Wird es eine neue Schweizer Europapolitik geben?

, von  Sven Bisang

Wird es eine neue Schweizer Europapolitik geben?
Findet die Schweiz den Weg aus der Isolation? © Wikipedia.

Als das monetäre und finanzielle System Europas 2011 am Abgrund zur totalen Katastrophe taumelte und Europas Politiker mehr Zeit in Brüsseler Verhandlungsräumen verbrachten als je zuvor, schienen die Schweizer Politiker viel zu beschäftigt mit ihren Wahlkampfkampagnen, um davon Kenntnis zu nehmen. Noch beunruhigender ist allerdings, dass dieses surreale Verneinungsverhalten gegenüber den Vorgängen in der Europäischen Union nicht als Ausnahme gesehen werden kann. Im Gegenteil, Schweizer Politiker scheinen während des letzten Jahrzehnts in Bezug auf die Beziehungen Schweiz-EU einen veritablen Realitätsverlust erlitten zu haben. Wie konnte dies geschehen und kann eine baldige Veränderung erwartet werden?

Jahrzehnt der kalten Integration

Seit der folgenschweren Ablehnung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in einer Volksabstimmung im Jahre 1992 basiert die offizielle Schweizer Europapolitik auf einem komplizierten Vertragswerk von mehrheitlich statischen, sektoriellen Verträgen (mittlerweile über 120…). Das Ziel dieser „Bilateralen Verträge“ ist es, möglichst viel Zugang zum Gemeinsamen Markt zu sichern und dabei möglichst wenig Souveränität abzutreten. Diese Strategie erwies als ziemlich erfolgreich im letzten Jahrzehnt. Heutzutage geniesst die Schweiz weitgehenden Zugang zum Gemeinsamen Markt und ist dank der Schengen- und Dublin-Mitgliedschaft mehr integriert in die EU als einige Mitgliedstaaten. Aber das institutionelle Gefüge hat den Preis, dass die Schweiz nun ein Passivmitglied zweiter Klasse der EU ist. Um Diskriminierungen zu vermeiden, übernimmt die Schweiz grosse Teile der EU Gesetzgebung de facto automatisch. Durch diese stetigen „autonomen“ Anpassungen an EU-Recht wird aber die ursprüngliche Idee der Bewahrung der nationalstaatlichen Souveränität mit der Zeit in perverser Weise ausgehöhlt. Und da die Anerkennung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ein Tabu sind, wird die Schweiz für die EU zum unzuverlässigen Partner, da sie aufgrund der mehrheitlich statischen Abkommen auf unterschiedlichen Regeln für den Gemeinsamen Markt insistiert. Folglich verlangte der Europäische Rat 2009 Regelveränderung in den Beziehungen Schweiz-EU, um die Zusammenarbeit in Richtung der automatischen Rechtsübernahme „weiterzuentwickeln“ und hin zur Anerkennung der EuGH-Urteile zu führen. Wenig überraschenderweise wies der Bundesrat (Schweizer Regierung) diese Forderungen zurück und verzögerte jede ernsthafte Antwort mit Verweis auf die nationalen Wahlen 2011.

Neuer Aussenminister = Neue Europapolitik?

Die eidgenössischen Wahlen 2011 brachten überraschende Verluste für die national-konservative und EU-kritische Schweizerische Volkspartei (SVP) auf Kosten der politischen Mitte. Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten verfing die Anti-EU Rhetorik der SVP nicht und führte zu einem Sitzverlust im nationalen Parlament. Als Konsequenz daraus, wählte letzteres keinen zusätzlichen SVP-Vertreter in die Landesregierung und lässt diese damit im Bundesrat entgegen der Schweizer Tradition untervertreten.

Nach den Bundesratswahlen wurde ein neuer Aussenminister ernannt. Didier Burkhalter der freisinnig-liberalen Partei folgt auf die Sozialdemokratin Micheline Calmy-Rey. Burkhalter ist seit 2009 Bundesrat und führte bisher das Innenministerium. Er stammt ursprünglich aus dem Französisch-sprachigen Kanton Neuchâtel und ist der erste liberale Aussenminister seit seinem Kantonskollegen Max Petitpierre, einem Vater der European Free-Trade Association (EFTA), der 1961 zurücktrat. Auf dem Papier ist Burkhalter ein ausgewiesener Verteidiger des „Bilateralen Weges“, aber seine Herkunft lässt aus pro-europäischer Sicht hoffen. Neuchâtel ist als sehr EU-freundlicher Kanton bekannt: Die kantonale Regierung etwa fordert offiziell die unverzügliche Aufnahme von Beitrittsgesprächen! Zusätzlich lässt sich aus dem bisherigen Wirken Burkhalters im Bundesrat ableiten, dass er sich stets offen für alle vernünftigen Ideen zeigte und ebenso effizient wie geschickt im Umgang mit Interessensvertreter und Stimmbürgern agierte.

“Institutionelle Fragen” zuerst

Aber wird ein personeller Wechsel auch einen Wechsel der Aussenpolitik bedeuten? Meine Vermutung ist ja, aber nicht sofort. Neutralität und die romantische Überhöhung der nationalen Souveränität dominieren noch immer die Schweizer Aussenpolitik. Dennoch zeigt die Geschichte, dass Prioritäten unter externem Druck ändern können. Und genau ein solcher Druck wird gegenwärtig aufgebaut. Die EU verlangt eine Lösung zu den sogenannt „institutionellen Fragen“ (d.h. dynamische Rechtsübernahme, einheitliche Anwendung der Verträge und einen unabhängigen Rechtskontrollmechanismus) bevor neue sektorielle Verträge diskutiert werden können. Zudem drängt die Europäische Kommission die Schweiz in verschiedenen Dossiers wie dem Bankgeheimnis oder den kantonalen Fiskalregimen für Holdinggesellschaften zu Zugeständnissen. Gleichzeitig lobbyieren Interessensgruppen in der Schweiz für neue, Marktzugang-schaffende Abkommen (z.B. im Energiesektor). Daher stösst das bewährte Schweizer Standardparadigma des Aussitzens eines Konflikts an seine Grenzen. Seit dem Vertrag von Lissabon agiert die EU viel koordinierter und kohärenter und sie ist zusehends weniger gewillt, Drittstaaten komplizierte Einzellösungen zu offerieren. Dazu kommt, dass der Status quo für die Schweiz langfristig ökonomisch weit unvorteilhafter ist als für die EU. Deswegen sind der Bundesrat und der neue Aussenminister gezwungen, neue Strategien zu erarbeiten.

Unabhängig von der Art des künftigen Abkommens muss ein Modus gefunden werden, in welchem die Schweiz die Forderungen der EU in Bezug auf die „institutionellen Fragen“ erfüllt. Konkret bedeutet dies entweder ein Regime im Stile des EWRs oder die Vollmitgliedschaft. Ich erwarte, dass der Bundesrat eine EWR-ähnliche Lösung einem Beitritt vorzieht. Beide Optionen bedeuten einschneidende Schritte in den Augen von Souveränitätspuristen (wie übrigens auch das gegenwärtige Vertragswerk), aber nur ein EWR-ähnliches Konstrukt hat momentan zumindest eine kleine Chance auf eine Zustimmung des Volkes. Zudem müsste eine solche Vorlage einige Gegengeschäfte wie Abkommen zu Energie und Steuern enthalten. Für die Zustimmung zu einem solch „grossen Deal“ ist die Unterstützung der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften unverzichtbar.

Liberal zu sein ist in der Schweiz noch ein Vorteil

Didier Burkhalter kann in dieser Neuausrichtung der Schweizer Europapolitik eine entscheidende Rolle spielen. Nicht nur wird es ihm zufallen, direkt mit den EU-Institutionen zu verhandeln sondern ebenso für seine Politik im Schweizer Stimmvolk eine Mehrheit zu finden. Dabei wird ihm im Bestreben, „mehr Integration“ zu erreichen dank seinem liberalen Hintergrund sowohl im Bundesrat als auch in der Öffentlichkeit weniger Gegenwind widerfahren als seiner sozialdemokratischen Vorgängerin. Er wäre gut beraten, diesen Vorteil weise zu nutzen und die Vor- und Nachteile der zwei unterschiedlichen Optionen – EWR-ähnliches Regime und Vollmitgliedschaft – ehrlich und transparent darzulegen. Zudem sollte er eine visionäre europapolitische Strategie der Schweiz entwickeln und damit das Interesse der Schweizer Bürginnen und Bürger wecken, sich aktiv an der Entwicklung unseres Kontinents zu beteiligen. Insgesamt sollte er zum aktiven Dreh- und Angelpunkt einer weiteren Debatte über die Schweizer EU-Politik werden.

Trotzdem – wie kann man dazu das Volk gewinnen? Am Schluss gar keine so grosse Leistung. Die Schweizer Stimmbürger zeigen sich nämlich generell pragmatisch und ideologisch durchaus flexibler als vielfach angenommen, wenn sie ein vollständiges und unverzerrtes Bild der Lage und der Optionen erhalten. Ein Beispiel dafür ist die erfolgreiche Abstimmung über den Beitritt zu den Vereinten Nationen im Jahre 2002 (ein erstes Votum scheiterte 1986). Ein EWR-ähnlicher Vertrag hätte mutmasslich eine grössere Chance auf Zustimmung, aber seine substantiellen Nachteile in Bezug auf die Demokratie könnten ihn dennoch stoppen. Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass das Schweizer Stimmvolk nach einer umfassenden Debatte zur Rolle der Schweiz in Europa, wie von den Föderalisten gefordert, tatsächlich eher für eine direkte Teilnahme am europäischen Projekt als für eine erneute „Zweite-Klasse-Lösung“ votieren würden. Ein solches Abstimmungsresultat würde überdies nicht gänzlich überraschen, da die Überzeugung, dass die aktive Teilnahme und die repräsentative Vertretung integrale Bestandteile der helvetischen Demokratie sind, der eigentliche Stützpfeiler des „Schweizer Integrationsprojekts“ ist, welche den Weg zur Schaffung der modernen Eidgenossenschaft im Jahre 1848 geebnet hat!

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