Gesetz gegen Obdachlosigkeit in Ungarn

Armut darf nicht sichtbar sein

, von  Mihaly Andor

Armut darf nicht sichtbar sein

Obdachlose müssen in Ungarn seit Oktober mit Geld-und Haftstrafen rechnen – weil sie auf der Straße leben und der Staat sie dort nicht haben will. Ein fiktiver Einblick in die Spirale von Verurteilungen, die immer mehr Menschen betreffen dürfte.

Am 15.10.2018 ist in Ungarn ein neues Gesetz in Kraft getreten. Es kriminalisiert die Obdachlosen. Sie dürfen nicht mehr in der Öffentlichkeit auf der Straße leben. Das Ziel der Regierung: Armut aus dem Stadtbild verbannen. Auch ausländische Touristen sollen sie nicht mehr sehen. Wird ein*e Obdachlose*r von der Polizei angetroffen, wird er*sie verwarnt. Nach drei Verwarnungen innerhalb von 90 Tagen wird gegen ihn*sie ein Ordnungsverfahren eröffnet und eine Geldstrafe verhängt. Dem kann ein Urteil zur Verrichtung von gemeinnütziger Arbeit oder eine Haftstrafe folgen. Schon am 16.10 ist die erste Festnahme in der Stadt Gödöllö, 25 km von Budapest, erfolgt.

Damit ist alles klar. Zunächst sollten wir uns aber nicht darüber Gedanken machen, wie unmenschlich dieses Gesetz ist, sondern: Wie sieht die Praxis aus? Welches Problem löst man damit und wie?

Sagen wir, ich wurde als Diplomingenieur arbeitslos. Oder ich habe überhaupt keinen Schulabschluss und wurde arbeitslos. Meine Obdachlosigkeit kann viele Ursachen haben: Ich bin geschieden und habe alles meiner Frau und den Kindern gelassen, ich habe meinen Job verloren, meinen Verstand versoffen, mein Haus kam unter den Hammer, weil ich die Tilgungsrate oder die Stromrechnung nicht mehr bezahlen konnte. Der Grund ist egal, was zählt: Ich habe jetzt keine Bleibe. Ich kann auch nicht Tag und Nacht auf den Beinen sein, hin und wieder muss ich mich setzen, muss mich mal hinlegen, ein bisschen ausruhen.

Über den physischen Topzustand unseres Ministerpräsidenten verfüge ich leider nicht. Vielleicht kann er sein Volk sogar in Wein verwandeln. Ansonsten schert er sich nicht um die Realität im Allgemeinen. Meine Realität ist, dass ich hin und wieder schlafen muss, sonst kann ich einfach nicht funktionieren.

Aber jetzt, da die Obdachlosigkeit gesetzlich verboten wurde, haben sich alle meine Sorgen in Luft aufgelöst. Als erstes wurde ich aufgefordert, von meiner Parkbank zu verschwinden. Ich könnte in meine Wohnung gehen, da ich aber keine habe, könnte ich ins Obdachlosenheim ziehen. Weil es für diese Herberge eine gesetzlich verordnete Hausordnung noch nicht gibt, ist auch dort die Realität furchtbar: Meine bescheidenen Habseligkeiten werden geklaut und die Stärkeren werden mich verprügeln. Daher kann ich weder nach Hause noch ins Heim. Lieber setze ich mich auf eine andere Bank. Dann wird man mich fesseln und auf die Wache bringen, am nächsten Tag zum Gericht, wo ich wegen einer Ordnungswidrigkeit zu 20.000 Forint, das entspricht etwa 60 Euro, Geldbuße verdonnert werde.

Die Strafe kann ich leider nicht bezahlen, ich habe ja keine Arbeit, bin ziemlich verwahrlost, stinke und bin so schwach, dass mich kaum jemand zu irgendeiner Tätigkeit gebrauchen kann. Da es sich nach einer gewissen Zeit herausstellen wird, dass ich zahlungsunfähig bin, werde ich zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Das kann ich aus mehreren Gründen nicht annehmen. Erstens würde ich tags darauf erneut geschnappt, weil ich als Rückfälliger wieder auf einer „öffentlichen“ Bank säße. Man brächte mich in Fesseln auf das nächstgelegene Polizeirevier, von dort am nächsten Tag zum Gericht, das mich wegen einer weiteren Ordnungswidrigkeit erneut verurteilen würde, diesmal sogar zu 40.000 Forint, also etwa 120 Euro. Weil es mit einer Geldstrafe von 40.000 unmöglich ist, eine Wohnung zu kaufen, würde sich der Kreislauf immer wiederholen: Parkbank - Polizist - Polizeirevier – Gericht.

Hätte ich im Labyrinth der Bürokratie dennoch irgendwie einen freien Tag, dann würde ich keine gemeinnützige Arbeit annehmen können, weil ich durch meine, aus purem Jux und Tollerei ausgeübte Obdachlosigkeit physisch allzu sehr geschwächt wurde.

Schlussendlich hätte es die Behörde satt, dass ich mit ihr so umspringe, trotz mehrmaligem Auffordern noch immer keine Wohnung habe und auch die Geldstrafe nicht bezahle. Dann käme der Knast. Nachdem ich die entsprechenden Tagessätze abgesessen hätte, wäre ich wieder frei. Eine Wohnung habe ich nach wie vor nicht. Im Obdachlosenheim kann meine Sicherheit noch immer nicht garantiert werden. Ich gehe wieder zurück zu der Parkbank wo ich weiterhin meine Obdachlosigkeit öffentlich lebe. Und dann beginnt alles von vorne: Die Polizei rückt an, sie fesseln mich und nehmen mich mit auf das Revier …

Bis jetzt habe ich der Polizei und den Gerichten schon viel Arbeit gemacht. Wenn Ungarn seine Entwicklung hin zu einem illiberalen Staat abgeschlossen hat, werden wir Obdachlosen zum größten Arbeitgeber von Ungarn.

So hat unsere Regierung das Perpetuum mobile erfunden, ohne jegliche Grundlagenforschung oder Aufstellen neuer wissenschaftlicher Thesen. Sie hat dieses dann auch unverzüglich in der Praxis als Lösung des Problems Obdachlosigkeit angewendet.

Dieser Artikel wurde im Original am 2.11.2018 auf dem Online-Portal „Gepnarancs.hu“ und auf Facebook veröffentlicht. Die Übersetzung wurde treffpunkteuropa.de zur Verfügung gestellt.

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