Diese dramatischen Entwicklungen in den internationalen Beziehungen könnten jedoch paradoxerweise eine Chance für die Europäische Union darstellen. Heute mehr als je zuvor gäbe es hier die konkrete Gelegenheit, eine autonome Außenpolitik zu entwickeln, die sich vorsichtig von dem freimacht, was ein unbequemer Faktor in der Region ist: die Vereinigten Staaten unter Trump, die eine in hohem Maße destabilisierende Diplomatie und Militärpolitik betreiben. Für Handlungen, die den Interessen der EU offensichtlich entgegenstehen, wird es der alte Kontinent sein, der mehr als andere für die Konsequenzen dieser Entscheidungen zu zahlen hat (die Kurd*innen in den Händen der Türk*innen und die Strategie der steigenden Spannungen gegen den Iran mal außer Acht gelassen).
Der Luftangriff, der dazu geführt hat, dass der iranische General Soleimani getötet wurde, und von dem die Länder der EU noch nicht einmal informiert worden waren, ist ein offensichtlicher Beweis dafür, wie sehr der östliche Rand der transatlantischen Allianz von ihrem wichtigstem Mitglied beachtet wird: nämlich überhaupt nicht.
Die EU ist in der NATO gefangen, eine bindende Allianz mit einem Land, das sich seit dem Donald Trump Präsident ist, nicht mehr vollständig als Alliierter betrachtet. In Bezug auf die Drohung, die europäischen NATO-Mitglieder zu einer Erhöhung ihrer Militärausgaben zu drängen, hat Trump immer wieder, weder mehr noch weniger als Putin, offenes Mitgefühl für jene politischen Kräfte gezeigt, die die EU zerstören wollen; er hat darüber hinaus, den begonnenen Handelskrieg mit China auf den alten Kontinent ausweitend, viele europäische Produkte, die in die USA exportiert werden, mit Zöllen belegt; auch hat er einseitig wichtige multilaterale Abkommen aufgekündigt, wie zum Beispiel das Pariser Klimaabkommen oder das Nuklearabkommen mit dem Iran. All dies ist nicht mehr tolerierbar.
Die NATO stellt eine offensichtlich in der heutigen Zeit überholte Allianz dar, die einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, als fast die gesamte Welt in zwei sich gegenüberliegenden Blöcken unterteilt war. Zu dieser Zeit war die Wahl einer Seite absolut notwendig: entweder stand man auf der einen oder auf der anderen Seite. Und Westeuropa entschied sich richtigerweise dafür, auf der Seite der Freiheit zu stehen.
Seit dem Fall der Berliner Mauer jedoch hat sich die Welt grundsätzlich verändert und jetzt ist die internationale Lage so anders, dass die Logik, auf deren Grundlage die NATO basiert, eindeutig obsolet erscheint. Das globale geopolitische System der heutigen Zeit zeigt zahlreiche bestehende (regionale) Mächte und fluide Allianzen, Bündnissen die auf Basis von dynamische Interessen und Gegensätzen sich immer neu konstituieren. Neben den USA und Russland, sind weitere globale Akteure hinzugekommen, die eine eigene, autonome Strategie in der Außenpolitik entwickeln, wie zum Beispiel China, und Regionalmächte, die sich Einflusszonen gegenseitig streitig machen oder sich alternativ mit einer Großmacht verbünden, so wie es der Iran selbst macht, oder aber auch die Türkei und Ägypten.
In diesem Kontext könnte die EU den Großmächten USA, Russland und China als ebenbürtig gelten, wenn es ihr gelingt, eine eindeutige und starke Stimme in der Außenpolitik zu haben. Eine Allianz um jeden Preis mit den USA stellt ein enges Korsett dar, weil die Interessen zu häufig unterschiedlich sind.
Man kann Macron nur zustimmen, wenn er von dem Zustand des Gehirntods der NATO spricht: entweder diese wird durch konkrete Vorschläge am Leben gehalten (zum Beispiel durch ein politisches Abkommen, das den Nahen Osten und das Mittelmeer umfasst) oder aber sie stirbt.
Angesichts der Art und Weise, wie Trump Außenpolitik betreibt, ist die letztere Option auch nicht so uncharmant. Tatsächlich könnte ein entschiedenes Eingreifen der EU in die Krise im Nahen Osten eine weniger kraftstrotzende Annäherung und ein entspannteres Verhältnis mit den Regionalmächten mit sich bringen. Der Hauptnutzen dieser politischen Linie wäre zweifellos eine Verringerung der Feindseligkeit der arabischen Welt in Richtung des Westens im Allgemeinen. Europa muss, sei es aus historischen Gründen oder auf Grund der geographischen Nähe, mit den arabischen Ländern in einen Dialog treten können, und muss in der Lage sein, sich von der Position der USA zu lösen, die offensichtlich einem für die Stabilität der Region so wichtigen Staat wie dem Iran feindlich gegenüberstehen, mit dem Europa hingegen viel mehr gemeinsame Interessen als Meinungsunterschiede hat.
Selbstverständlich ist der Iran kein gutes Beispiel für Meinungsfreiheit oder Demokratie, wenn man beispielsweise bedenkt, dass die Todesstrafe auch für den Fall der Apostasie gilt, und dass im Land das sogenannte Vergeltungsrecht, für uns ein Relikt des Mittelalters, gilt. Es ist aber auch wichtig zu berücksichtigen, dass der persische Staat einer der wenigen in der Region mit einer lang bestehenden nationalen Identität und nicht das Ergebnis der von Kolonialmächten an einem Tisch gezeichneten Grenzen ist. Es ist wahrscheinlich eine Folge von diesen Zusammenhängen, dass der iranische Staatsapparat eine der wenigen effektiven und funktionierenden Gebilde im Nahen Osten ist, mit einem System von Kräften und Gegenkräften sowie regelmäßigen Wahlen, die den Iran, trotz einiger Einschränkungen, in einem gewissen Maße den westlichen Demokratien ähnlich macht.
Ganz sicher weniger unähnlich als andere Regionalmächte, die, ohne Diskussion, als Alliierte des Westens betrachtet werde, wie Saudi-Arabien, einer der wenigen Staaten auf der Welt, in denen noch eine absolute Monarchie herrscht und wo jedes Jahr zahlreiche Personen zur Enthauptung oder Kreuzigung verurteilt werden (in den häufigsten Fällen gegen die schiitische Minderheit) und wo freie Journalisten, wie Jamal Khashoggi, ermordet werden. Oder wie Ägypten, wo der Italiener Giulio Regeni im Jahr 2016 auf grausame Art und Weise gefoltert und getötet wurde.
Zuletzt verdient die libysche Frage eine wichtige Bemerkung. Auch in Bezug auf die Frage der Handhabung all dessen, was um das Mittelmeer herum passiert, bleibt die europäische Union schuldhaft träge und lässt die Hegemonie über das Mittelmeer vollständig in den Händen von Russland und der Türkei. Die geographische Nähe und der Einfluss, den Ereignisse in diesem Gebiet auf den europäischen Kontinent haben, potenzieren die Wichtigkeit der Lage noch dramatischer. Europa beobachtet regungslos die anderen geostrategischen Spieler die die Energieversorgung, die für Europa selbst von Interesse ist, unter sich aufteilen. Das offensichtliche Desinteresse der Vereinigten Staaten für diese Ereignisse stellt einmal mehr die Gelegenheit dar, der europäischen Stimme oder zumindest einem wichtigen Teil von dieser Gehör zu verschaffen. Die Unbeweglichkeit, versteckt hinter der Willensbekundung auf diplomatischem Wege vorzugehen, führte zum direkten Eingreifen von feindlichen Mächten, die alle ein Interesse daran haben, den europäischen Einfluss innerhalb der eigenen Grenzen zurückzudrängen, und deren Vorhaben von den politischen Organen erleichtert wird, die nur mit sich selbst beschäftigt sind.
Und so findet sich Europa, ursprünglich selbst ein Hegemon, sich selbst als Spielball der Weltmächte wieder.
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