Belarus: Im Osten nichts Neues?

, von  Marcel Knorn

Belarus: Im Osten nichts Neues?

Die belarussische Parlamentswahl verschwand aus dem öffentlichen Interesse Europas ebenso schnell wieder, wie sie gekommen war. Einige Zeit ist seit dem Urnengang in „Europas letzter Diktatur“ inzwischen vergangen, dessen Ergebnisse weder im Land selbst noch im Westen für Überraschung sorgten. Warum es trotzdem wichtig ist, Belarus nicht aus den Augen zu verlieren – ein Rück- und Ausblick.

Eigentlich hat es ja niemand anders erwartet: Die Opposition verliert ihre beiden Plätze im Minsker Parlament. Wer nach politischen Sensationen sucht, hätte der belarussischen Parlamentswahl vom 17. November wohl ohnehin kaum Beachtung geschenkt. 89 der 110 Direktwahlkreise gewannen Parteilose, 21 Sitze gingen an unterschiedliche Parteien – alle Abgeordneten gelten jedoch als dem Machthaber Lukaschenko wohlgesinnt. Schon am frühen Morgen nach der Wahl verkündete der staatliche Wahlausschuss 77,4 % Wahlbeteiligung. Die erste Sitzung der Kammer erfolgte am 6. Dezember. Längst war westlichen Beobachter*innen klar, dass diese Wahl weniger als demokratisches Werkzeug galt denn als bloße Formalität sowie, mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr, als Schritt um Amtsinhaber Lukaschenko eine reibungslose Wiederwahl zu ermöglichen. Die Parlamentswahlen hätten turnusgemäß im Frühherbst 2020, zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen, stattfinden sollen. Da im belarussischen Wahlrecht aber nur festgelegt ist, wann Wahlen spätestens (nicht aber frühestens) stattzufinden haben, verkürzte man einfach die bestehende Parlamentslegislaturperiode um ein Jahr. Hiermit sollte die Opposition wieder endgültig aus dem Parlament verbannt und ein klares Feld für die Präsidentschaftswahlen geschaffen werden. Lukaschenkos Plan scheint aufgegangen zu sein.

OSZE: „Eine glanzlose Wahlkampagne“

Die Deutungen zu Aussagekraft und Transparenz der stattgefundenen Wahlen unterscheiden sich je nach Blickwinkel deutlich. Wenig überraschend kam die 475-köpfige Beobachtungskommission der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, einem Staatenverband einiger Nachfolgestaaten der Sowjetunion, zu dem Ergebnis, die Wahl habe „gemäß der Wahlgesetzgebung der Republik Belarus“ stattgefunden. Weiter heißt es: „Nach Angaben des Innenministeriums wurden Verbrechen und grobe Verstöße gegen die öffentliche Ordnung durch interne Organe nicht registriert.“ Der Bericht der rund 400 Wahlbeobachter*innen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der am 18. November in Minsk vorgestellt wurde, zeichnet jedoch ein anderes Bild: Bei der Abstimmung und der Stimmenauszählung habe es Unregelmäßigkeiten gegeben, die den OSZE-Grundsätzen freier Wahlen entgegenlaufen. So seien etwa die Stimmenzahlen vieler Gewinner*innen der Wahlkreise nicht verkündet worden. Auch im Vorfeld der Wahlen seien bereits Verstöße gemeldet worden. Die Wahlkampagne sei glanzlos verlaufen und habe die Wählerschaft kaum motiviert. Mehr als 130 Kandidierenden war eine Registrierung verweigert worden, mehrheitlich wegen geringer Fehler in der Dokumentation. Einige Kandidierende seien außerdem aufgrund regierungskritischer Wahlkampfaussagen nachträglich von der Wahl gesperrt worden.

Auf dem Weg zur postlukaschenkischen Generation?

So weit, so erwartbar. Allerdings lohnt sich an dieser Stelle ein Blick auf den aktuellen politischen Kontext in Belarus, der zwar nach westlicher Einschätzung als stabil undemokratisch, aber alles andere als in Stein gemeißelt gilt. Auch wenn Szenarien von zivilgesellschaftlichem Aufbegehren wie in der Ukraine unter Janukowitsch derzeit nicht vorstellbar sind, macht der wachsende Protest im Internet auch vor Lukaschenko nicht halt. So hatten sich noch wenige Tage vor der Wahl mehr als 500 größtenteils junge Menschen im Zentrum von Minsk versammelt. Sie waren dem Aufruf von Stepan Putilo, dem 21-jährigen Betreiber des beliebtesten belarussischen Telegram-Kanals NEXTA, gefolgt. 500 Teilnehmende – eine beachtliche Zahl in einem Land, in dem Demonstrationen der Opposition für gewöhnlich kaum die Hundertermarke überschreiten. Putilo selbst hat bei vielen jungen Menschen längst einen Kultstatus erreicht. Sein Film Лукашенко. Уголовные материалы (dt. „Lukaschenko. Kriminelle Materialien“) hatte kürzlich für Furore im Internet gesorgt. Bis zur Wahl wurde das knapp einstündige Video, in dem Putilo mit dem Präsidenten und den Parlamentswahlen abrechnet, mehr als anderthalb Millionen mal angesehen. Da er Repressionen zu befürchten hat, befindet sich der Blogger mittlerweile im Exil in Warschau. Ausgehend von der zunehmenden Organisation junger Belaruss*innen im Internet wagt der Journalist und politische Beobachter Artjom Schrajbman in seinem Kommentar für das Moskauer Carnegie Center, vorsichtig Hoffnung für ein Ende der politischen Apathie in Belarus zu äußern: „In den Umfragen blieben die belarussischen Jugendlichen traditionell in ihrer Protestbereitschaft und in ihrem allgemeinen Interesse an der Politik zurück. Anscheinend ändert sich die Situation, weil eine unbeirrte Generation ins Erwachsenenalter eintritt, die noch zur Schule ging, als die letzte Welle harter Repressionen 2010-2011 das Land durchzog.“ Ob die Causa Putilo die Situation im Land nachhaltig beeinflussen wird, bleibt mit Spannung abzuwarten. Am Ergebnis der letzten Wahlen hat sie zunächst nichts geändert.

Tango auf Belarussisch – oder: ein Tanz zwischen Ost und West

Die Parlamentswahlen trafen Belarus zu einer nicht unbedeutenden Zeit. Die politische Lage ist alles andere als stabil: Die regionale Wirtschaft stagniert, das Land war international lange sowohl wirtschaftlich als auch politisch isoliert. Angesichts dieser Situation wuchs zuletzt die Unzufriedenheit im Land. Umso mehr richten sich die Augen in und um Belarus zur Zeit auf das geplante Wirtschaftsabkommen mit der Russischen Föderation, das Anfang Dezember in Sotschi unterzeichnet werden sollte. Erst kurz vor dem Termin verkündete der belarussische Präsident, man fordere mehr Zeit und einen größeren Freiraum. Teil des Abkommens sind neben der Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes die Errichtung einheitlicher Steuernormen sowie eine in Teilen vereinte Bankenaufsicht. Bis 2021 ist auch die Umsetzung einer gemeinsamen Zoll- und Energieunion geplant. Das Abkommen ist in Belarus nicht unumstritten. So sieht man Russland zwar in weiten Teilen der Bevölkerung weiterhin als Brudervolk, eine festere politische und wirtschaftliche Anbindung an die Russische Föderation gilt jedoch weitgehend als politisch unpopulär. Es verwundert daher nicht, dass Aleksandr Lukaschenko noch am letzten Tag vor der Wahl öffentlich verkündete, dass trotz wirtschaftlicher Zusammenschlüsse keine Integration in die Russische Föderation angestrebt werde. Die belarussische Unabhängigkeit sei heilig, begründete er die Entscheidung. Auch in Richtung Westen blickt man aus Belarus mit gemischten Gefühlen. Obwohl das Land Mitglied der östlichen Partnerschaft ist, suchte man in den letzten Jahren nur selten den direkten Kontakt mit der EU. Auch in Brüssel galt Belarus nicht gerade als beliebtester Kooperationspartner. Grund hierfür bieten nicht nur die demokratische Lage, sondern auch geltende Sanktionen und Embargos gegen den autoritär geführten Staat, die zuletzt noch bis zum 28. Februar 2020 verlängert wurden. Die EU stehe im Fall Belarus vor einer Zwickmühle, argumentiert Artjom Schrajbman. Die Isolation Weißrusslands durch den Westen habe seit Jahren dazu beigetragen, Belarus zurück in die Einflusszone Moskaus zu drängen. „Das strategische Interesse der EU, Belarus nicht daran zu hindern, zwischen dem Westen und Moskau ein Gleichgewicht zu finden, überwiegt die Sorge um demokratische Ideale im Land“, führt er in seinem Kommentar weiter aus. Die Aufrechterhaltung eines Dialoges liegt demnach auch im Interesse der EU, was auch Lukaschenko selbst erkannt hat. Erstmals seit langer Isolation nahm er bei seiner kürzlichen Staatsvisite in Österreich wieder den direkten Kontakt mit einem EU-Staat auf. In Anbetracht des russisch-belarussischen Wirtschaftsabkommens handelt es sich bei der wiederhergestellten Kontaktaufnahme mit der EU sicherlich ebenso um ein wichtiges Signal in Richtung Moskau, das dem Nachbarstaat zuletzt die wirtschaftlichen Daumenschrauben anzulegen versuchte. Indem die Öllieferungen an Belarus eingestellt wurden, fixierte man gezielt den empfindlichsten Faktor des belarussischen Außenhandels, um eine prorussische Entscheidung im Kooperationsabkommen zu erzwingen. Lukaschenko selbst zeigt sich, womöglich auch in Anbetracht der anhaltenden Proteste, unbeeindruckt von diesen Machtgesten. Sollte es zu keiner für Minsk akzeptablen Lösung kommen, werde man sich wieder den Partnern im Westen annähern. Auch das Verhältnis zwischen Minsk und Brüssel wird somit in nächster Zeit wohl wieder öfters im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Einfach wird diese Phase nicht. Der Europäischen Union steht ein wahrer Drahtseilakt bevor, da sie zwischen ihrem demokratischen Anspruch und einem strategischen Interesse an der Kontakterhaltung zu Belarus balancieren muss. Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, ist dieses Gleichgewicht oft fragiler, als es scheint.

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