Charles Lemonnier: ein vergessener Vordenker und seine europäische Vision

, von  Nele Aktas

Charles Lemonnier: ein vergessener Vordenker und seine europäische Vision
Die deutsche Ausgabe der von Lemmonier ab 1872 herausgegebenen Zeitschrift Les États-Unis dʼEurope. Gallica / BNF / Licence

Wer sind die Vordenker und Visionäre eines vereinigten Europas? Einige Namen fallen häufig: Victor Hugo, Immanuel Kant, oder auch Winston Churchill. Einer Person, die sich mit Herzblut für Frieden in einem geeinten Europa einsetzte, ist aber nur eine kurze Wikipedia-Seite gewidmet: Der Eintrag zu Charles Lemonnier ist gerade einmal 435 Wörter lang. Dabei enthalten seine Schriften aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstaunlich viele fortschrittlichen Ideen zur Gestaltung des politischen Zusammenlebens in Europa. Kritisch kommentierte er bestehende Ideen und entwickelte seine eigene Vision, die viele Ähnlichkeiten mit dem Aufbau und Selbstverständnis der heutigen EU aufweist.

Wir befinden uns im Jahr 1872.

„Die Völker haben sich als genauso blutrünstig wie die Könige selbst herausgestellt, und sogar noch verrückter als die Könige, denn es ist das Blut der Völker, das fließt. Man hat alle Argumente gegen den Krieg gebracht, aber der Krieg hält an.“

So charakterisierte Lemmonier die Zeit, in der er lebte. Die Themen der Zeit sind geprägt von Industrialisierung, der Hochzeit des Kolonialismus, Konkurrenz zwischen den sich bildenden und gebildeten Nationalstaaten, und Krieg. Als Franzose bezeugte Charles Lemonnier vor allem die Spannungen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich. Nach einem Krieg zwischen den beiden Mächten 1970/71 gründete sich im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Reich. Im Jahr 1872 herrschte daher relativer Frieden, aber laut Lemonnier ist es ein bewaffneter Frieden, denn „fünf, bald sechs Millionen Mann sind an den Waffen, sechs Milliarden Francs pro Jahr werden für Krieg ausgegeben“. Und solange aufgerüstet wird und die Länder sich in der Ausweitung ihres Herrschaftsgebiets überbieten, besteht keine Sicherheit. In jenem Jahr, 1872, veröffentlichte Lemonnier die Essayschrift.

Lemonniers politischer Sehnsuchtsort liegt auf der anderen Seite des Globus. In den Vereinigten Staaten von Amerika sah er eine Vorlage für Europa: Nach vier Jahren des Bürgerkriegs (1861-65) siegte der Norden über den sezessionistischen Süden und bildete eine Union mit vergleichsweise starker zentraler Autorität und ohne stehende Armeen der Einzelstaaten. Aber auch auf dem europäischen Kontinent gibt es einen Vorläufer, nämlich die Schweiz, ein föderalistischer Bundesstaat seit 1848.

Das Ziel war für Lemonnier klar: Föderalismus, Frieden, Sicherheit und Demokratie. Das, meinte Lemonnier, sollten sich die europäischen Staaten von den USA und der Schweiz abgucken. In seiner Schrift setzte er sich dezidiert damit auseinander, wie in Europa die Ideale der Aufklärung zum Wohl der Menschen umgesetzt werden können. Dafür sei eine Einigung in den „Vereinigten Staaten von Europa“ unerlässlich. In seinem Gedankenprozess entwickelte er ausgiebig die Ansichten seiner Vorgänger weiter. Welche Pläne hatten sie, und was hielt Lemonnier davon?

Die falschen Absichten der französischen Krone

Schon Heinrich IV., französischer König von 1589 bis 1610, sprach sich für eine Republik durch Zusammenschluss von Königtümern aus. Es sollte eine christliche Republik mit dem Papst an der Spitze entstehen, mit Macht über 6 Erbmonarchien, 5 konstitutionelle Monarchien und 4 eigenständige Republiken. Die Institutionen dieser Republik umfassten einen Verwaltungsrat, ein Tribunal zur Beilegung von Streit und einen Mechanismus zur Steuererhebung.



Heinrich IV. im Jahr 1610. Foto: Wikimedia / Frans Pourbus der Jüngere / License


Was als Idee erst einmal erstaunlich klingt - gemessen an der Zeit - kritisiert Lemonnier scharf: Im Endeffekt wolle Heinrich nur die Macht des Katholizismus in der Zeit des Konflikts zwischen Protestanten und Katholiken sichern, den Feudalismus bewahren, Österreich einhegen und Europa gegen das Osmanische Reich verbünden, gegen die zur Zeit seiner Regentschaft Kriege geführt wurden. Das sei eine „Intrige von Prinzen“ zum eigenen Machterhalt und kein demokratisches Friedensprojekt - Lemonnier war ganz und gar nicht zufrieden.

Saint-Pierre, Kant und Saint-Simon

Immanuel Kant ist allgemein bekannt. Etwas weniger bekannt, aber ebenfalls einflussreich als Aufklärer, Philosophen und Sozialtheoretiker dachten Charles de Saint-Pierre und Henri de Saint-Simon auch über ewigen Frieden nach. Der Reihe nach: Saint-Pierre war ein Abt, der Frankreich bei verschiedenen Kongressen diplomatisch vertrat. Er entwickelte Heinrichs Entwurf als eine Konföderation mit ständigem Kongress weiter. Der Zweck hierin liegt im Schutz des Eigentums und Landbesitzes, als Maßnahme gegen Aggressionskriege - keine Rede also von Gleichberechtigung, dem Rechtsstaat oder Individualrechten, bemängelte Lemonnier. Weiter kritisierte er: Wie soll eine solche rigide und undynamische Struktur lange existieren, erst recht ohne Demilitarisierung oder eine übergeordnete Autorität mit ausreichenden Kompetenzen für Veränderung?



Immanuel Kant (1724-1804). Foto: Wikimedia / Johann Gottlieb Becker / License


Kant spricht, was die erste Kritik betrifft, Lemonnier aus der Seele: Jedes Individuum habe den gleichen Wert, Autonomie und verdiene daher gleiche Behandlung und Respekt. Kant, der von Lemonnier als genial betitelt wurde, bekannte sich deutlich zur Republik als bester Staatsform. Allerdings blieb Kant für Lemonnier ein Moralist ohne Antworten auf Umsetzungsfragen. Genau diese Antworten finden wir bei Saint-Simon. Der französische Intellektuelle gilt als Frühsozialist und Vorvater der wissenschaftlichen Soziologie. Im Gegensatz zu Kant, der sich von Moral und Gewissen leite, beschrieb Lemonnier ihn als pragmatischen und an der Umsetzbarkeit interessierten politischen Theoretiker.



Henri de Saint-Simon. Foto: Wikimedia / Adélaïde Labille-Guiard / License


Seine Vision für eine Konföderation ist erstaunlich detailgetreu. So solle es in einer Abgeordnetenkammer je einen Delegierten pro 4 Millionen Einwohner geben. Aber nicht irgendjemand, sondern die Männer, die sich „am stärksten hervorgetan haben in der Wissenschaft, in der Lehre, in der Verwaltung, aber nicht verdorben sind“. Außerdem stellte er sich eine höhere Kammer vor, bestehend aus Adeligen und einem König an der Spitze. Letzteres missfiel Lemonnier sehr, der Idee einer unabhängigen und der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtigen Generalregierung konnte er aber viel abgewinnen. Aber der Vorschlag der Entmilitarisierung, der für ihn besonderer Relevanz war, fehlt ebenso.

Die perfekte Union (laut Charles Lemonnier)

Den Begriff der „Vereinigten Staaten von Europa“ übernahm Lemonnier vom Schriftsteller Victor Hugo, der mit diesen Worten seine Rede auf einer Pazifistenkonferenz 1851 schmückte. Dieser Titel ist eindeutig von den USA inspiriert. Lemonnier schrieb selbst: „Stellt euch vor, ohne euch über die Umsetzbarkeit Gedanken zu machen, dass diese Staaten, oder zuerst nur ein paar von ihnen, vielleicht zwei oder drei zu Beginn, sich zu einer Föderation schließen, die der amerikanischen analog ist“. Was ihm an den USA als Vorbild diente, ist die Eigenständigkeit und relative Unabhängigkeit der Staaten, die aber trotzdem politisch durch nationale, demokratische Institutionen verbunden sind. Die Staaten haben ihre eigenen, stehenden Armeen aufgegeben und schützen sich gegenseitig über eine gemeinsame Armee vor Angriffen.

Das ist auch Lemonniers Vision für Europa: „Quelle économie!“ - Was für ein Erparnis! Die Abschaffung der nationalen Wehrkörper sorge für eine erhebliche Reduktion von Kosten und Unsicherheit, und zusätzlich für funktionierende Diplomatie. Innerhalb der Vereinigten Staaten von Europa solle außerdem freier Handel herrschen. Nach außen hin signalisiere die Konföderation vor allem Stärke, denn „wer würde es wagen, eine Gruppe von Nationen, die sich fest vereinigt haben als ein Volk und entschlossen sind, sich auch als solches zu verteidigen, anzugreifen?“

Was mit all diesen Ideen geschah

Charles Lemonnier war kein Publizist im stillen Kämmerlein, sondern schloss sich mit Gleichgesinnten zusammen, um für seine Ideale zu kämpfen. Das 19. Jahrhundert war von einem Aufblühen von Ligen und Konferenzen geprägt, die sich für den Frieden engagierten, wie zum Beispiel die von ihm gegründete „Internationale Friedensliga“ in Genf. Diese Organisation setzte sich für Ziele wie die Unabhängigkeit der Nationen, Gleichheit und gegenseitigen Respekt ein und organisierte dafür zahlreiche Kongresse. 1867 versammelten sich in Genf 20 Aktivisten, Politiker und Intellektuelle, und verabschiedeten eine Resolution im Sinn der Demokratie und Freiheit. Erschaffen werden sollte eine Welt des Friedens und der Weltbürgerschaft, in der jeder einzelne die öffentliche Meinung „erhellt und mit formt“. Auf diesem Kongress vereinbarten die Delegierten außerdem die Gründung einer deutsch-französischen Wochenzeitung zur Friedensförderung; auch mit englischer und spanischer Übersetzung.

Ein Jahr später wurden sie konkreter: Eine föderale Union müsse geschaffen werden, in der auch Frauen gleiche Rechte genießen. Bei einem dritten Kongress in Lausanne mit Victor Hugo als Vorsitzendem forderten die Delegierten sogar ein Tribunal mit Sanktionskraft. Die Verfassung der Union müsse außerdem veränderbar und flexibel bleiben. Auch für den Beitritt zur föderalen Union stellen sie Kriterien auf: Wer dazugehören möchte, müsse grundlegende Prinzipien der Demokratie und Autonomie erfüllen. Zum Beispiel setzten sie das Recht voraus, dass Bürgerinnen und Bürger die eigene Verfassung verändern und somit die Regeln des Zusammenlebens selbst bestimmen können. Hinzu kommen das universelle Wahlrecht, das Recht politische Allianzen und Handelsabkommen zu schließen, und das Prinzip, dass Bürger*innen der Besteuerung durch die Regierung zustimmen müssen, im Rahmen einer Wahl.



Victor Hugo. Foto: Wikimedia / Étienne Carjat / License


Zur sogenannten sozialen Frage einigten sich die Abgeordneten darauf, dass marktwirtschaftliche Grundwerte, insbesondere Privateigentum, bestehen bleiben sollten, aber das Bildungssystem zur Verwirklichung der Chancengleichheit kostenfrei sein müsste. Das politische Leben sollten Dezentralisierung, Rechtsstaatlichkeit und Brüderlichkeit basierend auf christlichen Werten, Menschenwürde und Autonomie jedes einzelnen charakterisieren.

Lemonniers Vereinigte Staaten von Europa versus unsere Europäische Union.

Die Ideen Lemonniers im 19. Jahrhundert beeindrucken durchaus: Als Kind der Aufklärung lehnte er strikt Modelle ab, die dem Erbschaftsprinzip folgen, individuelle Rechte nicht in den Vordergrund rückten oder ihm sonst zu undemokratisch waren. Stattdessen forderte er Gewaltenteilung, Republik, Frieden, Sicherheit und ökonomischen Wohlstand. Besonders hob er dafür die Notwendigkeit einer Generalregierung, Gewaltenteilung und Abschaffung nationaler Armeen hervor. Diese Themen dominieren auch heute zu einem beachtlichen Teil den europäischen Diskurs. Viele Ergebnisse und Forderungen der Pazifistenkonferenzen spiegeln sich auch in der Europäischen Union von heute wider, auch wenn die Forderungen von damals nur teilweise umgesetzt sind, beispielsweise die nach einem Tribunal mit bindender Sanktionsmacht. Die letzten Jahre haben außerdem Rückschritte im Punkt Demokratie gesehen, zum Beispiel mit Verweis auf Einschränkungen der Pressefreiheit und Justizunabhängigkeit in Ungarn und Polen.

Über die Tatsache, dass es heute keine einheitliche europäische Armee gibt, wäre Lemonnier vermutlich enttäuscht. Allerdings wird angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der Wiederwahl Donald Trumps, der sich kritisch über die NATO geäußert hat, die gemeinsame Verteidigungspolitik vermehrt diskutiert. In welchem Maße Charles Lemonnier selbst die Entwicklung der EU beeinflusst hat, ist nicht klar. Immerhin verging noch eine lange Zeit, bis nach dem Zweiten Weltkrieg der erste Vorläufer der EU, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet wurde, lange Zeit auch vorwiegend als Wirtschaftsunion.

In den wenigen Seiten über die Ideengeschichte der EU in meinem alten Schulbuch sind nur drei Namen genannt, Hugo, Kant und Churchill. Tatsächlich waren am intellektuellen Austausch zu Frieden und Vereinigung Europas viel mehr Menschen beteiligt, deren Ideen zum Teil wahr geworden sind, und zum Teil sogar über die gegenwärtigen Status quo hinausgehen.

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