Liebe Bürger der mittel- und osteuropäischen EU-Staaten,
diesen Brief an Europa widme ich euch. 100 Jahre sind vergangen, seit im Frieden von Brest-Litowsk zwei zentrale Mächte des 1. Weltkriegs - die Mittelmächte auf der einen, Russland auf der anderen Seite - über euer Schicksal entschieden haben. Polen und Litauen zum Beispiel lösten sich zwar pro Forma von russischer Herrschaft, wurden nun aber de facto von Deutschland kontrolliert.
Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk war nicht das letzte Mal im 20. Jahrhundert, dass fremde Mächte über das Schicksal eurer Länder entschieden haben. Im sogenannten Münchner Abkommen, dessen Unterzeichnung am 29. September 1938 sich bald zum 80. Mal jährt, willigten England und Frankreich in Hitlers Annexion des Sudetenlandes ein - ohne tschechische Beteiligung. Vielleicht spielte der spätere tschechoslowakische bzw. tschechische Staatspräsident Václav Havel darauf an, als er in seiner Rede vor dem EU Parlament in Straßburg 1994 sagte: „Wie eine Reihe anderer mitteleuropäischer Länder haben wir uns immer an einer dramatischen Kreuzung aller Art von europäischen intellektuellen und spirituellen Strömungen sowie geopolitischen Interessen befunden. Das macht uns besonders empfindlich angesichts der Tatsache, dass alles, was in Europa passiert, uns wesentlich betrifft und dass alles, das uns passiert, wesentlich ganz Europa betrifft.”
Liebe Bürger Mittel- und Osteuropas,
eure Präsidenten biedern sich wie Miloš Zeman in Tschechien und Victor Orbán in Ungarn den Autokratien in Russland und China an, andere, wie Jarosław Kaczyński in Polen, beschwören die Geister des Nationalismus. Doch für euch, die ihr in relativ kleinen EU-Ländern lebt, gilt genau wie für uns Deutsche: Stark können wir nur gemeinsam in einer Europäischen Union sein, die demokratisch für unsere Interessen eintritt. Gegen die menschenverachtenden Regime in China und Russland, die die Freiheit ihrer Bürger stark einschränken, können wir uns nur gemeinsam behaupten. Doch verfolgt man die politische Lage in Mittel- und Osteuropa, so scheint es manchmal, als würdet ihr unsere Differenzen mehr betonen als unsere Gemeinsamkeiten.
Wir brauchen euch! Euer zivilgesellschaftliches Engagement, eure Ideen, wie wir die Lebensbedingungen der europäischen Bürger verbessern können und eure intellektuellen Beiträge zu den Herausforderungen Europas, so wie sie der bulgarische Autor Ivan Krastev gerade in seinem Essay „Europadämmerung“ beschrieben hat. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk muss uns daran erinnern, dass Frieden in Europa eben keine Selbstverständlichkeit ist, und das Mitspracherecht aller Völker schon gar nicht. Nehmen wir das Jubiläum zum Anlass, unser Bild von Europa neu zu denken: Als ein Europa, in dem wir nicht gegeneinander, sondern miteinander handeln.
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