Weltanschauung – beteiligt sein. In den Vereinigten Staaten hat man die Aristokratie eingeführt, weil lediglich die höchste Schicht zum Abgeordnetenhaus gewählt wurde. „Wahlen waren (…) nie als demokratisches Instrument gedacht gewesen, sondern als Verfahren, um eine neue, nicht-erbliche Aristokratie an die Macht zu bringen“, beschreibt es Reybrouck. Der Rest der Gesellschaft hat im Laufe der Zeit begriffen, dass er keinen Einfluss auf ihre Vertreter hat. Empörung und Protest begannen sich zu verbreiten. Das vorher erwähnte Demokratiemüdigkeitssyndrom kann man heutzutage in voller Ausprägung beobachten.

Therapie

Als Maßnahme gegen den Untergang des liberalen Staates wird die Wiedereinführung des Losverfahrens empfohlen. Das ist eine höchst kontroverse Lösung. Das Buch stellt aber ein paar gelungene Beispiele vor, die zwar keinen Umbruch in der Funktionsweise der Demokratie mitbrachten, aber das politische Bewusstsein der Bürger steigerten. In Island zum Beispiel haben 25 zuvor gewählte Bürger über eine Verfassungsänderung zur gleichgeschlechtlichen Ehe debattiert. Im Voraus wurden tausend Bürger nach den wichtigsten, im Grundgesetz verankerten Werten gefragt. Anhand der Antworten erstellte man ein Gutachten, das als Grundlage der Diskussion diente. Jeder Verfassungsartikel wurde auf der Webseite veröffentlicht und alle Bürger konnten ihre Meinung dazu äußern. Das Projekt wurde positiv wahrgenommen. Die Legitimität des beratenden Gremiums wurde oft angezweifelt, weil kein richtiges Losverfahren stattgefunden hatte. Um den Prozess korrekt durchzuführen hatte allerdings ein unabhängiges Institut in Island „eine willkürliche Gruppe von 66 Personen, unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und Herkunft zusammengestellt“. Mit 33 Politikern hat sie über acht Verfassungsartikel beraten. Letztendlich entstand eine Version des Grundgesetzes, der zwei Drittel der Isländer durch ein Referendum am 22. Mai 2015 zustimmten. 62% der Wähler stimmten somit für die gleichgeschlechtliche Ehe. Vielleicht deswegen, weil sie entweder selbst in die Erarbeitung des Gesetzes einbezogen wurden oder einen Beitrag an das Gremium geschickt hatten. Es gibt Vorschläge, ein Losverfahren auf europäischer Ebene ins Leben zu rufen. Professor Hubertus Buchstein hat sich das House of Lots ausgedacht: „Die zweihundert Teilnehmer sollten unter der gesamten erwachsenen Bevölkerung der Europäischen Union ausgelost werden, proportional verteilt über die Mitgliedsstaaten, jeweils für die Dauer von zweieinhalb Jahren“. Sie sollten das Anrecht auf Veto haben und Initiativen einbringen können. Die Vision von David Van Reybrouck scheint mir sehr idealistisch. Sie kann nur dann gelingen, wenn alle Bürger mitmachen. Andererseits ist wichtig, sich mit verschiedenen Ideen zur Rettung der Demokratie vertraut zu machen. Die aus dem antiken Athen stammenden Grundlagen des politischen Systems können zur Belebung der misstrauischen Gesellschaft führen. Die liberale Demokratie erlebt eine ernsthafte Krise und jeder Vorschlag zu ihrer Behebung ist daher prüfenswert.

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