“Glauben Sie wirklich, dass diese Demonstration noch etwas bringt?“ Auf dem Weg zum Hyde Park, dem Startpunkt des Put It To The People March, fragt uns das eine ältere Dame. Sie outet sich schnell als Remain-Anhängerin, berichtet davon, dass sowohl ihre Mutter als auch ihre Tochter gegen den Brexit gestimmt haben. Sie klingt resigniert bis pragmatisch, während sie meine Freunde und mich ein kleines Stück begleitet. „Jeder einzelne zählt heute“, versuche ich der Dame Mut zu machen, „je mehr Leute da nachher vor Westminster stehen, umso größer wird der Druck.“ Ob ich diesen Worten selbst glaube, weiß ich in dem Moment nicht.
Laut den Veranstaltern, People’s Vote UK und unzählige weitere Organisationen und Initiativen, haben sich mehr als eine Million Menschen für den March eingefunden. Wir stehen jedenfalls erstmal zwei Stunden in einer dicht gedrängten Masse von Menschen am Hyde Park Corner. Die Stimmung ist freundlich, geradezu herzlich: Man tauscht sich darüber aus, wie lächerlich die Protestaktion von Nigel Farage gewesen sei (Farage war nicht mehr dabei, als sein March to Leave vorgestern mit gewaltbereiten Anhängern Westerminister erreichte), wie sehr man doch die Nase voll hat von einem Parlament, dass scheinbar nichts auf die Reihe kriegt (Hierzu ertönen auch immer wieder Sprechgesänge wie „Where is Jeremy Corbyn?“) und bestaunt die mitgebrachten Plakate und Banner, die britischen Humor und Kreativität verbinden („Even IKEA has better cabinets“).
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Nach einiger Zeit bewegt sich endlich etwas. Die Menschenansammlung setzt sich in Bewegung. Mit lauten Forderungen nach dem People’s Vote – ein paar Zwischenrufe nach „Revoke“ und „Remain“ dürfen natürlich nicht fehlen – geht es vom Hyde Park Richtung Westminster. Es ist ein sehr friedlicher Protestmarsch: Polizist*innen und Ordner*innen sehe ich nur wenige, dafür ein Meer an bunten Schildern, Europaflaggen und Menschen, die zusammengekommen sind, weil sie ein demokratisches Mitspracherecht an der wohl wichtigsten politischen Entscheidung ihres Landes haben möchten. Wenn die Helikopter über unseren Köpfen fliegen, ertönt lauter Jubel und die Leute winken. Wir sind viele und wir wollen gesehen werden – das ist die Botschaft, die gesendet wird.
Als ich mit meiner Gruppe am Britischen Parlament ankomme, ist es bereits 17 Uhr. Die Reden von unter anderem Tom Watson, stellvertretender Parteivorsitzender der Labour Party, und Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottland, sind lange vorbei, die Veranstalter*innen fangen langsam an aufzuräumen. So ein March kann dauern, vor allem, wenn es so viele Menschen sind. Über die offizielle Zahl herrscht noch immer Uneinigkeit. Doch selbst wenn es keine Million war, bleiben die Bilder vom Protestmarsch beeindruckend. Und es sind nicht nur die Menschen in London, die ein Zeichen setzen gegen den Austritt aus der Europäischen Union: Gleichzeitig erreichte eine Petition an das Britische Parlament am Samstagabend 4,5 Millionen Unterschriften für „Revoke“ – also den Rücknahme des Austrittsverfahrens – und lag am Dienstag bei knapp 6 Millionen Unterzeichner*innen.
„Hat diese Demonstration etwas gebracht?“, frage ich mich, als ich Montagabend aus London abreise. Dass es Menschen in Großbritannien gibt, die angesichts des politischen Chaos und der scheinbar aussichtlosen Situation nicht resignieren, sondern kämpfen, ihr Recht auf Mitbestimmung einfordern, inklusive dem Recht, ihre Meinung zu ändern, hat mich beeindruckt. In den folgenden Tagen debattiert das Unterhaus über alternative Optionen zum vorlegten Deal von May. Ich werde hellhörig, als die Worte „People’s Vote“ häufig fallen – viel häufiger als in den Debatten zuvor. Und tatsächlich, am Ende der Abstimmung verfehlt der Vorschlag eines erneuten Referendums knapp eine Mehrheit – mit 268 Ja-Stimmen und 295 Nein-Stimmen.
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