Die in Frankreich als rebellische Kommissarin bekannte Politikerin, die seit ihrem 28. Lebensjahr in Politik in der Europäischen Union betreibt, zweifelt weder am „Erfolg“ noch an der „Durchschlagkraft“ europäischer Politik, wie z.B. dem Euro oder dem Erasmusprogramm. Die Wahrnehmung der Krise hängt stark vom „pessimistischen“ und „defätistischen“ Verhalten ab, bei dem die aktuelle Situation dermaßen dramatisiert wird, dass es die Tatsachen verfälscht. Reding erinnert daran, dass die Europäische Union immer noch 20 Prozent des Welthandels bei einer Bevölkerungszahl von lediglich sieben Prozent der Weltbevölkerung darstellt. Mit Zahlen und Statistiken zur „Realität Europas“ bewertet sie das Ausmaß der aktuellen Situation und ihre Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft neu, ohne die Bedeutung der Krise der Staatsverschuldung zu verneinen. Für Reding muss diese Herausforderung die Gelegenheit für mehr Integration sein.
Redings Reformvorschläge
In diese Richtung gehen auch ein paar ihrer konkreten Vorschläge, so u.a..: die Leitung der Eurogruppe dem Wirtschaftskommissar zu unterstellen, entsprechend den Möglichkeiten des Lissabonvertrags an einer gemeinsamen Besteuerung arbeiten, die nationalen Budgets aufeinander abstimmen, die deutschen und französischen Staatsanleihen zusammenlegen. Dies sind notwendige jedoch kurzfristige Lösungen in den Augen von Reding, die zu einem „neuen Schumanplan“ aufruft. Bis 2020 erwartet Reding die Entstehung einer „europäischen Konföderation“. Diese politische Sicht auf den Weg aus der Krise ist optimistisch („unmöglich ist nicht europäisch“), aber unklar. Sie beschreibt die „Konföderation“ ausschließlich durch Negation und ohne weitere Details. Sie könne nicht die „Vereinigten Staaten von Europa“ zum Ergebnis haben. Von einer Kommissarin, die kein Blatt vor den Mund nimmt Mitgliedsstaaten wie Frankreich oder Ungarn frontal anzugreifen, wenn deren Politik den Verträgen widerspricht, hätte man mehr erwartet als einen eher diplomatischen Ton, der sensible Themen ausklammert. Insgesamt kann man nach Redings Ansprache jedoch sicher sein, dass es Leute gibt, die trotz dem „allgemeinen Unmut“ weiterhin stark und überzeugt an Europa glauben.
Die Stigmatisierung der Roma eine „Schande für Europa“
Die Konferenz mit Viviane Reding bat auch Gelegenheit auf das Thema der Roma zu sprechen zu kommen. Mit dem Einsatz für die Roma kann man politisch nicht punkten. Es sei eine Frage von Prinzipien gewesen: die Roma sind vollwertige Bürger Europas erinnerte Reding, was sie zu ihrer eindeutigen und von manchen als überzogen befundenen Stellungnahme vor einem Jahr bewogen habe, als sie die Stigmatisierung einer Bevölkerungsgruppe aus Gründen ihrer Herkunft als unvereinbar mit unseren Werten bezeichnet hatte und an „die dunkelsten Seiten unserer Geschichte“ erinnerte. Ihre Rechte wurden u.a. durch eine Richtlinie von 2004 über die Mobilität bestärkt, die in Frankreich und zehn weiteren Ländern noch auf Umsetzung in nationales Recht wartet. Für Reding geht es darum in einer Situation die sie als „Schande für Europa“ bezeichnet die Grundrechte der Roma durchzusetzen.
Vor einem Jahr hatte die Kommissarin die Mitgliedsstaaten aufgefordert entsprechend den jeweiligen nationalen Gegebenheiten eine nachhaltige nationale Strategie zu erarbeiten, um die Situation insbesondere im Bereich der Bildung, Ausbildung und Gesundheit zu verbessern. Im Frühjahr 2012 wird dies im Europäischen Parlament diskutiert. Das Thema steht symptomatisch für die Tendenz einiger Regierungen „mit zweierlei Maß zu messen“, zu stigmatisieren. Dies könne man nicht akzeptieren und Redings Engagement scheint sehr glaubwürdig. Auch ihre Antwort auf die jüngsten Entwicklungen in Frankreich erstaunte. Konkret handelt es sich um den Fall als ein Zug der Pariser öffentlichen Verkehrsbetriebe (RATP) benutzt wurde, um unter anderen Minderjährige Roma in eine Hafteinrichtung für Asylsuchende zu befördern. Reding stellt fest, dass Frankreich in Worten und Taten größere Vorsicht walten lässt. Die Ausbrüche des Innenministers über „rumänische Straftaten“ bleiben außen vor.
Die Freiheiten im Internet sichern?
Über ihre Vision – oder eher ihre fehlende Vision – zum Internet kann man aus anderen Gründen enttäuscht sein. Das Thema ist sicherlich keine leichte Übung wie die Kommissarin auch erinnerte. Es gibt eine eindeutige Kluft zwischen der Generation die technische Entwicklungen fast automatisch aufnimmt – die berühmten digitalen Eingeborenen – und der Generation, die Schwierigkeiten hat ihre Gewohnheiten anzupassen. Es ist erschreckend von der Kommissarin für Grundrechte zu hören, dass sie europäischen Regierungen, welche Freiheitsbeschneidende Gesetze verabschiedet haben, verschont hat. Genauso enttäuschend ist es, dass Reding die wichtige Rolle des Internets für die Information, die Freiheit und die Demokratie lediglich erwähnte, um die „Ausbrüche“ des Internets und den Bedarf an „Regulierung“ anzusprechen.
Letzteres ist angesichts des großen Engagements der Kommission bei den neuen Technologien, insbesondere beim Datenschutz, zu relativieren. Das Thema wird zur Zeit durch eine Richtlinie von 1995 geregelt, die nicht mehr angemessen ist. Es ist Redings Aufgabe die Richtlinie zu reformieren und sie gab dazu einen Vorgeschmack. Im Bereich der Rechte des Einzelnen, die durch die Charta der Grundrechte verstärkt wurden, wird die Reform zwei wichtige Rechte garantieren: keine Datensammlung ohne Erlaubnis des Nutzers und das Recht auf Vergänglichkeit, d.h. das Recht jedes Bürgers persönliche Daten aus dem Netz zurückzuziehen. Wirtschaftlich müssen unabhängige Regulierungsbehörden eingesetzt werden, welche die Einhaltung einer strengeren, aber einheitlichen Reglementierung sicherstellen. Die Kommissarin schlug grundsätzlich die Ausgabe von Eurobonds vor, um Infrastrukturprojekte zu finanzieren, insbesondere um Breitbandverbindungen für alle zu schaffen.
Europa und das Recht: Konföderalismus durch Tatsachen
Dieser letzte angesprochene Bereich der justiziellen Zusammenarbeit ist erst mit dem Lissabonvertrag Kompetenz der EU geworden. Wir finden hier das Konzept eines konföderativen Europas der Kommissarin wieder. Eine einheitliche und zentralisierte europäische Gesetzgebung könne angesichts der unterschiedlichen Traditionen nicht funktionieren. Wie die Kommission es z.B. in zwei Bereichen mit einfachen Lösungen bereits getan hat, müsse man vor allem Brücken bauen. Im Bereich des Scheidungsrechts bleiben die nationalen Regelungen bestehen und internationale Paare legen bei der Hochzeit fest welches Recht angewendet werden soll. Beim Erbrecht wendet man das Recht des Staates an, wo sich das Gut befindet. Damit entsteht der Bedarf einer Vernetzung der Rechtsexperten, damit jeder das Recht des anderen versteht. Auch Mindestrechte für jeden Bürger insbesondere beim Prozessrecht – Recht auf Rechtsbelehrung, Recht auf Übersetzung, Recht auf Anwesenheit eines Anwalts– müssen geschaffen werden. Diese Rechte dürften nicht dazu führen, dass der Status des Opfers vernachlässigt wird, will man Europa und seine Bürger einander annähern.
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