Proteste in der Ukraine

Aufbruchsstimmung am Maidan

, von  Natalia Sadovnik

Aufbruchsstimmung am Maidan
Foto © blu-news.org / Flickr, 2014: „Ukraine Demo in München“ (https://www.flickr.com/photos/95213174@N08/12268916295/in/set-72157640424582233), Lizenz: CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Seit Wochen demonstrieren Ukrainer auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum Kiews. Die Opposition führt Verhandlungsgespräche, der Ministerpräsident ist bereits zurückgetreten - doch die Demonstranten fordern echte Veränderungen. Klar ist: Solange Präsident Janukowitsch bleibt, bleiben die Menschen auf dem Maidan. Längst haben sich die Demonstrationen damit in einen Volksaufstand verwandelt.

„Steh auf, meine liebe, steh auf“, sang die ukrainische Rockband „Okean Elzy“ auf einem Maidan-Konzert, als die Proteste begannen. Das Lied ist bereits älter, doch scheinen die Worte nahezu prophetisch. Seit über zehn Wochen demonstrieren die Ukrainer nun in ihrer Hauptstadt. Zum Teil nahmen die Protest bürgerkriegsähnliche Zustände an: So versuchten Ende Dezember Sondereinsatzkräfte den Maidan zu räumen und schlugen dabei auf Demonstranten ein; zwei von ihnen wurden von Scharfschützen erschossen. Studenten warfen Molotow-Cocktails auf Polizisten, regimegetreue Schlägerkommandos, die sogenannten „Tituschki“ überfielen Journalisten und Aktivisten. Unbekannte entführten zwei Demonstranten aus einem Krankenhaus, einer wurde später tot im Wald gefunden. Hunderte wurden verhaftet. Während der Ausschreitungen beschloss die Regierung Gesetze, welche die Versammlungs- und Pressefreiheit massiv einschränken sollten. Die Gesetze wurden auf Druck der Demonstranten zurückgenommen. Doch die Proteste haben sich bereits in einen Volksaufstand gegen Regierungsgewalt und Diktatur verwandelt.

Das Maidan-System

Blogger und Journalisten berichten oft mit Erstaunen über die Professionalität, mit der sich der Maidan in kurzer Zeit selbst organisierte. Zwei Stützpunkte gibt es: das besetzte Ukrainische Haus und die Administration. Dort wärmen sich die Demonstranten auf, schlafen, laden ihre Handys, spielen Gitarre. Kiewer Bürger bringen Essen, warme Kleidung, Verbandsmaterial und Medikamente. Viele ukrainische Unternehmer unterstützen den Maidan mit Lieferungen wie Brennholz. Fehlt etwas, reicht eine Nachricht auf Twitter oder Facebook. Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudenten versorgen verletzte Demonstranten, mittlerweile werden auch Bürger, die nicht protestieren, behandelt. Feldküchen bieten Essen umsonst an, Apotheken kostenlose Medikamente. Sogar eine Bibliothek wurde eingerichtet, mit mittlerweile über 6000 gespendeten Büchern. Selbst mit Spendengeldern prallgefüllte Kartons für die Opfer des Maidans werden offen stehengelassen, im Vertrauen, dass sich niemand daran bedienen wird.

Nebenbei laufen auf dem Platz Lesungen, Konzerte und Kunstaktionen. Die ukrainische Nationalhymne wird in diesen Tagen häufig gesungen, überall weht die gelb-blaue Staatsflagge. In wenigen Wochen entstand hier ein kreativer Mikrokosmos, der alles zu verwirklichen scheint, wonach sich die Ukrainer sehnen und was ihnen die Regierung nicht bieten kann: Freiheit, Ordnung und Selbstorganisation. Dabei besinnt man sich auf historische Vorbilder, wie die Kosaken, die in der Ukraine für Unabhängigkeit stehen. Kosaken und die, die sich als solche verkleiden, sind nicht zu übersehen: bis auf eine einzelne Haarsträhne rasierte Köpfe, lange Pelzhüte, weiße Trachten oder Uniformen.

Auch die Verteidigung des Maidans entstammt den Prinzipien des Kosakentums: in Versammlungen werden hierarchische Einheiten, sogenannte „Hunderte“ gebildet. Tausende Kriegsveteranen, Studenten und Arbeiter sind ihr beigetreten. Sie patrouillieren auf den Straßen, bauen Barrikaden und Schutzzäune und überwachen verletzte Aktivisten in Krankenhäusern, um weitere Entführungen zu verhindern. Die Bürgerbewegung hat bereits eine Satzung ausgearbeitet, nach der sich jeder Verteidiger richten soll.

Janukowitsch am Ende seiner Karriere?

Den Demonstranten geht es längst nicht mehr nur um die Annäherung an die EU. Korruption, Verarmung der Bürger, soziale Ungerechtigkeit – kaum einer glaubt mehr daran, dass Janukowitsch etwas an der ukrainischen Misere ändern kann. „Die Grundforderung ist und bleibt, dass Janukowitsch gehen soll“, sagt der Politologe und Dozent der Kiew-Mohyla-Akademie Andreas Umland, der sich gerade in der Hauptstadt befindet, gegenüber treffpunkteuropa.de. „Die Stimmung ist entschlossen.“ Der Ministerpräsident Asarow ist bereits zurückgetreten, die Regierung bleibt jedoch geschäftsführend im Amt.

Tatsächlich scheint die Macht des Präsidenten zu schwinden, wie Umfragen belegen. Auch Umland glaubt, dass Janukowitschs politische Karriere zu Ende ist: „Mein Eindruck ist, dass seine Autorität, Legitimität und Kontrolle ständig sinken und dass er irgendwann nur noch seinen Rückzug verhandeln kann.“ So zeichnet sich bereits ab, dass sich die ersten Oligarchen von Janukowitsch abwenden. Diese kontrollieren nicht nur nahezu die gesamte ukrainische Wirtschaft, sondern auch die Politik. Sie sitzen entweder selbst im Parlament oder beeinflussen als Sponsoren im Hintergrund das Stimmverhalten der Parlamentarier. Bisher konnte Janukowitsch auf ihre Unterstützung zählen. Doch wirkt sich die Krise im Land negativ auf die Wirtschaft aus, weshalb die Milliardäre mit der Regierungspolitik unzufrieden sind. So nannte der reichste Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, die Proteste demokratisch, warnte vor weiterer Gewalt und rief zu Verhandlungen mit der Opposition auf. Der „5. Sender“, der dem Medienmogul Petro Poroschenko gehört, räumt der Opposition Sendezeit ein. Poroschenko selbst hat bereits mehrere Reden auf dem Maidan gehalten.

Bürgerkrieg oder russische Intervention?

Mittlerweile haben die Demonstranten Regierungsgebäude in mehreren Städten der Ukraine besetzt. Die Situation ist von einem Bürgerkrieg nicht weit entfernt. So drohte die Justizministerin Elena Lukasch bereits mehrmals mit der Verhängung des Ausnahmezustandes, wenn die Maidan-Aktivisten die Straßen nicht räumen. Das würde der Spezialeinheit der ukrainischen Miliz die Berechtigung geben, Gewalt anzuwenden. „Wenn weiterer Druck von der Regierung ausgeübt wird, kommt es zu einem Gegendruck von der Bevölkerung“, sagt Umland. Vergangene Woche berichtete die ukrainische Zeitung Prawda, dass der Ausnahmezustand vorbereitet wird. Ob das Gerücht stimmt, ist unklar.

Eine andere Gefahr ist ein möglicher Zerfall der Ukraine. Der Präsident genießt im überwiegend russischsprachigen Osten deutlich mehr Unterstützung als im Rest des Landes. „Janukowitschs Unterstützung hängt vor allem damit zusammen, dass es keine Alternative zu ihm in der Wahrnehmung der dort lebenden Menschen gibt“, erklärt Andreas Umland. „Man wählt ihn nicht, weil man ihn mag, sondern weil man ihn als Gegenkandidat zu einem als exklusiv empfundenen Nationalismus ansieht“, so der Dozent. Vor allem die nationalistische Partei „Swoboda“ und die rechtsextreme Gruppierung „Rechter Sektor“ schrecken die Menschen im Osten ab. Staatlich gesteuerte Medien in der Ukraine und Russland schüren zusätzliche Angst, indem sie einseitig über „den nationalistischen Aufstand“ berichten, obwohl andere Journalisten, Blogger und Menschenrechtler bestätigen, dass die Demonstranten größtenteils tolerant sind.

Eine Spaltung in Ost und West könnte mit einer russischen Intervention einhergehen. Der Bürgermeister der autonomen Halbinsel Krim, wo viele ethnische Russen leben, sprach bereits davon, Russland um Hilfe zu bitten, falls die ukrainische Regierung den Demonstranten nachgibt. Andreas Umland sieht Parallelen zu der Situation in Georgien 2008, als die russische Armee einschritt, um einen vermeintlichen Genozid in Südossetien zu verhindern. „Im Fall der Ukraine wären die militärischen und außenpolitischen Kosten einer Intervention für Russland weit höher. Deshalb kann man hoffen, dass dieses Szenario nicht eintritt.“ Maidans Selbstverteidiger planen am 18. Februar das Regierungsviertel zu blockieren. Die Demonstranten wollen damit den Druck erhöhen. Sie befürchten, dass Janukowitsch auf Zeit spielt, um seine Macht zu konsolidieren und mehr Sondereinsatzkräfte nach Kiew zu holen, die den Protest niederschlagen. „Das Regime versucht, den Verhandlungsprozess hinauszuzögern“, sagt Umland. „Das wird allseits verstanden und deswegen will man so lange stehen bleiben, wie es braucht“. Solange Janukowitsch Präsident ist, werden also die Barrikaden auf dem Maidan wahrscheinlich nicht verschwinden.

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