Auf der Überholspur zu einem neuen Europa

Sind EU-Vertragsänderungen noch in Sicht?

, von  Emmeline Peeters, Gergely Stégner, Nándor Dani

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Auf der Überholspur zu einem neuen Europa
Foto: dem10, Zurijeta via Canva Pro

Seit der Konferenz über die Zukunft Europas im Jahr 2022 und dem Angriff Russlands auf die Ukraine gibt es immer wieder Forderungen, die EU zu reformieren und ihre grundlegenden Verträge zu ändern. Dies wird oft auch im Hinblick auf eine mögliche Erweiterung um mehr Mitgliedstaaten genannt, auf die sich die EU vorbereiten müsse. Einige Politiker*innen und Institutionen, darunter das Europäische Parlament, haben bereits einen Konvent zur Überarbeitung der EU-Verträge gefordert. Nun liegt es an den Mitgliedstaaten, diesen Konvent mit einfacher Mehrheit im Europäischen Rat zu verabschieden. Die Debatte ist hitzig und der Ausgang ist ungewiss, aber die Notwendigkeit einer Vertragsänderung ist unbestreitbar.

Warum sind Überarbeitungen notwendig?

Die Verträge der Europäischen Union sind seit dem Vertrag von Lissabon 2007 nicht mehr überarbeitet worden. Seitdem hat die EU ernsthafte Herausforderungen bewältigt: die Finanzkrise von 2008, den Brexit, die Migrationskrise, die COVID-19-Pandemie sowie die russische Invasion in die Ukraine seit dem Jahr 2022. Diese Herausforderungen haben Mängel im aktuellen istitutionellen Setup offengelegt und gezeigt, dass die EU reformiert werden muss, um ihre Funktionsweise zu verbessern und künftige Probleme effizienter angehen zu können.

Vorbereitung für die EU-Erweiterung

Ein weiterer Grund für die EU, Reformen durchzuführen, ist die mögliche Erweiterung. Seit der russischen Invasion in der Ukraine steht der Beitritt der Ukraine sowie der westlichen Balkanländer, der Republisk Moldau und Georgien wieder auf der Prioritätenliste der EU. Insgesamt gibt es derzeit neun EU-Kandidaten: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, die Republik Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, die Türkei und die Ukraine. Eine Erweiterung der EU auf potenziell bis zu 36 Mitgliedsländer würde es noch schwieriger machen, Entscheidungen einstimmig zu treffen. Das Veto eines Landes kann so ein entschiedenes und rechtzeitiges Handeln der EU im Wesentlichen blockieren.

Das Problem der Einstimmigkeit

Das Prinzip der Einstimmigkeit soll unter den europäischen Staats- und Regierungschef*innen im Europäischen Rat und unter den Minister*innen im Rat der EU zu einem breiten Konsens führen. Oft schränkt das Prinzip jedoch die Macht der EU gegenüber ihren Gegnern ein: ein gutes Beispiel hier ist das Verhalten des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in der Vergangenheit. Er hat sein bereits Veto in einer Vielzahl von Politikbereichen angekündigt oder genutzt. Dies geschah in der Regel, um seine Beziehungen zu autokratischen Verbündeten zu pflegen; so hat er etwa die Entscheidung über ein 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket für die Ukraine stark verzögert. Seine Rolle als „schwarzes Schaf“ in der europäischen Entscheidungsfindung hat sich dadurch gefestigt.

Qualifizierte Mehrheitsabstimmungen als mögliche Lösung

Eine mögliche Lösung bestünde darin, die einstimmige Abstimmung in eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit umzuwandeln (QMV). Dieses System gibt es bereits für viele Politikbereiche, aber es gilt nicht für außenpolitische Fragen. Damit könnten die EU und ihre Mitgliedsstaaten die übergroße Macht einzelner Akteure aushebeln. Doch die Debatte ist hitzig und die Mitgliedsstaaten befinden sich in einer Zwickmühle: Stoppen von Orbán & Co. oder eine mögliche deutsch-französische Hegemonie in der EU legitimieren, denn das Veto-Recht ist vor allem für kleine Mitgliedstaaten nützlich. Klar ist aber: Eine Änderung des Lissabon-Vertrags könnte politische Blockaden im Keim ersticken und die Entscheidungsfindung beschleunigen. Einer der Hauptkritikpunkte in Bezug auf die EU ist ihre Unzulänglichkeit. Durch die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit, also einer nötigen Mehrheit von 55% der EU-Länder, die 65% der EU-Bevölkerung repräsentieren, könnten solche Bedenken entkräftet werden. Statt eines Vetos könnte eine Sperrminorität von mindestens vier Ländern im Rat eingeführt werden. Somit könnten Einzelgänger wie Viktor Orbán andere EU-Länder nicht mehr von einer Einigung abhalten. Qualifizierte Mehrheitsabstimmungen machen die EU zweifelsohne effizienter und sie würden die Entscheidungsfindung beschleunigen. Die Institutionalisierung solcher Regeln erfordert allerdings die Akzeptanz aller Mitgliedsstaaten, was im heutigen Europa schwer vorstellbar ist.

Mitgliedsstaaten gespalten

Während das Europäische Parlament die Idee einer Vertragsänderung unterstützt, sind die Mitgliedsstaaten gespalten. Viele nord, mittel- und osteuropäische Mitgliedstaaten, die nur einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung der Union repräsentieren, sind gegen eine Vertragsreform. Im Mai 2022 unterzeichneten 13 EU-Mitgliedstaaten - Bulgarien, Kroatien, Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowenien, Schweden und die Tschechische Republik - ein Non-Paper, in dem sie sich gegen die „Einleitung eines Prozesses zur Vertragsänderung“ aussprechen.

Die Mitgliedstaaten, die sich am stärksten für eine Vertragsänderung aussprechen, sind Deutschland und Frankreich. Ihre Staatsministerinnen für Europa, Laurence Boone und Anna Lührmann, haben in einem deutsch-französischen Bericht über „institutionelle Reformen“ der EU Vorschläge für eine EU-Reform vorgelegt. Einige dieser in ihrem Bericht vorgeschlagenen Reformen würden Vertragsänderungen erfordern. Im Anschluss an das Non-Paper der zögerlichen Mitgliedstaaten veröffentlichten Belgien, Deutschland, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Spanien ein separates Non-Paper, in dem sie erklärten, sie seien „offen für notwendige Vertragsänderungen, die gemeinsam definiert werden“ (Non-Paper, 2022).

Was denken die europäischen Fraktionen?

Die Fraktionen des Europäischen Parlaments, die eine Vertragsänderung am stärksten befürworten, sind 1) die Europäischen Grünen, 2) die Sozialisten und Demokraten, und 3) Renew Europe, die liberale Fraktion. Angesichts der beträchtlichen Zugewinne konservativer und rechtsgerichteter Parteien im neu gewählten Europäischen Parlament könnte eine Mehrheit, die eine Änderung der Verträge befürwortet, jedoch weniger stark ausgeprägt sein.

Was sind die EU-Verträge?

Die Verträge, insbesondere der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, sind die Eckpfeiler der institutionellen Struktur der Europäischen Union. Sie bieten einen rechtlichen Rahmen, der die Struktur, die Politik und die Funktionen der politischen Einheit umreißt. Es gibt zwei Möglichkeiten, das bestehende System zu ändern: 1) durch das ordentliche Verfahren und 2) durch das vereinfachte Verfahren.

Das ordentliche Revisionsverfahren

Das ordentliche Revisionsverfahren betrifft wesentliche Änderungen der EU-Verträge, wie z. B. die Erweiterung oder Einschränkung der rechtlichen Befugnisse der EU. Das Verfahren läuft wie folgt ab:

Vereinfachtes Verfahren

Im vereinfachten Verfahren können Änderungen auch durch einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates vorgenommen werden, ohne dass ein Konvent oder eine Regierungskonferenz erforderlich ist. Das vereinfachte Verfahren kann jedoch nicht für die Ausarbeitung eines völlig neuen Vertrags genutzt werden. Es ist wichtig zu beachten, dass für Änderungen, die im Rahmen dieses Verfahrens vorgenommen werden, nach wie vor die Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedstaats erforderlich ist.

Reform des bestehenden Rahmens

Einige Mitgliedstaaten und auch die EU-Kommission sind der Meinung, dass es außerhalb dieser beiden Verfahren Möglichkeiten gibt, die Europäische Union innerhalb der bereits bestehenden Strukturen zu reformieren. Sie glauben, dass eine Vertragsänderung in einigen Fällen nicht erforderlich ist, und dass Mechanismen wie die sog. Passerelle-Klauseln als Umgehung einer Vertragsänderung funktionieren können. Durch diese Passerelle-Klauseln kann die Beschlussfassung in bestimmten Bereichen von der Einstimmigkeit auf die qualifizierte Mehrheit umgestellt werden, ohne dass der vertragliche Rahmen geändert wird.

In den vergangenen dreizehn Jahren hat sich eine mögliche Vertragsänderung nicht wirklich zu mehr als Überlegungen entwickelt. Aufgrund der zahlreichen institutionellen Zwänge, der Vielzahl der Akteure und ihrer unterschiedlichen Interessen ist eine Einigung auf eine gemeinsame Änderung eine unglaublich schwierige Aufgabe. Das wichtigste Gremium für einen möglichen Wandel ist zweifellos der Europäische Rat. Hier müssen sich die Staats- und Regierungschef*innen der 27 Mitgliedstaaten voll und ganz für den neuen Vertrag einsetzen, was im Moment sehr unwahrscheinlich erscheint. Eines ist sicher: Selbst wenn alle Parteien den Wandel unterstützen, wird es mehrere Jahre dauern, ihn zu entwickeln und umzusetzen.

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