Liebe pro-europäische Brit*innen,
die Hälfte der Menschen, die sich am 24. Juni 2016 am Referendum über den britischen EU-Austritt beteiligte, hat es so gewollt: Am 29. März 2019, in etwas weniger als dreißig Wochen, wird Großbritannien tatsächlich die Europäische Union verlassen. Ihr seid die andere Hälfte, vielleicht insgesamt inzwischen die Mehrheit in Großbritannien, die für einen Verbleib waren. Leider sind insbesondere die Jüngeren unter euch am Tag des Referendums nicht wählen gegangen, sodass die Brexit-Befürworter*innen einen Sieg einfahren konnten. Mitgehangen, mitgefangen: Als britische Staatsbürger*innen wird der Brexit nicht vor euch Halt machen, weil ihr dagegen gestimmt habt oder auch jetzt noch mehr oder weniger lautstark dagegen demonstriert. Ab dem 30. März 2019 verliert ihr euren Status als Bürger*innen der Europäischen Union mit all den Privilegien, die daran hängen. Weil vielen von euren Landsleuten erst nach dem Referendum bewusst wurde, wie wertvoll diese Privilegien sind, fordern manche von euch inzwischen ein zweites Referendum. Aber wenn eine Sache im Vorfeld des Brexit sicher ist, dann diese: Der Brexit wird kommen. Oder glaubt ihr ernsthaft, dass sich die EU nach mehr als einem Jahr extrem komplizierter Verhandlungen darauf einlässt, das Spiel mit britischen Ausnahmen in der EU von vorn zu beginnen?
Wenn ihr tatsächlich pro-europäische Brit*innen seid, dann stoppt die Forderung nach einem neuen Referendum. Die britische Zivilgesellschaft und auch die britische Politik brauchen pro-europäische Kräfte heute vielleicht mehr als je zuvor. Aber ihr begeht einen Fehler, wenn ihr eure pro-europäische Einstellung ausschließlich darin zeigt, dass ihr die Legitimation einer demokratisch getroffenen Entscheidung permanent in Frage stellt - und trotz falscher Informationen durch Boulevardmedien und die Austritts-Befürworter*innen im Voraus ist der britische EU-Austritt eine demokratisch getroffene Entscheidung. Damit sprecht ihr der Hälfte der britischen Bevölkerung ihre politische Mündigkeit ab, ihr sprecht ihnen ab, dass sie gehört werden und dass ihre Meinung genauso wichtig ist wie eure, auch wenn ihr sie nicht teilt. Was wirft das für ein Licht auf pro-europäische Kräfte? Ganz einfach: Dass ihnen jene, die sich für populistische Parteien und Kräfte entscheiden, jene, die in einer Gesellschaft mehr und mehr abgehängt werden, schlicht egal sind. Genau mit diesem Eliten-Vorwurf kämpft die EU seit Jahren. Eure Aufgabe darf nicht darin bestehen, dieses Bild zu zementieren, ihr müsst es aufbrechen. Und das geht nur, wenn ihr den Dialog mit dem Pro-Brexit-Lager sucht und euch konstruktiv einbringt, denn genau dort liegt eure Stärke.
Eure Chancen liegen nicht in einem neuen Referendum, sondern darin, das Ergebnis des alten Referendums europäisch zu gestalten. Auf Seiten der EU besteht kein Zweifel daran, dass der Brexit kommen wird, europäische Politiker*innen betonen das immer wieder. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass die EU kein Interesse daran hat, die britische Zivilgesellschaft mit einem harten Brexit zu bestrafen. Viel eher ist eine starke Partnerschaft auf politischer und zivilgesellschaftlicher Ebene für beide Seiten essentiell, um den Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein. Auf britischer Seite ist noch offen, ob man einen harten oder weichen Brexit anstrebt, die Regierung scheint in den Verhandlungen ihre inhaltliche Position noch nicht gefunden zu haben. Hier kommt ihr ins Spiel: Setzt euch dafür ein, dass der Brexit so europäisch wie nur möglich wird. Das bedeutet kein Europa à la Carte mit Vorteilen, aber ohne Pflichten einer EU-Mitgliedschaft, wie Theresa May es vielleicht gern hätte, sondern eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Setzt euch dafür ein, dass der Brexit die britische und europäische Zivilgesellschaft nicht trennt, fördert den Austausch und seid eine starke Stimme dafür, dass Großbritannien und die EU auch über das hinaus verbunden bleiben, was über reine politische Interessen hinausgeht.
Die EU hat kaum Möglichkeiten, die britische Zivilgesellschaft davon zu überzeugen, dass der Brexit europäisch gestaltet werden sollte. Ihr dagegen habt diese Möglichkeiten. Nutzt sie - ihr habt noch knapp dreißig Wochen, und wir in Europa zählen auf euch.
Europäische Grüße,
Gesine Weber
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