Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan in Bergkarabach existiert schon seit etwa hundert Jahren. Nach Ende der russischen Vorherrschaft im Jahr 1917 erlangten beide Länder für kurze Zeit Unabhängigkeit und wurden fünf Jahre später in die Sowjetunion aufgenommen. In den Jahren der Unabhängigkeit war die Region Bergkarabach armenisch, gehörte aber ab 1923 zur Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Über die Jahrzehnte hinweg kam es zu systematischer Unterdrückung der jeweils anderen Bevölkerungsgruppen von beiden Seiten sowie zu Pogromen und Konflikten ab den späten Achtzigerjahren bis 1994 und erneut ab 2020. 1994 kam es zu einem Waffenstillstandsprozess durch die Minsker Gruppe der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) mit Vorsitz von Frankreich, Russland und den Vereinigten Staaten. Auch in dem Konflikt seit 2020 gab es Mediations- und Unterstützungsversuche vonseiten Russlands, der USA und europäischer Länder.
„Über die Jahrzehnte hinweg kam es zu systematischer Unterdrückung der jeweils anderen Bevölkerungsgruppen “
So entschied etwa Russland vor drei Jahren, Truppen zur Friedenssicherung in Bergkarabach zu stationieren. Diese Truppen griffen aber beim erneuten Entfachen des Konflikts im September 2022 nicht ein. Wohingegen Russland in der Vergangenheit ein zentraler Sicherheitspartner für Armenien im Bergkarabach-Konflikt war, hat Russlands Untätigkeit und die Kapitulation gegenüber Aserbaidschan einen Wandel in der armenischen Außenpolitik verursacht. Dieser Wandel, der noch andauert, bringt Veränderungen in den geopolitischen Beziehungen Armeniens mit Russland, der EU und ihren Mitgliedsländern, Asien und den USA.
Innenpolitische Gegensätze: Anti-Russland oder Anti-Pashinyan?
Die armenische Regierung zeigt eine zunehmende antirussiche Tendenz, die schon vor September 2023 begonnen hatte, aber durch den jüngsten Konflikt verstärkt wurde. Gleichzeitig entwickeln sich innenpolitische Spannungen in Armenien, da Teile der Bevölkerung und der Opposition die Einstellung des Premierministers Nikol Pashinyan zum Bergkarabachkonflikt stark kritisieren. Pro-russische Ansichten spielen eine wichtige Rolle in dieser Kritik. Ein Bericht von Caucasus Watch aus dem Jahr 2022 zeigt, dass pro-russische Unterstützer*innen in Armenien zum Beispiel die Regierung für den fehlenden Einsatz für Sicherheit in Bergkarabach beschuldigen. Pashinyan handle ihrer Ansicht nach im westlichen Interesse und nutze aus, dass Russland auf den Ukrainekrieg fokussiert ist, um die Region Bergkarabach „aufzuopfern“ und so den russischen Einfluss loszuwerden.
Russlands militärische Unterstützung in Bergkarabach sollte vor allem den Waffenstillstand und die Stabilität in der Region erhalten. Der Latschin-Korridor, der die Hauptstadt der Republik Bergkarabach mit Armenien verband, galt dabei als einer der geopolitischen Schlüsselpunkte. Laut einer Analyse des Außenpolitische Berater im Deutschen Bundestag, Mikheil Sarjveladze, wurde 2020 bei den Verhandlungen durch die OSZE-Minsk-Gruppe vereinbart, dass „zur Überwachung der Lage und Absicherung der Korridore [ …] 1960 russische Militärangehörige eingesetzt werden“. Seit Dezember 2022 wurde jedoch der Latschin-Korridor blockiert, wodurch die armenische Bevölkerung in Bergkarabach nur noch eingeschränkt auf Versorgungsmittel zugreifen konnte. Infolgedessen wurde die menschenrechtliche Situation der Armenier*innen in Bergkarabach gefährdet.
Nach zunehmendem Mangel an russischer Hilfe im Konflikt äußerte Pashinyan nun Kritik an der Situation gegenüber westlichen Ländern. In einer Rede vom 17. Oktober im Europäischen Parlament charakterisierte er Russlands Verhaltensweise: „When hundreds of thousands of Armenians were fleeing from Nagorno Karabakh to the Republic of Armenia, not only did our allies in the security sector refuse to help us, but they also made public calls for a change of power in Armenia, to overthrow the democratic government”*. Diese Äußerungen in dem bedeutsamen Kontext einer EU-Institution deuten auf eine geopolitische Neuorientierung der armenischen Regierung hin, in der Vertrauen in den Westen das geschwächte Vertrauen in Russland ersetzt.
Armeniens President Nikol Pashinyan im Europäischen Parlament. Foto: European Parliament, CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0, via Wikimedia Commons
Keine Kritik ohne Konsequenz: Die Reaktion Russlands
Trotz fehlenden Einsatzes in den vergangenen Monaten scheint Russland auf eine Einflussposition in Armenien zu beharren. Schon im September wurde auf dem Social-Media-Kanal Telegram laut dem Labor für digitale Forensik der amerikanischen Denkfabrik Atlantic Council Falschinformationen von Kreml-treuen-Akteuren verbreitet und als Aufruf genutzt, um die armenische Regierung zu stürzen. Am 23. Oktober wurde Pashinyans Position in einer Sendung im russischen Staatsfernsehen angegriffen. Das ausgestrahlte Programm beinhaltete Propaganda, die die aserbaidschanische Übernahme Bergkarabachs als Pashinyans persönliches Scheitern, beziehungsweise Vorhaben präsentiert. Die Sendung behauptet etwa, Pashinyan hätte in einem öffentlichen Statement erwähnt, dass die Kapitulation Bergkarabachs Armenien eine Annäherung zu Aserbaidschan, der Türkei sowie dem Iran ermögliche.
„Russland beharrt durch Falschinformationen und Propaganda auf seine zentrale Position in Armenien“
Dieses Beispiel ist nur eines vieler Fälle von russischer Propaganda und Falschinformationen, welche nicht nur demokratische Vorgänge in Armenien gefährden und verstärkt innenpolitische Unruhen auslösen, sondern auch ein Versuch von Seiten Russlands sind, um von der eigenen Inaktivität in Bergkarabach abzulenken und Stärke zu präsentieren. Diese Selbstdarstellung hat es zum Ziel, Russlands Chancen für politische Kontrolle in Armenien zu erhöhen. Im Gegenzug setzte Armenien ein diplomatisches Abwehrzeichen, indem das armenische Außenministerium eine Beschwerde über das TV-Programm einreichte. Daraufhin lud Moskau den armenischen Geschäftsträger vor, um die „antirussische Bewegung“ innerhalb der armenischen Regierung zu besprechen.
Zudem bestrafte Russland Armenien, indem der Gesetzesentwurf des russischen Staatsduma, armenische Führerscheine in Russland anzuerkennen, aufs Weitere pausiert wurde. Solch ein Gesetz würde Armeniern helfen, die für Arbeitszwecke in Russland leben und die je nach Quelle auf zwischen 80.000 bis 300.000 geschätzt werden. Russland fordert die Anerkennung des offiziellen Sprachstatus für Russisch in Armenien: eine kulturdiplomatische Forderung, die auch schon vor Pashinyans Amtszeit abgelehnt wurde. Russland lässt also nicht einfach zu, dass Armenien sich politisch abwendet und neue Bündnispartner sucht. Obwohl die diplomatischen Konsequenzen bis jetzt eher als Warnung dienen, wird deutlich, dass Armeniens Sicherheit durch die Qualität der Beziehung zu Russland deutlich beeinflusst ist.
*Übersetzung: „Als Hunderttausende von Armeniern aus Berg-Karabach in die Republik Armenien flohen, verweigerten unsere Verbündeten im Sicherheitssektor nicht nur ihre Hilfe, sondern riefen auch öffentlich zum Machtwechsel in Armenien auf, zum Sturz der demokratischen Regierung“. Almqvist, V. Armenian Prime Minister: We must move steadily towards peace with Azerbaijan, Europäisches Parlament, 17.10.2023
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