Die Idee ist eigentlich simpel: Besteuert werden sollte das, was schädlich für das Klima und damit letztlich für Menschen und für die Wirtschaft ist, nämlich CO2. Und da europäische Unternehmen dabei weltweit schon Vorreiter sind, sollen auch Betriebe weltweit dazu bewegt werden, ihre Produktion auf klimafreundliche Alternativen umzustellen. Wer seine klimaschädlichen, im nichteuropäischen Ausland produzierten Produkte trotzdem in der EU verkaufen will, soll einen Zoll bezahlen müssen. Dieser Zoll würde ungefähr dem Betrag entsprechen, der für einen europäischen Produzenten an CO2-Abgaben fällig wäre. Denn für den gilt schon heute, dass er für seine Emissionen Zertifikate erwerben, also bezahlen muss. Mit der Grenzabgabe wäre also der faire Wettbewerb wiederhergestellt, denn sie würde nur auf Importe aus Ländern angewendet, die selbst kein gleichwertiges Bepreisungssystem haben. Gleichzeitig würde Geld ins Portemonnaie der EU fließen. Dieses Geld ist nicht nur notwendig, um die ehrgeizigen Pläne der EU zu finanzieren, bis 2050 klimaneutral zu werden. Es könnte vor allem helfen, das Loch zu stopfen, dass aktuell durch die Corona-Krise in den EU-Haushalt gerissen wird. Zudem wird auch der zusätzlich zum Haushalt neu aufgesetzte Wiederaufbaufonds bald neue Einnahmen erfordern, um jetzt aufgenommene Kredite wieder zurückzuzahlen.
Fridays for Future, der Europäische Gewerkschaftsbund, 28 Nobelpreisträger*innen… und seit ein paar Monaten auch der Europäische Rat: Die Liste von Unterstützer*innen für diese simple Idee ist bunt und lang. 2019 hat es das ebenso kreative wie einleuchtende Vorhaben dann auch endlich auf die höchste politische Ebene geschafft: Ursula von der Leyen nahm den CO2-Grenzausgleichsmechanismus in ihr Arbeitsprogramm auf. Frans Timmermans machte ihn zu einem Kernpfeiler des Europäischen „Green Deals“. Zuletzt haben dann auch die 27 Staats- und Regierungschef*innen ja gesagt. Der Plan kann also theoretisch umgesetzt werden.
Warum eine Klimaabgabe?
Es mag verwundern, dass die Idee für einen Ausgleichsmechanismus erst heute, Jahrzehnte nach dem Bekanntwerden des Klimawandels und dem Beginn europäischer Klimapolitik, in die Tat umgesetzt werden soll. Schließlich werden jedes Jahr Produkte mit einer Bilanz von geschätzt 700 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß in der Produktion in die EU importiert: Das können Stahl aus der Ukraine, Aluminium aus China oder auch Zwiebeln aus Neuseeland sein. Zudem sucht die EU schon lange nach Wegen, das sogenannte „Carbon Leakage“-Problem zu verhindern. Gemeint ist damit die Verlagerung von CO2-intensiver Produktion ins nichteuropäische Ausland, wo für den CO2-Ausstoß keine oder nur geringe Abgaben anfallen. Zwar gibt es bisher kaum wissenschaftliche Untersuchungen, die diese Verlagerungen im großen Stil untersucht haben. Einigkeit besteht aber darüber, dass die Folgen eines solchen Carbon Leakages verheerend wären: Immer mehr Produktionskapazitäten würden aus der EU ausgelagert, Konzerne verpesteten außerhalb der EU weiter die Luft und der Klimawandel würde eher verstärkt als verhindert. Wirtschaftsleistung und Arbeitsplätze in der EU verschwänden.
Als man mit der Einführung des EU-Emissionshandels 2005 beschloss, CO2 endlich einen Preis zuzuordnen und Unternehmen für ihre Emissionen zur Kasse zu bitten, wollte man zunächst dennoch nur europäische Unternehmen miteinschließen. Während man zu diesem Zeitpunkt noch hoffte, dass andere Länder mit ähnlichen Modellen nachziehen würde, entschied man sich dafür, von „Carbon Leakage“ betroffene Branchen anders zu schützen und ihnen die Extrakosten fürs Klima zu erlassen. Dies hat dazu geführt, dass die CO2-intensivsten Sektoren bis heute großzügige Ausnahmen vom Emissionshandel genießen. So wurden von 2013 bis 2020 ganze 43 Prozent aller Emissionszertifikate kostenlos ausgegeben, um zum Beispiel die Stahlindustrie vor internationaler Konkurrenz zu schützen. Das CO2-Grenzausgleichssystem wäre ein Weg, dieses fürs Klima sehr unvorteilhafte Arrangement aufzubrechen: Denn es steht für den Schutz vor unfairer internationaler Konkurrenz durch Abgaben statt Subventionen. Konsequenterweise wäre damit die Gefahr des „Carbon Leakage“ gebannt und auch CO2-intensive Sektoren müssten ganz normal Emissionszertifikate erwerben. Das heißt: Mehr Belastungen für europäische Unternehmen. Aber eben auch für alle anderen.
Zwar fürchten manche Mitgliedsstaaten wie Deutschland auch heute noch eine Krise der Klimadiplomatie, weil der Klimazoll nicht auf Freiwilligkeit setzt und außereuropäische Partner extrem verärgern könnte. Unter dem Eindruck scheiternder globaler Anstrengungen für das Klima, haben sich die Brüsseler Entscheider*innen jedoch dennoch dafür entschieden, mutig voranzugehen: Schließlich wird das neue Instrument auch Anreize für andere Länder setzen, ihre Klimaschutzanstrengungen zu verstärken und eigene Bepreisungssysteme einzuführen, durch die sie dann wieder von der Grenzabgabe befreit würden.
Den Ausschlag dürften aber haushaltspolitische Argumente gegeben haben. Denn der Ausgleichsmechanismus ist eine ideale „EU-Steuer“. Er könnte die EU handlungsfähiger und unabhängiger in der Klimapolitik machen. Zudem kennt der Klimawandel keine Grenzen, und der Binnenmarkt ist ein Kernstück des europäischen Projekts. Und da Unternehmen heute ihre Produktionsstandorte so frei wählen können wie nie zuvor, ist auch klar: Europäisches Handeln ist effizienter als individuelles Handeln der Mitgliedsstaaten. Auch deshalb hat Ursula von der Leyen die CO2-Grenzabgabe in ihre Agenda für den Europäischen Green Deal aufgenommen – und will sie nun unbedingt auch umsetzen.
Und ganz konkret…?
Internationale Erfahrungswerte mit dem Grenzausgleichsmechanismus gibt es bisher noch fast keine. Alle bisherigen Modelle wie zum Beispiel der Kalifornische Grenzausgleichsmechanismus für Elektrizitätsimporte sind von viel kleinerer Reichweite als die Pläne der EU. Auch deshalb hat die EU-Kommission eine umfassende wissenschaftliche Folgenabschätzung in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse gerade mit Spannung erwartet werden. Zunächst einmal muss entschieden werden, welche Wirtschaftsbereiche oder Sektoren erfasst werden sollen. Soll es erst einmal nur um Stahl-, Beton- und Elektrizitätsimporte gehen, die mengenmäßig für den größten Klimaschaden sorgen? Oder sollten auch Pflanzendünger, exotische Früchte, Tiefkühlprodukte und Kleidung mit der Abgabe belegt werden? Zwar verursachen letztere durchaus auch viele CO2-Emissionen. Allerdings ist es bei solchen „komplexeren“ Produkten auch viel aufwendiger und schwieriger, ihren genauen CO2-Ausstoß bei der Herstellung auszurechnen.
Generell gilt: Je präziser die Berechnung, desto komplizierter (und damit teurer) wird die Umsetzung. Einige Lobbyverbände sprechen schon jetzt davon, dass der Mechanismus „viel Aufwand, wenig Wirkung“ bedeute und am Ende doch wohl überhaupt nichts bringen könnte. Um die Unabhängigkeit der Berechnungen zu garantieren, müsste womöglich sogar eine eigene EU-Behörde gegründet werden, die sich dann Schritt für Schritt um die einzelnen Produktkategorien kümmert. So könnte das Grenzausgleichssystem langsam auf immer mehr Bereiche ausgedehnt werden. Dies wäre wichtig, damit auch wirklich genügend Einnahmen generiert werden. Das Verhältnis zum bürokratischen Aufwand müsste jedoch gewahrt bleiben.
Ganz von null müsste die Kommission jedoch bei der Festsetzung der Abgaben auch nicht anfangen. Denn ein Berechnungssystem für Emissionen existiert bereits im Rahmen des Emissionshandels für einzelne betroffene Branchen. Überhaupt sind viele in Brüssel der Meinung, dass die beste Umsetzung des Grenzausgleichssystem diejenige wäre, die das System des Emissionshandels schlicht auf außereuropäische Unternehmen ausdehnen würde, sodass diese auch Zertifikate kaufen müssten. Dies wäre womöglich praktikabler als die Schaffung einer echten neuen „Zollabgabe“. Der Haken: Der Aufwand für die Emissionsberechnung der meisten Produkte wäre derselbe. Und während Zölle bereits heute direkt ins EU-Budget fließen, gehen die Erlöse des Emissionshandels im aktuellen Modell an die Mitgliedsstaaten zurück. Die Idee des Grenzausgleichmechanismus ist jedoch, dass seine Einnahmen dem EU-Haushalt und der Refinanzierung des Wiederaufbaufonds zugutekommen sollten. So hat es der Europäische Rat bei seinen Haushaltsverhandlungen letzten Sommer entschieden.
Wie viel Geld würde fließen?
Studien gehen davon aus, dass ein gut durchdachtes Grenzausgleichssystem gut und gerne 36 Milliarden Euro pro Jahr in die Kassen der EU spülen könnte. Zum Vergleich: 2019 brachten alle traditionellen EU-Eigenmittel (also Steuern, deren Einnahmen direkt an die EU gehen) nur 21 Milliarden Euro ein. Allerdings gilt auch: Je weniger Wirtschaftsbereiche erfasst sind und je länger sich die Einführung hinzieht, desto geringer sind die Einnahmen. Die Europäische Kommission rechnet daher schon etwas konservativer: Zwischen 5 und 14 Milliarden Euro pro Jahr könnten es sein. Immer noch genügend Geld, um die EU-Finanzen trotz Corona-Krise wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Zwei Knackpunkte bleiben allerdings bestehen. Erstens: Wenn das Kalkül aufgeht und nicht-europäische Produkte tatsächlich CO2-ärmer werden, dann werden auch die Einnahmen zurückgehen. Und zweitens: Rat und Parlament müssten sich darauf einlassen, mit der Einführung der Grenzabgabe die kostenlosen Emissionszertifikate für bestimmte Sektoren auch tatsächlich abzuschaffen. Sonst würde nicht nur unter dem Strich weniger Geld fließen; der Vorstoß würde auch seine klimapolitische Zielsetzung verfehlen.
Was könnte noch dazwischenkommen?
Der Zeitplan ist straff: Der Europäische Rat hat sich in seinen Schlussfolgerungen vom Juli 2020 einstimmig für das Grenzausgleichssystem ausgesprochen. Er hat zudem die Kommission aufgefordert, schon im ersten Halbjahr 2021 einen konkreten Vorschlag vorzulegen. Das Europäische Parlament, das laut Verträgen bei EU-Eigenmitteln nur begrenzt mitentscheiden kann, arbeitet an einem Initiativbericht. Der soll neue Impulse zur genauen Ausgestaltung geben. Grundsätzlich hat sich das Parlament aber schon länger für den Mechanismus ausgesprochen, ebenso wie einen verbindlichen Zeitplan. Wenn alles glatt geht, könnte die Idee schon 2023 Wirklichkeit werden.
Ein letzter Stolperstein ist die Vereinbarkeit des Vorstoßes mit internationalen Handelsregeln: Die EU wird gut argumentieren müssen, um klar zu machen, dass sie mit dem Klimazoll keinen unfairen Wettbewerb schafft und europäische Unternehmen bevorzugt, die ihrerseits beim Export ihrer Waren in Drittstaaten keine Abgaben leisten. Das ist dann problematisch, wenn das entsprechende Land selbst schon eine Form von CO2-Abgabe hat. Etwa 50 Länder weltweit von Argentinien bis Island haben bereits ein Bepreisungssystem. Einige Stimmen warnen deshalb bereits, dass die Welthandelsorganisation, in der die EU Mitglied ist, den Mechanismus – je nach Ausgestaltung - als unfaires Handelshemmnis einordnen könnte.
Zuletzt zeichnen sich erste Risse in der breiten Allianz von Umweltschützer*innen und Hüter*innen der EU-Finanzen ab. Erstere würden gerne erreichen, dass die Einnahmen des Mechanismus zu 100 Prozent in Maßnahmen gegen den Klimawandel gesteckt werden müssten. Dem steht das Ziel entgegen, EU-Eigenmittel als solche zu stärken, die EU handlungsfähiger und unabhängiger von den Beiträgen der Mitgliedsstaaten zu machen. Aus dieser Sicht wäre es sinnvoller, die Einnahmen in den allgemeinen EU-Haushalt fließen zu lassen sowie den neuen Wiederaufbaufonds zu refinanzieren.
Kann die CO2-Grenzabgabe Europas Haushalt sanieren?
Die Vorstellung, dass das Grenzausgleichssystem gleichzeitig das Klima retten und den EU-Haushalt stabilisieren könnte, ist also irgendwie auch ein Paradox. Einerseits braucht man die Emissionen, damit das Geld wie vorhergesagt in die EU-Kassen fließt und die EU ihre finanziellen Belastungen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds loswird. Andererseits möchte man erreichen, dass die weltweiten Emissionen (und damit die Einnahmen) sinken – schließlich will die EU bis 2050 gänzlich klimaneutral werden. Das legt den Schluss nahe, dass das Grenzausgleichssystem eher eine „Krücke“ für klima- und handelspolitische Ziele ist als ein ambitioniertes Projekt für mehr EU-Eigenmittel. Dennoch: Die praktische Umsetzung ist komplex, aber nicht unmöglich. Wären Berechnungsmethoden, Kompatibilität mit Emissionshandel und internationalen Handelsregeln geklärt, könnten die EU-Entscheider*innen trotz allem den innovativen Grundgedanken aufrechtzuerhalten. Wenn das gelingt, könnte das Grenzausgleichssystem tatsächlich ein wirksames Instrument werden, das vielleicht sogar andere Länder zu mehr Klimaengagement bewegt.
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